Gleicher als Andere 2
"Du hast mich in einer seltsamen Phase meines Lebens getroffen."
David Fincher, Fight Club
Vivien erzählt gelegentlich, der schlimmste Horror beim Familienbesuch zu Hause sei für sie das gemeinsame Ansehen der Acht-Uhr-Nachrichten. Bereits in jungen Jahren, als sie noch zuhause wohnte, versuchte sie sich dem zu entziehen, meist erfolglos. Die Acht-Uhr-Nachrichten (öffentlich-rechtlich, versteht sich, nicht etwa via Privatsender) seien bei ihr zuhause, in einem in die Jahre gekommenen Ex-68er-Haushalt, ein Ritual von zentralem Stellenwert; ein elterlicher Ritus, mit dem begangen wird, wofür man man sich zu interessieren hat, wozu man eine Meinung zu haben hat, woraus die Welt besteht und was in ihr wichtig ist. Erst das Interview mit dem Finanzminister, dann der Konflikt in Burundi, und kurz vor Schluss noch die Abfallprobleme der Love Parade. Nichts anderes. Und nicht umgekehrt.
Politische Utopie wird nie wieder so sein können wie die Acht-Uhr-Nachrichten. Sie nahm das gewohnheitsmäßig für sich in Anspruch, aber das ist vorbei. So wird es nie wieder gehen. Und zu Recht. Eine Bilanz des vergangenen Jahrhunderts kann nicht alles, was darin geschehen ist, dem Wirken politischer Utopien anlasten, aber sie lässt eine prinzipielle Skepsis nicht nur berechtigt, sondern geboten erscheinen. Die Unterwerfung der Welt unter Bilder und Visionen, die Riten der Wichtigkeit, der Vorrangigkeit und der Priesterschaft der Eingeweihten, haben Folgen. Nicht nur blutige, sonder auch die blutleeren. Nicht nur die Gewalt, die sich mit dem richtigen Plan für die bessere Welt rechtfertigen will, sondern auch die soziale Stille einer Welt, in der man Rädchen und Teil ist, aber selbst nichts bedeutet, wo andere alles wissen und man selbst nicht gefragt ist - wo man niemand ist.
Damit hat sich politische Utopie nicht erledigt. Sie muss nur zugleich auch Anti-Utopie sein; nicht nur Politik, sondern auch Anti-Politik. Anstatt herrschaftsförmige Zugriffe zu legitimieren und die Individuen zu entmündigen, muss ihr Kern darin bestehen, sich gegen herrschaftsförmige Zugriffe zu verteidigen und auf dem Recht auf eigene Entscheidung zu beharren. Dafür ist politische Utopie heute notwendiger denn je. Wir leben nämlich in einer Welt, die unverhohlen als utopische Erfüllung ausgegeben wird, als die beste aller möglichen Welten, wenn auch mit kleinen Einschränkungen und "im Prozess" begriffen. Es wird schon noch alles gut, schon immer noch besser, heißt es, wenn wir nur so weitermachen wie bisher, und wenn wir alles mitmachen wie bisher und besser noch ein bisschen bereitwilliger.
Die Skrupellosigkeit liegt heute auf der Seite der "Wertfreien", der Pragmatiker, derer, die für sich "Ideologiefreiheit" in Anspruch nehmen. Ideologiefreiheit und Utopiefreiheit sind jedoch Märchen. Wir sind nie "ideologiefrei", denn wir handeln immer aus Deutungen der Welt heraus (die Frage ist eher, wie stark die Vielzahl der Deutungen unter ein bestimmtes Modell vereinheitlicht wird bzw. welche Hierarchien von Bedeutung und welche allgemeinen Geltungsansprüche damit aufgemacht werden). Wir sind auch nie "utopiefrei", denn wir handeln immer aus Zukunftserwartungen heraus, aus Bildern davon, wie es sein soll. So ist die Ideologiefreiheit selbst eine Ideologie, und in der Utopielosigkeit verbirgt sich selbst eine Utopie, auch wenn sie sich nicht so nennt. Die Utopie der "Ideologiefreien" heute ist eine Welt, in der alles klappt, in der sie alles dürfen und in der sich niemand etwas anderes vorstellen kann.
