Der erste Text stammt von Gerhard Zadek. Er hat diese Rede 1999 auf unserer Gedenkveranstaltung zum 9. November gehalten. Gerhard Zadek war Mitglied der jüdischen Widerstandsgruppe um Herbert Baum. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten war diese Widerstandsgruppe weitgehend vergessen oder wurde verschwiegen. Gerhard Zadek hat sich dafür eingesetzt, dass sie einer größeren Öffentlichkeit bekannt wird und ihre Mitglieder die Anerkennung erhalten, die sie verdient haben. Zuletzt hat er angeregt, die jüdische Oberschule in der Großen Hamburger Straße nach Herbert Baum zu benennen.

Gerhard Zadek ist am 5. Oktober 2005 im Alter von 85 Jahren in Berlin gestorben.

Die Pogromnacht am 9. November 1938 erlebte ich als jüdischer Arbeiterjunge unmittelbar am Alexanderplatz. Wir wohnten dort in der Kaiserstraße, etwa 50 Meter von dem gefürchteten Polizeipräsidium Berlins entfernt. Nicht weit entfernt war auch die Niederlassung der städtischen Feuerwehr.

Der 9. November war auch meines Vaters 50. Geburtstag und ich war gerade 20 Jahre alt geworden. Vater war damals schon als Jude Zwangsarbeiter bei der Reichsbahn und dachte wenig ans Feiern, denn die Arbeit war schwer. Zwischen Polizeipräsidium und Feuerwehr lag gegenüber unseres Wohnhauses eine große, alte Synagoge. Eine von 60 jüdischen Gebetshäusern, die um den Berliner Alexanderplatz als Andachtsstätten des jüdischen Glaubens dienten.

Um Mitternacht war es dann soweit. Aus der Kneipe in unserem Haus, einem SA-Lokal, stürmten die „Braunen“ mit Fackeln in der Hand auf die jüdische Schule und die dahinter befindliche Synagoge und setzten sie in Brand. Wir erlebten das alles als Zeitzeugen von unserem Balkon im fünften Stockwerk des Hauses aus. Weder die Polizei, noch die Feuerwehr verhinderten diese Ausschreitung. Erst als die benachbarten Häuser ebenfalls zu brennen drohten, griff zaghaft die Feuerwehr ein.

Als man begann einige jüdische Männer aus den Wohnungen unseres Hauses zu verhaften und, wie wir später erfuhren, ins KZ Oranienburg zu verschleppen, flüchteten Vater und ich über die Hintertreppe unbemerkt durch einen Seiteneingang in die Kurze Straße am Alex. Mein Vater entkam der Verhaftung nur, weil er eineinhalb Tage lang im S-Bahn Kreisverkehr untertauchte. Ich sprang aufs Fahrrad und fuhr über den Alexanderplatz die Schönhauser Allee entlang bis nach Pankow, über Berge von Glassplittern zertrümmerter jüdischer Geschäfte. Meine Kollegen gaben mir, dem jüdischen Arbeiterjungen nächtelang Quartier, und so überlebte ich die Pogromnacht.

Tage zuvor hatten wir Freunde der Herbert-Baum-Gruppe in der Fabrik, in der ich erst als Lehrling, nun als Facharbeiter tätig war, die Arbeiter gewarnt: „Tausend Mark Anzahlung für den Volkswagen sind tausend Mark Anzahlung für Hitlers Krieg“. Und wie Recht sollten wir behalten.

Ich bin der einzige Überlebende meiner jüdischen Familie.

In kalten Novembertagen 1942 wurden meine Eltern durch die Straßen von Berlin geschleppt, und man muss sagen, ohne große Anteilnahme der Bevölkerung. Sie gingen sicherlich wie viele zur Rampe in Berlin - Grunewald, um von dort über Theresienstadt in den Osten verschleppt zu werden und nie wieder zurück zu kehren.

Zur Erinnerung an meine dreizehn Familienangehörigen, deren Grab ich nicht kenne, habe ich veranlasst, dass auf dem jüdischen Friedhof in Berlin - Weißensee ein Gedenkstein gesetzt wurde. Ein Gedenkstein unweit des Mahnmals für die achtundzwanzig jungen Juden der Herbert-Baum-Gruppe, die 1942 versuchten die antialliierte und antisowjetische, von Goebbels inszenierte Propagandaausstellung „das Sowjetparadies“ in Brand zu setzen. Eine Ausstellung, die sich inmitten der faschistischen Reichshauptstadt im Lustgarten befand und zu einem Zeitpunkt zu dem die Naziwehrmacht, unter furchtbaren Verlusten bis zur Wolga vorgedrungen war. Um Menschenleben zu schonen erfolgte der Anschlag zu einer Tageszeit, zu der sich kaum Besucher in der Ausstellung befanden.

