Kurzgeschichte des globalen Widerstandes

 

In den 90er Jahren hatten immer mehr Teile ehemals systemkritischer Bewegungen (in den "Metropolen" die sog. "Neuen Sozialen Bewegungen", in der "Peripherie" Befreiungsbewegungen) eine immer stärkeren Anpassung an das herrschende System vollzogen hatten - nicht (nur) aus purem Opportunismus, sondern u.a. aus Desillusionierung und Mangel an greifbaren Alternativen. So wurden aus vielen Bewegungen und Gruppen NGO's oder sozialdemokratisch-neoliberale Parteien, die sich von der Illusion nährten, der einst schon bei der fordistischen "Klassenpartnerschaft" die Gewerkschaften aufgesessen waren: das, wenn man nur pragmatisch und kompromißbereit genug sei, man auch "ernst" genommen würde und sein Ziel (welches sich allerdings inzwischen auch geändert hatte) früher oder später erreichen würde. Da fügte sich nur allzu gut in die herrschende Ideologie vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukujama) ein, das kurz gesagt behauptet, das, nach dem mit dem endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus die Geschichte zum Stillstand gekommen sei und sich jegliche Auseinandersetzung um die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung erübrigt habe bzw. nur noch innerhalb der Koordinaten "Demokratie" resp. Parteienpluralismus ohne reale Wahlmöglichkeit und Marktwirtschaft denkbar sei, jegliche Politik nur die Verwaltung des bestehenden sei. Es machte aber auch den Weg frei für eine Auseinandersetzung über alle Unterschiede hinweg, um nach neuen Wegen zu suchen.

 

Von der zapatistischen "Internationale der Hoffnung" zu PGA

 

In diese Situation hinein geschah ein Aufstand mit weitreichenden Folgen: Am 1.1.1994, dem Tag an den Mexico der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) beitrat, besetzte die Zapatistische Armee zur Nationalen Befreiung (EZLN) mehrere Rathäuser, Polizeistationen u.a. im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas und füllte die uralten Forderungen nach "Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit!" mit neuem Leben. Dass diese indigene Guerilla mit ihrem Anspruch, nicht um, sondern gegen die Macht kämpfen zu wollen, außer dem Namen nicht viel mit den bis dahin üblichen lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen gemeinsam hatte, wurde nicht erst klar, als sie im Sommer '96 zu einem 1. Interkontinentalen - nein, "Intergalaktischen Treffen gegen den Neoliberalismus und für eine menschliche Gesellschaft" aufrief. Mit dieser Initiative luden sie alle, die sich immer noch nicht ganz mit der bestehenden Weltordnung angefreundet hatten, zu sich in den lakandonischen Urwald ein, um zu beraten, was mensch gegen diesen Feind der Menschheit, der sich jetzt den Namen Neoliberalismus gegeben habe, unternehmen könne. Tatsächlich folgten über 3.000 Menschen aus aller Welt diesem Aufruf zur Bildung eines "weltweiten Netzwerkes der Widerständigkeiten gegen den Neoliberalismus".

Dabei hatten die Zapatistas einem Gefühl Gestalt gegeben, das schon damals viele hatten und welches sich in der folgenden Zeit immer weiter ausbreiten sollte: "International oder gar nicht!" war die (tatsächlich gar nicht so) neue Idee. Dies hatte auch mit den Veränderungen der weltpolitischen und -ökonomischen Lage zu tun: So bedeutet Neoliberalismus (dieser Begriff ist übrigens wesentlich durch die Zapas aus seiner akademischen Nischenexistenz heraus zu einem breit diskutierten Schlagwort geworden - was allerdings auch nicht unbedingt viel mehr Klarheit geschaffen hat) unter anderem, das ehemals nationalstaatliche Kompetenzen immer mehr auf supranationale Ebene verlagert werden, was allerdings die Macht des Nationalstaates keineswegs schmälert. So war es ein recht logischer, aber nichtsdestotrotz bedeutsamer Schritt, den Widerstand ebenfalls auf die globale Ebene zu bringen.

Beim 2. Intergalaktischen im Sommer '97 beschloß dann eine kleine Gruppe, von denen sich einige schon von den Gegenaktionen gegen die Konferenz der UN-Nahrungsmittel- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) kannten, den Gedanken der Zapatistas aufzugreifen und mit dem Aufbau eines Netzwerkes zu beginnen.

"....ein kollektives Netzwerk all unser Teilkämpfe und Widerständigkeiten zu schaffen. Ein interkontinentales Netzwerk des Widerstandes gegen den Neoliberalismus, ein interkontinentales Netzwerk für die Menschlichkeit. Dieses interkontinentale Netzwerk , das Unterschiedlichkeiten respektiert und Ähnlichkeiten anerkennt, wird versuchen, sich mit anderen Widerständigkeiten zusammenzufinden. Dieses interkontinentale Netzwerk der Widerstände ist keine Organisationsstruktur; es hat keinen zentralen Kopf oder Entscheidungsträger, kein Zentralkomitee oder Hierachien. Wir alle bilden dieses Netzwerk, alle, die wir Widerstand leisten."