Wenn wir die Frage stellen: "Ist freie Kooperation etwas, das auf Menschen wirkt wie die Acht-Uhr-Nachrichten?", dann müssen wir versuchen, diesen Einwand in einzelne Kriterien zu zerlegen. Was macht den Kern des Widerwillens aus? Eine politische Utopie, die keine Acht-Uhr-Nachrichten-Utopie ist, so wird hier behauptet, muss folgende vier Kriterien erfüllen:
Diese Kriterien werden von der Theorie der freien Kooperation erfüllt:
1. Die Theorie der freien Kooperation stellt keine fixen Modelle auf, wie die "gute Gesellschaft", das "richtige Leben", die "korrekte Beziehung", die "gesunde Lebensführung" etc. auszusehen hat. Sie versucht nicht, die Welt zu verbessern, sondern nur, den Menschen den Rücken zu stärken. Sie lehnt es kategorisch ab, das Putzfrauen-Prinzip dadurch zu bekämpfen, dass man Menschen verbietet, als Putzfrau zu arbeiten (oder als Prostituierte, als illegal Eingewanderte usw.). Die Theorie der freien Kooperation macht keine Vorschriften. Sie erkennt an, dass Individuen und Gruppen Kooperationen ablehnen, verweigern, einschränken können, wenn sie damit nicht zufrieden sind, ohne dass sie von einer objektiven Instanz daran gehindert werden könnten. Sie erkennt allerdings auch an, dass Individuen und Kollektive bestimmte Verhaltensweisen und Regelungen zur Bedingung der Kooperation machen können; sie können dies aber nicht einseitig erzwingen oder diktieren. Die konkrete Ausgestaltung von Kooperationen ist Sache der Beteiligten; von außen kann man dazu eine Meinung haben, man kann sie auch äußern, aber das war's dann auch. Die Politik der freien Kooperation beschränkt sich darauf, Voraussetzungen durchzusetzen, unter denen das Scheitern der Kooperation (oder ihre Einschränkung) für alle Beteiligten zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis möglich ist. Sie weiß nicht, was bei Verhandlungen unter diesen Voraussetzungen im konkreten Fall herauskommt. Sie oktroyiert niemand etwas auf. Sie sagt lediglich denjenigen, die mit ihren Kooperationen nicht zufrieden sind: "Lasst euch nicht abspeisen!"
2. Die Theorie der freien Kooperation behauptet nicht, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben. Sie erhebt keinen Anspruch, etwas zu wissen, was nicht jeder und jedem prinzipiell aus eigener Erfahrung zugänglich ist. Sie führt keine Führerscheine für Emanzipation ein, wonach man sich das Recht zu verhandeln erst verdienen oder sich dafür qualifizieren müsste, sie setzt auch keine bestimmte Versprachlichung und Verregelung als Eintrittsticket voraus. Sie berät Individuen und Gruppen auf die Frage hin: "Wie werden wir frei und gleich?", indem sie strukturierte historische Erfahrungen in einer verstehbaren Begrifflichkeit und Systematisierung zur Verfügung stellt. Sie rät, das Recht zu verhandeln keinesfalls an irgendwelche Strukturen formalisierter Entscheidungsfindung, an irgendwelche übergeordnete Instanzen, an irgendwelche Chef- und Vordenker abzugeben. Sie rät zu Druck und realer Einschränkung von Kooperation im Konflikt und zu prinzipiellem Misstrauen gegenüber allen diskursiven Verfahren, die Individuen und Gruppen einreden, was sie wirklich wollen oder wem sie angeblich implizit zugestimmt haben.(21)
