Im Folgendem dokumentien wir das Flugblatt der Autonomen Antifa (M) vom 05. Juli 1993. Aufgerufen wurde zu einer bundesweiten Demo für den 10.Juli 1993 in Wiesbaden anlässlich der Staatsschutzaktion in Bad Klein. Mehrere tausend DemonstrantInnen nahmen an dieser teil.


Dokumentation: 5.Juli 1993 - Flugblatt der Autonomen Antifa (M) zur Staatsschutzaktion in Bad Klein

WOLGANG GRAMS ERMORDET!
A
m Sonntag, 27. Juni 1993, wurde der in der RAF organisierte Wolfgang Grams im mecklenburgischen Bad Kleinen von den Beamten der Grenzschutzgruppe 9 (GSG9) ermordet. Birgit Hogefeld wurde festgenommen und am Montag dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe vorgeführt. Ihr wird neben "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" versuchter Mord an dem ehemaligen Staatssekretär des Bundesfinanzministeriums und heutigem Vize-Chef der Bundesbank, Hans Tietmeyer, vorgeworfen.

DIE STAATSSCHUTZAKTION
Mittlerweile ist klar, daß Wolfgang Grams von Beamten der GSG9 hingerichtet wurde. In der eidesstattlichen Erklärung einer Augenzeugin, die die Vorgänge auf dem Bahnhofsgelände in Bad Kleinen mitverfolgt hatte, heißt es: "Der Mann (gemeint ist Wolfgang Grams) lag reglos auf dem Gleis...ich dachte schon, der Grams sei tot. Dann traten zwei Beamte an den reglos daliegenden Grams heran. Der eine Beamte bückte sich und schoß aus nächster Nähe mehrmals auf Grams. Dabei sah der schon wie tot aus. Der Beamte zielte auf den Kopf und schoß aus nächster Nähe, wenige Zentimeter vom Kopf des Grams entfernt" (Monitor, 1. Juli 1993). Diese Aussage deckt sich mit dem Obduktionsergebnis, das ergab, daß Wolfgang Grams durch einen aufgesetzten Kopfschuß oder durch einen Schuß aus unmittelbarer Nähe in die rechte Schläfe getötet worden ist. Wolfgang Grams Eltern haben daraufhin Anzeige wegen Mordes erstattet. Seit Samstag, 3. Juli 1993, schließt die Staatsanwaltschaft Schwerin einen Selbstmord von Wolfgang Grams aus und ermittelt gegen die an der Aktion beteiligten Beamten. Dem "Spiegel" (S.Juli 1993) hatte ein selbst an der Aktion beteiligter Beamter erklärt, daß Wolfgang Grams von einem GSG9-Bullen "regelrecht hingerichtet" worden sei. Er habe sich auf Wolfgang Grams gekniet und obwohl er keine

Gegenwehr mehr geleistet habe, sei nach "etwa zwanzig Sekunden aus einer Entfernung von maximal fünf Zentimetern gefeuert" worden. Die Polizeiaktion, an der neben der GSG9 noch Beamte eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) des Bundeskriminalamts (BKA) beteiligt waren, hat Passantinnen schwer gefährdet. Ein anderer Polizist und eine unbeteiligte Bahnbeamtin erlitten ebenfalls Schußverletzungen (HNA, 28. Juni 1993). Ein GSG9'ler wurde ebenfalls getötet - laut Generalbundesanwalt (GBA) Alexander von Stahl durch eine Kugel, die wie ein "Dum-Dum-Geschoß" gewirkt hat. Sie war wahrscheinlich ein Querschläger von schießwütigen Kollegen. Höchstwahrscheinlich sagte der ehemalige Bundesinnenminister Seiters auf der Beerdigung des GSG9'lers nur einmal die Wahrheit: Dieser sei "ein Opfer roher Gewalt geworden".
Den Charakter der Festnahme beschreibt Birgit Hogefeld in einem Brief: "Ich schau' in den Lauf einer Pistole und liege auf der Erde. Ich werde dann von zwei bis drei Typen mit Waffen in Schach gehalten, und mir war klar, daß ich keine falsche Bewegung machen darf, wenn ich am Leben bleiben will [...] einer z. B. lief dann zu mir, hob meinen Kopf hoch und haute mir ins Gesicht." (taz, 2. Juli 1993)
Sie haben politischen Mord an ihm begangen, weil er gegen das Unrecht aufgestanden ist, für das sie verantwortlich sind: An Flüchtlingen, Frauen, Obdachlosen, Gefangenen, in Kurdistan, in der "Dritten Welt",...Wolfgang Grams war ein Genosse in den Kämpfen um Befreiung.