Keiner der achtundzwanzig, durch den Strang hingerichteten jungen Menschen im Alter von 18 – 30 Jahren widerrief oder bereute die Tat.

Mein Leben verdanke ich der abenteuerlichen Flucht nach England, nach einem Gestapo – Verhör unmittelbar vor dem Überfall der Hitlerwehrmacht auf Polen 1939. Die Flucht gelang nur durch Zusammenwirken von jüdischen Hilfsorganisationen, Kommunisten und christlichen Bürgern über Ländergrenzen hinweg. Und so fuhr ich buchstäblich mit dem letzten Zug der die deutsche Grenze passierte nach England. Diese Geschichte kann jeder von Euch in meinem gleichnamigen Buch nachlesen.

Mit Entsetzen muss ich hier heute am 9. November feststellen, dass unweit des Mahnmals von Herbert Baum und meiner Eltern auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee erst kürzlich 103 Gräber geschändet wurden. Mich beruhigen eilig verfasste politische Erklärungen der staatlichen Obrigkeit gegen die Auswüchse von Antisemitismus und Rechtsradikalismus überhaupt nicht. Und schon gar nicht Erklärungen, dass es sich um eine kleine Gruppe von Einzeltätern handle. Dahinter versteckt sich bereits eine schlagkräftige Szene, die in wohl organisierter Form solche Straftaten mit einem hohen Maß an „know how“ durchführt.

Heute ist die Frage angemessener denn je: Wer sind die wirklichen Urheber, Drahtzieher und Nutznießer? In der NS – Zeit diente der Judenhass und Antisemitismus der unmittelbaren Vorbereitung der verbrecherischen Welteroberung. Das jüdische Eigentum vermehrte den Reichtum privater Vermögen und nationaler Banken und diente damit der Finanzierung der Rüstung.

Kürzlich sagte Kanzler Schröder: „Wir sind es den Toten aber auch uns selbst, unseren Kindern, unseren Enkeln schuldig, dass wir im Kampf gegen Hass und Menschenverachtung gewinnen.“ Wenn Herbert Baum noch leben würde, was würde er heute zu der Erklärung Schröders sagen? Vielleicht würde er sagen: „Herr Schröder, diese Deklaration reicht nicht aus. Findet endlich die Grabschänder. Legt allen Profiteuren und Provokateuren neuer Kriege das Handwerk. Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!“

Das zu sagen ist heute, am 9. November, auch dem Tag der Maueröffnung, aktueller denn je.

Dieser Text stammt von Ilse Langguth. Sie erlebte den 9. November 1938 in einem jüdischen Ausbildungslager für Landwirtschaft. 1939 emigrierte Ilse Langguth  und schloss  sich den Kreisen der politischen Emigranten in Glasgow an. Auch nach dem Krieg engagierte sie sich politisch in der Internationalen demokratischen Frauenförderation, einer Organisation für den Frieden.

Um meine Erlebnisse am 9. November 1938 schildern zu können, muss ich von den Anfängen erzählen.