3. Für die Theorie der freien Kooperation gibt es keine Orte in der Gesellschaft und keine Arten von Kooperation, die wichtiger wären als andere. Sie verfolgt ein selbstähnliches Konzept, wonach politische Utopie darin besteht, eine andere Logik sozialer Beziehungen zu propagieren und durchzusetzen, und zwar für alle Arten sozialer Beziehung. Gesellschaftliche Veränderung ist ein komplexer Prozess ohne Vorher-Nachher-Effekt (nach dem Motto: erst den Staat ändern, dann die privaten Beziehungen; erst die Eigentumsverhältnisse ändern, dann die Formen der Organisation usw.). Deshalb funktioniert auch Cosmos Plan nicht, durch die elektronische Löschung sämtlicher Guthaben und Eigentumsunterlagen die Gesellschaft zu "befreien".(22)
Deshalb ist das "Herausfallen" von Menschen und Orten aus herrschaftlicher Kontrolle keineswegs automatisch Befreiung; weil es eben keine Nebenfrage oder vorübergehende Irritation ist, dass no-go-areas, die bei städtischen Aufständen entstehen, für Frauen vor allem rape areas sind.(23) Freie Kooperation befürwortet keine Zusammenbrüche. Sie hält es für rational, wenn Menschen vor raschen Umorganisationen der Gesellschaft Angst haben, weil sie nicht wissen, was das für die Gesamtheit ihrer Kooperationen für Folgen hat. (Sie hält es allerdings für irrational, wenn Menschen umgekehrt keine Angst davor haben, dass es ewig so weitergeht wie bisher.) Freie Kooperation lehnt es prinzipiell ab, Widerstände gegen geplante "Großveränderungen" zu brechen mit dem Hinweis, hinterher werde sich das für alle als segensreich erweisen. Der einzige Widerstand, den sie zu brechen rät, notfalls auch mit Gewalt, ist der, jemanden weder verhandeln zu lassen noch zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis gehen zu lassen.
4. Die veränderte Blickrichtung (nicht die gute Gesellschaft schaffen, sondern die Möglichkeit freien und gleichen Verhandelns durchsetzen) bedeutet auch eine veränderte Vorstellung von Radikalität. Radikal sein heißt im Sinne der freien Kooperation, keinen gesellschaftlichen Bereich, keine soziale Kooperation vom Anspruch der freien Kooperation auszunehmen; es bedeutet, sich diesen Anspruch nicht abkaufen zu lassen; und es bedeutet, ihn wirklich durchsetzen zu wollen und sich nicht mit symbolischen Gesten zufrieden zu geben.
Verabschiedet wird damit ein Pseudobegriff von Radikalität, der auf der Trennung von "politischem Menschen" und Alltagsmenschen beruht. Derartige Pseudoradikalität kennt keine Zwischenschritte, keine Kompromisse, sie lässt keine Einwände gegen die Zumutungen gelten, die ein "möglichst radikales" Vorgehen den Menschen auferlegt. Im Grunde sollten wir am besten erstmal alles in die Luft sprengen, um es dann gründlich richtig zu machen - was ein wenig alltagstaugliches Konzept ist. Derartige falsche Radikalität ist immer patriarchal und immer elitär, denn man muss sie sich leisten können. "Frauen können diese Notwendigkeit (der Reproduktion auch unter den gegebenen Bedingungen) nicht in gleicher Weise ignorieren, schon deshalb, weil sie sich in höherer Weise für Kinder verantwortlich fühlen, aber auch deshalb, weil z.B. die meisten Männer unter Bedingungen Politik machen, unter denen die meisten Frauen weder leben noch arbeiten können. Die "radikale Trennung" legitimiert die interne Vorherrschaft derer, die sich "am radikalsten freimachen können", und das sind allemal Männer."(24)