GLAUBT DEN LÜGEN DER MÖRDER NICHT!
Über eine Woche nach dem Mord an Wolfgang Grams deckt noch immer der oberste Ankläger des Rechtsstaates BRD, der GBA von Stahl, einen Mord. Durch eine Mischung aus Nachrichtensperre und Falschinformationen ist versucht worden, den politischen Mord an Wolfgang Grams zu vertuschen. Zunächst hieß es, Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams seien aus einer Gastwirtschaft in der Nähe des Bahnhofs gekommen und sie habe beim Anblick der GSG9 sofort das Feuer eröffnet. Diese erste Version der Wirklichkeit war 42 Stunden aktuell - von Sonntag 19.05 Uhr bis Dienstag 13.43 Uhr. Dann hieß es, Wolfgang Grams hätte versucht, sich den Weg freizuschießen und dabei einen Beamten tödlich verletzt, weshalb es verständlich sei, daß die GSG9 auch Wolfgang Grams erschossen habe. Bis jetzt gibt es noch keinen Beweis dafür, daß er überhaupt einen Schuß abgegeben hat. Aus der Lüge, die beiden hätten versucht, sich ihrer Verhaftung "durch Schußwaffengebrauch zu entziehen" wurde geschlußfolgert, beide gehören der "RAF-Kommandoebene" an (FR, 29. Juni 1993) - (die sogenannte Kommandoebene ist eine Erfindung von Juristen, um Mitglieder derselben für Delikte aburteilen zu können, ohne daß eine konkrete persönliche Beteiligung bewiesen werden muß).
Aus zwanzig am Einsatz beteiligten Beamten wurden fünf Tage später bereits 54.

DIE HAUSDURCHSUCHUNGEN
Am Montag, 28. Juni 1993, einen Tag nach dem Mord an Wolfgang Grams, wurden in Frankfurt am Main ab 4.00 Uhr morgens mindestens vier Wohnungen durch SEK-Einheiten durchsucht. Der Staatsschutz sprach dabei von einer bundesweit stattfindenden, von Bundesanwaltschaft (BAW) und BKA geleiteten Aktion. Begründet wurde der Einsatz damit, daß die Betroffenen "doch sicherlich Nachrichten gehört hätten" und die Beamten auf der Suche nach "flüchtigen Straftätern" wären. Betroffen von den Durchsuchungen waren unter anderem ehemalige Gefangene aus der RAF und Mitglieder der Gruppe "Kein Friede mit den Banken". Fast überall wurden die Türen aufgebrochen, zum Teil sogar mit Plastiksprengstoff, die Wohnungen mit gezogenen Knarren gestürmt. Zumindest in einer Wohnung wurden den Angetroffenen Handschellen angelegt und Kapuzen über den Kopf gezogen bzw. die Köpfe mit Hemden eingewickelt, damit sie nichts sehen konnten. In SA-Manier stürmten vermummte SEK'ler die Wohnung einer ausländischen Frau "aus Versehen", sie hatten sich scheinbar in der Tür geirrt.
Dem Staatsschutz ging es offensichtlich um "Personenfeststellung", da die Wohnungen kaum nach sonstigen Sachen durchsucht worden sind. Nach Einschätzung der Genossinnen aus Frankfurt handelte es sich bei den
Durchsuchungen um ein gezieltes psychologisches Terrormittel zur Einschüchterung der Leute, um einer Solidaritätsarbeit zuvorzukommen und um zu beweisen, wer in diesem Land nach wie vor das Sagen hat. Und daß die, die es wagen, hier Widerstand zu leisten, jederzeit damit rechnen müssen, auf die eine oder andere Weise vom Staat bekämpft zu werden. In Wiesbaden wurden vier Wohnungen durchsucht und die Personalien der anwesenden Leute festgestellt.
Auch in Dortmund war der Staatsapparat aktiv. Auf der A44 wurde ein Autofahrer durch eine absichtlich herbeigeführte Kollision gestoppt und erlitt dabei so schwere Verletzungen, daß er ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Sieben Menschen wurden verhaftet und stundenlang ohne Kontakt zu Anwälten in Einzelhaft gehalten (taz, 2. Juli 1993).