(EZLN, 2. Erklärung der Selva Lakandona)

Auf einer Konferenz in Genf im Februar 1998 wurde dieses Netzwerk dann offiziell unter dem Namen "Peoples' Global Action gegen "Frei"handel und die WTO" (auf die Übersetzung des Namens wurde, anderes als in anderen Ländern, im deutschen verzichtet, weil des englisches "Peoples'" (eigentlich "Völker") Schwierigkeiten machte: Mit den Aktionen der Völker haben die Deutschen ja so ihre besonderen Erfahrungen gemacht...) gegründet. Die bis dahin nahezu unbekannte Welthandelsorganiation WTO wurde gewählt, weil sie besser als jede andere die neuen ökonomischen Machtverschiebungen deutlich macht.

Die Welthandelsorganisation WTO

 

Die WTO trat am 1.1.1995 die Nachfolge des seit 1948 bestehenden GATT (General Agreement on Trade and Tarifs, Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) an. Ihr Ziel war und ist es, Handelshemmnisse unter Mitgliedsstaaten aufzuheben.

Während das GATT jedoch "nur" ein umfassendes Regelwerk war, hat sich die WTO innerhalb kürzester Zeit zu einer der mächtigsten internationalen Organisationen entwickelt. Ihr gehören heute (1999) 131 Staaten an; ihren Sitz hat sie in Genf. Anders als beim GATT betreffen die "Liberalisierungen" nicht nur den Handel mit Industriegütern, sondern auch die Landwirtschaft und Dienstleistungen (d.h. auch das Bildungs- und Gesundheitsheitswesen) sowie den Schutz von geistigen Eigentumsrechten (Patente auch auf genetisches Material!)

 

PGA versteht sich als offenes Netzwerk und Mittel zur Kommunikation und Koordination, nicht als Organisation, d.h., die Gruppen und Bewegungen, die an PGA teilnehmen, sind weiterhin völlig autonom in ihren Entscheidungen (bspw. ob und in welcher Form sie an Globalen Aktionstagen teilnehmen, solange sie sich im Einklang mit PGA-Prinzipien befinden), es gibt weder eine Mitgliedschaft noch ein "ZK", welches Aktionen zentral plant und dann an die jeweiligen Gruppen zur Ausführung weiterleitet. (mehr zu den Organisationsprinzipien siehe hinten)

 

Globale Aktionstage

 

Diese neue globale Allianz trat das erste Mal im Mai '98 zu den Protesten gegen die 2.WTO-Ministerkonferenz in Genf auf die Bühne - mit für fast alle Beteiligten unerwartet großem Erfolg: In Genf selbst protestierten am 1.Globalen Aktionstag am 16.5. 8-10.000 Menschen und degradierten in den Zeitungsmeldungen der Schweiz die eigentliche Konferenz fast zum Nebenereignis.* Die Behörden reagierten mit einer heftigen Repressionswelle, Trängengas- und Knüppeleinsätze, die über 60 Personen z.T. schwerverletzt ins Krankenhaus brachten, ca. 150 größtenteils unrechtmäßige Verhaftungen, Ausweisungen, Einreiseverbote, etc. Doch auch international war die Resonanz beeindruckend - in mehr als 60 Ländern fanden Aktionen in Zusammenhang mit der WTO statt; allein in Indien fanden über 100 Aktionen mit z.T. mehreren hunderttausend TeilnehmerInnen statt, in Brasilien gab es einen Sternenmarsch von 40.000 Landlosen usw....
[PGA Bulletin #2: M16 Global Action Day Reports]

Im folgenden Jahr fand eine Intercontinentale Carawane (ICC) mit fast 500 TeilnehmerInnen aus Indien und anderen Ländern durch Europa statt, die zum 18. Juni in Köln zum Weltwirtschaftsgipfel eintraf. Am gleichen Tag fand ein weiterer Globaler antikapitalistischer Aktionstag J18 statt, zu dem die Londoner Bewegung Reclaim The Streets aufgerufen hatte, wobei es in London zu den schwersten Ausschreitungen seit über 15 Jahren kam. Damit wurde auch das Thema Kapitalismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt: In vielen Ländern hatte es ähnliche Diskussionen gegeben, das eine Kritik an Neoliberalismus und Globalisierung nicht ausreiche, da sie nicht das Übel an der Wurzel erfasse (allerdings wurde schon im 1.Manifest von PGA festgehalten, das Globalisierung und Handelsliberalisierung nur die derzeitigen Strategien des Kapitals seien), was unter anderem auch damit zusammenhing, dass es in vielen Ländern Erfahrungen mit stark nationalistischen und protektionistischen Gruppen gegeben hatten, die ebenfalls gegen Freihandel und Globalisierung aktiv waren.

Diese Diskussionen flossen bei der 2. PGA-Konferenz im August '99 in Bangalore, Indien mit ein und führten u.a. zur Erweiterung der Grundsätze von PGA in klarer Ablehnung von Kapitalismus, Rassismus, Patriachat und religiösem Fundamentalismus mit ein (siehe Beitrag von Alain, Grundsätze und Organisationsprinzipien im hinteren Teil). Dort wurde auch beschlossen, zu Aktionen gegen die 3. WTO-Ministerkonferenz Ende November in Seattle aufzurufen. Der 3.Globale Aktionstag fand also am 30.November statt, was ausführlich, aber keineswegs annähernd vollständig in diesem Heft dokumentiert ist.


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