David Finchers "Fight Club" endet mit einer Szene, die den Eskapismus der "Radikalität" ironisch karikiert. Der (namenlose) Protagonist, der endlich erkannt hat, dass Tylor Durden eine schizophrene Abspaltung seiner eigenen Person ist, steht mit Marla vor einer riesigen Fensterfront. Obwohl er lebensgefährlich verletzt ist durch einen Schuss, den er auf sich selbst abgegeben hat, versichert er Marla, dass jetzt alles gut werden wird. In diesem Moment explodieren die Bomben, die er als Tylor Durden gelegt hat, und die gegenüberliegenden Wolkenkratzer sacken in sich zusammen. Marla sieht ihn irritiert an, und er antwortet entschuldigend: "Du hast mich in einer seltsamen Phase meines Lebens getroffen." (25)
Wir gehen, individuell wie kollektiv, durch viele seltsame Phasen unseres Lebens, in denen sich die Suche nach radikaler Veränderung von den konkreten Kooperationen unseres Alltags krampfhaft abspaltet, wie wenn es dadurch schneller und "radikaler" ginge. Die Suche nach der "radikalen Aktion", der absoluten Nicht-Teilhabe am herrschenden System, die irrige Idee, es gebe eine "Abkürzung" bei der mühsamen Veränderung der Verhältnisse, gehören ebenso dazu wie die magischen Praktiken, die "richtigen" Sprachregelungen für wichtiger zu halten als die reale Tendenz alltäglicher Kooperationen. (26) Nicht alles davon lässt sich immer vermeiden; wir müssen manchmal ein bisschen seltsam sein. Aber in Sachen "politische Utopie" zielt die Theorie der freien Kooperation darauf ab, diese seltsame Phase zu beenden.(27)
Bär: Tutter, nur weil Treelo es anders macht als du, muss es deswegen nicht falsch sein. Tutter: Es ist vielleicht nicht falsch, Bär. Aber das Problem dabei ist - das Problem dabei ist, Bär: ES IST NICHT RICHTIG !!!
Der Bär im großen blauen Haus, Folge "Küchenzauber" ("Magic in the Kitchen")
Eine Gruppe weiterer Einwände, die gegen die Theorie der freien Kooperation erhoben werden können, sind die, sie wäre widersprüchlich, apodiktisch oder zirkulär. Widersprüchlich bedeutet, dass Teile des Konzepts zu gegensätzlichen Schlussfolgerungen führen. Apodiktisch bedeutet, was in der Logik "tautologisch" heißt: Die Argumentation beruht auf den Definitionen, die zu Anfang gemacht werden, auf "Setzungen". Wenn wir davon sprechen, eine Theorie sei "zirkulär", dann meinen wir damit, dass sie das von ihr behandelte Grundproblem nicht wirklich löst, sondern nur auf eine andere Ebene verschiebt. Bezogen auf die Theorie der freien Kooperation heißt der Einwand z.B.: Niemand kann für andere objektiv entscheiden, ob eine Kooperation gut oder gerecht ist; aber was ein vertretbarer und vergleichbarer Preis ist, diese Kooperation zu kündigen oder einzuschränken, muss dann ja doch wieder objektivierenden Verfahren zugänglich sein, oder es ist vollkommen willkürlich.(28)
Diese Einwände lassen sich in der Tat nicht in Bausch und Bogen zurückweisen oder widerlegen. Die Sache ist die, dass es keine Theorie gibt, auf die sie nicht zuträfen. Um die erwähnten Einwände zu prüfen, müssen wir zunächst unsere Vorstellung von dem, was Theorie ist und sein kann, selbst auf den Prüfstand stellen.