DEUTSCHE POLIZISTEN - MÖRDER UND FASCHISTEN
Die Ermordung von Wolfgang Grams durch die Polizei war beileibe kein "ungeheuerlicher Einzelfall in der Geschichte der BRD", wie vielerorts zu lesen war. Seit Bestehen der BRD sind in diesem Land Genossinen und Genossen durch den Staatsschutz getötet worden. Wir möchten an dieser Stelle an die Genossinnen und Genossen erinnern, die einer gezielten Exekution zum Opfer fielen:
Petra Schelm, Hamburg, 15. Juli 1971; Georg von Rauch, Berlin, 4. Dezember 1971; Thomas Weißbecker, Augsburg, 2. März 1972; Ulrich Wessel, Stockholm, 25. April 1975; Philipp Werner Sauber, Köln, 9. Mai 1975; Ulrike Meinhof, Stuttgart-Stammheim, 8. Mai 1976; Wilfried Böse, 30. Juni 1976;
Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin, Stuttgart-Stammheim, 18. Oktober 1977; Willy-Peter Stoll, Düsseldorf, 6. November 1978;
Michael Knoll, Dortmund, 25. November 1978; Elisabeth van Dyck, Nürnberg, 4. Mai 1979.
Die BRD ist direkt unter anderem an der Ausbildung türkischer Sicherheitskräfte beteiligt. Das offizielle Programm der Bundesregierung für diese Zwecke nennt sich "Ausstattungshilfe", hinter der sich neben der direkten Ausbildung von Militär und Polizei auch die Lieferung von Rüstungsgütern verbirgt. Damit wird der Krieg gegen das kurdische Volk und die Bekämpfung linker Kräfte erst ermöglicht. , Von einem Staat, der faschistische Terror- und Folterregimes ideologisch und materiell unterstützt, der sich in seiner Geschichte des mehr als dreißigfachen Mordes an linker Opposition schuldig gemacht hat und der selbst den Tod seiner eigenen Büttel in Kauf nimmt, ist nichts anderes zu erwarten wie die Geschehnisse in Bad Kleinen.

LIZENZ ZUM TÖTEN
Es ist mehr als zweifelhaft, daß die Hinrichtung von Wolfgang Grams entgegen den Einsatzbefehlen erfolgte. Schon die Zeugenaussagen machen deutlich, daß es sich bei der Bluttat nicht um einen Affektakt gehandelt hat. Die GSG9 ist nach Informationen ihres langjährigen Kommandeurs Ulrich Wegener "ein Spezialverband", der "hervorragend ausgebildet, hoch mobil, überlegen und unkonventionell ausgestattet für jede taktische Herausforderung eine Lösung parat hat". Die Beamten unterliegen neben ihrer Kampfausbildung einem ausgefeilten psychologischen Programm. Wegener beschreibt den Idealtyp eines GSG9 Söldners als "überdurchschnittlich intelligent und streßstabil". Schon beim Eignungstest steht dem praktischem Teil ein "Psychologie/Theorie-Teil" gegenüber. Der Truppe steht außerdem eine "geschulte Verhandlungsgruppe Psychologen" Gewehr bei Fuß (U. Wegener in "Barett o Internationales Militärmagazin", Januar 1993). Der Einsatz selber stellte die GSG9 wohl kaum vor ernsthafte Probleme. Eine Festnahme wie auf dem Bahnhof von Bad Kleinen ist eine reine Routineangelegenheit. Trotzdem war im nachhinein allerorten von Einsatzpannen die Rede. Das Bild, das über eine derartige Argumentation transportiert wird, suggeriert, die GSG9 oder andere Spezialeinheiten würden Unbeteiligten gegenüber verantwortungsbewußt handeln und keine Risiken in Kauf nehmen. In den inzwischen knapp über zwanzig Jahren ihres Bestehens hat die GSG9 eine Blutspur hinterlassen, die auch vor Unbeteiligten nicht halt gemacht hat. Die Kommandeure und Strategen der Spezialeinheit haben immer auf die militärische Lösung gesetzt und die schließt Opfer unter der Zivilbevölkerung mit ein.
Die Hinrichtung von Wolfgang Grams war nicht das Ergebnis mangelnder psychologischer Belastbarkeit einzelner Beamter, sondern die an diesem Fall offenkundig gewordene Kaltblütigkeit ist strategischer Bestandteil der sogenannten Anti-Terror-Einheiten. Nicht umsonst bezeichnet Wegener allein das Vorhandensein und den Ruf der GSG9 als "abschreckend gegenüber terroristischen Aktivitäten."
Wenn jetzt aus Kreisen bürgerlicher Opposition und Teilen der Regierungsparteien politische Konsequenzen eingefordert werden, so richtet sich die Kritik ausschließlich gegen die politischen Repräsentanten des Apparates. Ihr einziger Fehler war, daß sie sich und den blutigen Polizeieinsatz lediglich schlecht verkaufen konnten. Doch mit dem Austausch der Spitze wird der Rest des polizeistaatlichen Eisberges nicht abtauen.
Eine vorläufige, spürbare Veränderung wäre ein Abbau des Polizeiapparates selbst, also die Auflösung aller Spezial- und Sonderkommandos der Polizei.