Ich komme aus einer jüdischen Familie in einer oberschlesischen Kleinstadt. Mein Vater war aus dem 1.Weltkrieg mit einem „Eisernen Kreuz“ zurückgekommen, auf dieser Urkunde stand: „Der Dank des Vaterlandes ist  Ihnen gewiss“.  Er war ein überzeugter Deutscher und meines Wissens nach auch in den Nachkriegsjahren noch Kasernenausbilder in der Reserve. Er war im Schützenverein und hisste zu besonderen Anlässen sogar die Preußenfahne: schwarz-weiß. Ich habe noch heute vor Augen, wie er – die Zeitung auf dem Tisch, in der stand, dass Juden keine Deutschen mehr sein dürfen – mit beiden Fäusten auf den Tisch schlug und überhaupt nicht begreifen konnte, was geschehen war. Man konnte ihn auch nie dazu bewegen, das Land zu verlassen – „schlimmer kann es nicht  mehr kommen“, hieß es immer. Wir hatten ein kleines Lebensmittelgeschäft und waren im Städtchen gut bekannt. Die Einwohner, besonders die Landarbeiter, kauften gern bei uns, und mein 9 Jahre älterer Bruder und ich hatten viele Freunde unter der einheimischen Bevölkerung. Ich erinnere mich noch gut daran, wie weh es tat, als meine beste Freundin, ein blondes Mädchen, mich nicht mehr besuchen durfte. Mein Bruder war Apotheker geworden, er verließ Deutschland bereits 1936 und ging zunächst nach Paraguay. Ich besucht das städtische Gymnasium und wurde dort 1934 als „untragbar“ rausgeworfen. Das letzte (8.) Schuljahr absolvierte ich in der Volksschule, wo mein Lehrer, ein alter Bekannter viel Rücksicht auf mich nahm.  Mit uns lebte mein Großvater, der Vater meiner Mutter. Ich kann an dieser Stelle schon sagen, dass meine Eltern, der Großvater und zwei verwandte Familien ermordet wurden und ich bis heute nicht weiß, was mit ihnen geschehen ist.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie – als ich am 1. April 1933 aus der Schule kam – 2 SA Leute vor unserem Laden standen mit einem Schild: „Kauft nicht beim Juden“. Damals kamen die Landarbeiter noch demonstrativ zu uns, nur um ihre Solidarität zu beweisen. Später kümmerte ich mich nachmittags um kleinerer jüdische Kinder, die nicht mehr in die Schulde gehen durften.

Es muss gegen 1936 gewesen sein, als in vielen Gegenden Auswander-Lehrgüter für jüdische Kinder gegründet wurden die dort die Landwirtschaft erlernten, um später von England oder den USA angefordert und herausgeholt wurden, wobei eine Summe hinterlegt werden musste, ein „Affidavit“: Ich ging in ein solches in der Nähe von Breslau: Groß - Breezen. Es war vormals ein kleines altes Schloss oder Gutsherrenhaus, wo wir untergebracht waren und dort lernten und ein jüdisches Leben führen konnten. Dort erlernte ich die verschiedenen Gebiete der Landwirtschaft und auch kochen, da wir den ganzen Betrieb selber aufrechterhielten. Der Leiter war ein damals bekannter Professor Dr. Bondie.

Hier erlebte ich den 9. November 1938. Morgens kamen mehrere Lastwagen mit SA Leuten und besetzen unser Haus. Wir mussten alle ins Freie, Mädchen und Jungen getrennt, während die SA im Haus wütete. Unsere religiösen Kultgegenstände, Thora-Rollen, Gebetsbücher, Gebetschals, Leuchter und anderer Utensilien wurden auf den Misthaufen geworfen. Wir wurden beschimpft und bedroht und durften nicht eingreifen. Am Nachmittag wurden dann alle männlichen Personen über 14 Jahren zusammengetrieben und in Lastwagen verladen. Sie wurden mitgenommen, als die SA abfuhr und wir Mädchen blieben zurück und mussten versuchen, unser Heim wieder in Ordnung zu bringen. Wie wir später hörten, brannten zur gleichen Zeit überall Synagogen, wurden jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, viele Menschen aus ihren Heimen getrieben und verhaftet, zum Teil auch ermordet. Interessant ist, dass zu dieser Zeit – zumindest auf dem Lande – die SA Leute aus anderen Gegenden geholt werden mussten, weil die Einheimischen offenbar nicht bereit waren, Menschen zu überfallen, die sie kannten.

Ich blieb in diesem Lehrgut bis 1939, wo mich Anfang Mai eine englische Farmerin anforderte und ich zu ihr nach England fuhr. Dort begann mein neues Leben als Emigrant. Meine Eltern und Verwandten blieben, wie ich schon sagte, im Land und es gelang mir auch in England nicht, in der Kürze der Zeit das notwendige Geld zusammenzubringen, um sie rauszuholen.

Ich hörte von ihnen durch Rote – Kreuz – Briefe, in denen man 10 Worte schreiben durfte, bis 1942. Dann teilten sie mir mit, dass sie morgen „auf große Reise“ gingen und danach habe ich von meinen Eltern nichts mehr in Erfahrung bringen können. Mein Großvater lebte noch dort weitere 4 Wochen, dann wurde auch er, damals schon 80jährig, weggebracht. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass meine Familie im sehr kalten Winter 1941-42 aus ihrem Haus auf dem jüdischen Friedhof angesiedelt wurde, wo sie „Gemüse anbauten“, wie sie in einem Brief schrieben.