Die Mathematik sagt, dass es in jeder Theorie mindestens eine Behauptung oder Annahme gibt, die selbst nicht aus der Theorie bewiesen werden kann. Die postmoderne Kritik sagt Ähnliches über unsere Konzepte, mit denen wir die Welt beschreiben und strukturieren.(29) Widersprüchlichkeit und tautologische Elemente sind normal für jede Theorie. Je stärker wir unsere Folgerungen aus den Definitionen ableiten, die wir zu Anfang treffen, desto apodiktischer, tautologischer wird das theoretische Konzept; je mehr wir einzelne Elemente unserer Theorie aus unterschiedlichen Formen direkter Anschauung oder Praxiserfahrung nehmen, desto widersprüchlicher wird die Theorie. (Positiv gesprochen, setzen Widersprüchlichkeiten die Theorie in die Lage, mit der komplexen Wirklichkeit fertig zu werden und produktiven Streit innerhalb der Theorie zu befördern.) Die Idee, dann brauchen wir eben keine Theorie, funktioniert nicht. Von Widersprüchlichkeiten und Tautologien betroffen sind nicht nur explizite Theoriegebäude, sondern jede Konzeptionalisierung; und ohne "Konzepte" kommen wir morgends nicht einmal aus dem Bett, geschweige denn an eine Tasse Kaffee. (30)
Der Widerstreit von Theorien, die historische Abfolge von unterschiedlichen Konzepten ist denn auch kein Wettstreit darum, welche Theorie die Wirklichkeit ab besten abbildet. Die Forderung nach einer neuen theoretischen Anschauung ist die Forderung nach einer paradigmatischen Wende. Sie beruht nicht darauf, dass wir die Probleme in der Art einer Rechenaufgabe "besser gelöst" hätten, sondern auf der Behauptung, dass die neue Theorie eine höhere Leistungsfähigkeit in der Praxis hätte.
Wir leiten unsere Anschauungen nicht unmittelbar aus der Wirklichkeit ab; eher entwerfen wir ein Gebäude, das wir der Wirklichkeit anlehnen. Unsere Auffassungen von der Wirklichkeit, was nichts anderes heißt als unsere Praxis, sind "eine Harmonie parallel zur Natur", wie es Cezanne für die moderne Malerei formuliert hat. Die postmoderne Philosophie weist darauf hin, dass in dieser Vorstellung noch eine feste gedankliche Unterscheidung zwischen Auffassung und Wirklichkeit enthalten ist, die sich ebenfalls nicht halten lässt. Wir haben keinen Zugang zur Wirklichkeit, der nicht über Auffassungen von der Wirklichkeit führt, ob es nun formulierte Ansichten sind oder Auffassungen, die in unserer Praxis zum Ausdruck kommen. Zu Ende gedacht heißt das, dass wir uns immer in Auffassungen bewegen, die Vorstellung von einer Wirklichkeit, die jenseits von Auffassungen irgendwo "real" herumliegt, verschwindet damit. Alles ist "Text" oder, mehr marxistisch ausgedrückt, alles ist soziale Praxis.
Die Philosophie der Sozialwissenschaften hat entsprechend unsere Vorstellung vom wissenschaftlichen Fortschritt bzw. vom historischen Wandel unserer Anschauungen verändert. Der selbst nicht beweisbaren Behauptung oder Annahme in der Mathematik entspricht hier das Paradigma: eine Grundvorstellung, die in unserer Anschauung bzw. in unserer Praxis eine zentrale, ordnende Bedeutung hat und zum Ausgangspunkt von Argumentationen wird, selbst aber nicht argumentativ abgeleitet ist. Irgendwann legen wir das alte Paradigma beiseite und benutzen ein neues - weil das alte zu unbequem oder umständlich geworden ist, weil uns das neue gut gefällt, wir uns Vorteile davon versprechen, oder einige von uns sich davon Vorteile versprechen und mächtig genug sind, es durchzusetzen. Das neue Paradigma wird nicht aus dem alten abgeleitet, und das alte Paradigma wird nicht wirklich widerlegt; zwischen beiden liegt ein Bruch.(31)
Man muss sich das so vorstellen wie das Essen mit Messer und Gabel. Wir sind daran gewöhnt, es hat bestimmte Vorteile und Nachteile, es hat bestimmte soziale Konsequenzen und wirkt sich nicht auf alle gleich aus - für Kinder wird es zu einem Initiationsritus, bei bestimmten Nahrungsmitteln wird es zu einer Form der sozialen Distinktion, sie trotz einer gewissen Umständlichkeit mit Messer und Gabel zu essen, und so weiter. Wenn sich unsere Praxis verändert, verkompliziert sich das Essen mit Messer und Gabel oder erscheint weniger praktisch - weil wir mehr quabbelige Weichtiere essen, oder körnigen Reis oder Seetang; weil Metall knapp wird; weil es Mode wird, das Essen gleich in der Küche zu schneiden; weil Stächen hip werden; weil die Chinesen oder Japaner kulturell oder ökonomisch tonangebend werden; weil ein mächtiger Konzern auf 20 Jahre das Monopol zur europäischen Stäbchenherstellung erworben hat. Dass das Essen mit Messer und Gabel allmählich umständlicher und weniger günstig wird, sehen wir aber nur rückwirkend so, wenn wir den Paradigmenwechsel vollzogen haben und mit Stäbchen essen. Vorher fanden wir, es sei Verfeinerung und Fortschritt, dass wir jetzt spezielle Messer für quabbelige Weichtiere haben oder spezielle Zerlegetechniken erlernen oder wiederverwendbare Plastikmesser haben. Man kann nicht sagen, es wäre nicht mehr gegangen. Aber irgendwann lassen wir es.