DIE "UNABHÄNGIGKEIT" DER BRD
Wir müssen feststellen, daß dieser Staat unabhängig von politischen Rahmenbedingungen an der Vernichtung revolutionärer Opposition festhält. "Unabhängig" vom Einschnitt der RAF in ihrer Geschichte mit ihrer Erklärung vom April letzten Jahres, die Eskalation im Verhältnis zum Staat zurückzunehmen, werden die vernichtenden Haftbedingungen weiter angewendet, werden die Haftstrafen mit immer neuen Prozessen noch weiter hochgetrieben, um die Gefangenen bis zu ihrem Tod im Knast zu begraben. Die RAF hatte eine Antwort des Staates erwartet. Die Hinrichtung von Wolfgang Grams gab eine unmißverständliche Antwort.
Am 24. Mai dieses Jahres begann in Stammheim der "Kronzeugenprozeß" gegen Ingrid Jakobsmeier, einer Gefangenen aus der RAF. Gegen Christian Klar, ebenfalls Gefangener aus der RAF, wurde bereits nach gleichem Muster im Herbst 1992 prozessiert. Er ist mittlerweile zu sechs Mal lebenslänglich plus fünfzehn Jahre verurteilt. Weitere Prozesse gegen Gefangene aus der RAF sollen nach dem Willen der BAW folgen: gegen Heidi Schulz, Eva Haule, Rolf-Clemens Wagner.
Welchen Sinn diese neuen Verfahren machen, an deren Ende jedes Mal ein "Lebenslänglich" stehen könnte, formulierte GBA von Stahl in Bezug auf Christian Klar wie folgt: "Mit dem Urteil ist sichergestellt, daß Christian Klar nicht nach fünfzehn Jahren aus der Haft entlassen werden kann". Isolationshaft, international als weiße Folter geächtet, erwartet nun auch Birgit Hogefeld. Sie schreibt: "Nach dem Telefonat (mit ihrer Mutter) hat der Bundesanwalt damit angefangen, daß mir wohl klar sei, daß es für mich keine Hoffnung gäbe, jemals wieder ein Leben in Freiheit zu führen, wenn ich nicht mit ihnen zusammenarbeite".
"Unabhängig" von einem sich organisierenden (Neo-)Faschismus, von dutzendfachen faschistischen Morden, kriminalisiert der Staat Antifaschistinnen und Antifaschisten. Seit Jahren laufen auch in Göttingen Ermittlungen nach § 129a gegen den Autonomen Antifaschismus. "Unabhängig" von einer demokratischen Fassade, exekutiert die GSG9 auf einem belebten Bahnhof vor vielen Zeugen Wolfgang Grams. Dies ist kein Aufruf, die Flinte ob der scheinbar vergeblichen Bemühungen, hier etwas zu verändern, ins Korn zu werfen. Im Gegenteil. Die, die weiterhin Widerstand leisten, sind aufgerufen, sich untereinander solidarisch zu verhalten, auch wenn unterschiedliche Wege beschritten werden. Revolutionärer Widerstand wird an dem Punkt stark, wo sich die unterschiedlichen Kämpfe in ein und denselben Zusammenhang stellen, wo sich dem imperialistischen System offensiv und organisiert entgegengestellt wird.

BUNDESWEITE DEMO IN WIESBADEN
Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams kommen beide aus Wiesbaden und haben dort viele Jahre politisch gearbeitet. Wolfgang Grams war in den 70er Jahren in der "Roten Hilfe" tätig, hat während verschiedener Hungerstreiks für die Forderungen der politischen Gefangenen gekämpft, hat Demos gegen die NATO-Politik mitorganisiert. Er war für uns ein Genosse im "Karr" gegen die Verbrechen des Imperialismus. Wir rufen daher dazu auf, am. Samstag in Wiesbaden zu demonstrieren.

o GEMEINSAM DEN KAMPF UM BEFREIUNG ORGANISIEREN
o SOFORTIGE AUFLÖSUNG DER GSG9
o ABSCHAFFUNG ALLER SONDEREINHEITEN DER POLIZEI
o FREIHEIT FÜR ALLE GEFANGENEN AUS RAF, WIDERSTAND UND ANTIFA

AUTONOME ANTIFA (M) 5. Juli 1993

Samstag, 10. Juli 1993, um 11 Uhr, Luisenplatz, Wiesbaden
Bundesweite Demonstration
Kundgebung in Bad Kleinen, Bahnhof, 11, Juli 1993,15.00 Uhr

INFORMATIONEN ZUR BUNDESWEITEN DEMONSTRATION:
DONNERSTAG, 8. JULI 1993, 30 UHR, GRÜNES ZENTRUM, GEISTSTR. 1, 37073 GÖTTINGEN