An dieser Stelle kommt Tutter ins Spiel, die blaue Maus aus "Der Bär im großen blauen Haus". Tutter streitet sich mit Treelo (dem Lemurenäffchen) darum, wie die Servietten fürs Pfannkuchenessen gefaltet werden müssen. Treelo schüttet sie einfach auf den Tisch, Tutter findet, sie müssten gefaltet und auf den Teller gesetzt werden, dass sie aussehen "wie ein Schwan auf einem Teich". Der Bär versucht Tutter zu beruhigen und sagt, nur weil Treelo es "vollkommen anders" mache, müsse es ja nicht falsch sein. Daraufhin sagt Tutter, gut, es sei vielleicht nicht falsch. "Aber das Problem dabei ist, Bär - es ist nicht richtig!" Das ist genau die Art und Weise, wie wir uns über unsere theoretischen Auffassungen von der Wirklichkeit und die praxisleitenden Konzepte unseres Handelns auseinandersetzen. Von keinem lässt sich wirklich beweisen, dass es genau so sein muss, oder dass alle anderen falsch sind. Das hindert uns jedoch nicht, ein Konzept zu wählen, weil wir finden, dass die anderen eben nicht richtig sind. Tutter ist hier der "Konservative", der sich gegen einen Paradigmenwechsel beim Serviettenfalten zunächst sperrt. Die Lösung wird dann doch in einem Paradigmenwechsel gesucht; beide erfinden zusammen "eine völlig neue Art, Servietten zu falten". Das illustriert treffend, dass Paradigmenwechsel häufig auch darauf zurückgehen, dass neue Bündnisse in der Praxis geschlossen werden. Wenn wir das bisherige Neben- und Gegeneinander von zwei Emanzipationsbewegungen oder sozialen Gruppen überwinden wollen, müssen wir lernen, die Servietten neu zu falten.
Wenn wir uns Utopie als paradigmatische Wende vorstellen, wird klar, dass ihr Ruf nach einer geänderten sozialen Praxis und einer dem entsprechenden Politik nicht davon abhängt, dass sie mehr oder weniger widersprüchlich, apodiktisch oder zirkulär wäre als die aktuell vorherrschende Theorie. Wir verstehen dann den Charakter von Utopie als Vorschlag: zum einen als Vorschlag einer Übersetzung zwischen verschiedenen, unterschiedlichen Erfahrungen und Ansätzen, so dass sie sich als zumindest partiell ähnlich und vergleichbar erkennen können; zum anderen als Vorschlag von Konzeptionen, die als Geschäftsgrundlage eines sozialen Bündnisses fungieren können, oder etwas weniger nüchtern fomuliert: als Idee eines neuen historischen Versprechens, das dieses Bündnis zusammenhält. Auf dieser Grundlage ist es möglich zuzugestehen, dass anderes nicht falsch sein mag, aber einfach nicht richtig ist. There's magic in the kitchen.(32)
Die Theorie der freien Kooperation ist die Forderung nach einer paradigmatischen Wende; sie ruft dazu auf, die Probleme der Praxis in einer anderen konzeptionellen Form zu rekonstruieren. Sie ist ebensogut eine Geschichte, eine "story", wie alle anderen auch; aber welche "story" man verwendet, hat Konsequenzen.(33) Weil sie sich dessen bewusst ist und nicht auf die "bessere Repräsentation der Wirklichkeit" beruft sondern darauf, eine bestimmte "magic in the kitchen" zu befördern, ist sie eine postmoderne Utopie.
Wenn wir vor diesem Hintergrund die eingangs genannten Einwände prüfen, sieht die Sache so aus:
1. Die Theorie der freien Kooperation ist so apodiktisch/tautologisch wie jede andere Theorie auch, die mit einer zentralen Definition arbeitet. Sie beansprucht jedoch, keine frei erfundene Setzung zu sein, sondern mit einer zentralen Definition von Freiheit und Gleichheit zu arbeiten, die den historischen Erfahrungen und den Diskussionsprozessen neuerer Emanzipationsbewegungen näher kommt, geeigneter ist ihre Probleme zu systematisieren und gegenseitig erkennbar und vergleichbar zu machen, als jedes andere Konzept.
2. In der Theorie der freien Kooperation treten Widersprüche auf z.B. zwischen einzelnen Elementen der fünf "Politiken", die im Grundriss einer Politik der freien Kooperatin dargestellt werden. Es gibt hierbei jedoch einen Bezugspunkt, eine Hauptseite: Die Definition von freier Kooperation ist der harte Kern, zu dem man im Zweifelsfall zurückgehen muss, während die "Politiken" und ihre Elemente ein anwendungsorientiertes Politikschema darstellen, das sich im Zweifel daran messen lassen und weiterentwickeln lassen muss. Die Grundauffassung von freier Kooperation ist gewissermaßen die Batterie des gesamten theoretischen Konzepts (so wie der Blues bekanntlich die Batterie ist, zu der man ab und an zurückgehen muss, um sich neu aufzuladen).
3. Mit zirkulären oder paradoxen Aspekten müssen sich alle Theorien herumschlagen, die erfreulicherweise zulassen, dass ihre Objektivismus-Kritik auch auf sie selbst angewendet werden kann. (Für Theorien des Gottesgnadentums trifft dies z.B. nicht zu; hier gibt es keine Selbstreferenz, sondern totale Transzendenz.) Der Einwand, die Theorie der freien Kooperation sei zirkulär, beruht auf einer Überschätzung und Verabsolutierung dessen, was Theorie ist und kann. Sobald wir zulassen, dass die Theorie nicht außerhalb der Menschen existiert; dass es keinen erhöhten Turm gibt, von dem aus wir die Wirklichkeit automatisch richtig betrachten; dass eine Theorie nicht selbst ihre Deutung und Anwendung enthalten kann usw., geraten wir ein bisschen ins Schwimmen. Das ist typisches postmodernes Schwimmen. Theorien müssen schwimmen in der Postmoderne. Die Frage ist, ob sie dabei eine vergleichsweise gute Figur machen. (34)
Eine postmoderne Utopie schafft keine Konflikte ab, auch keine Konflikte um ihre Ausdeutung oder konkrete Anwendung. Sie präferiert kein fixes, institutionalisierbares Modell gesellschaftlicher Organisation oder Entscheidungsfindung, das Konflikte und Emanzipationskämpfe überflüssig machen würde. Der Charakter der Theorie der freien Kooperation ist der einer Politikberatung. Sie empfiehlt sich Menschen, die danach fragen, wie sie frei und gleich werden können, als Instrument der Analyse ihrer Kooperationen - ein Instrument, das sie verwenden können, keine Maschine, in die man oben Daten hineinfüttert und die unten einen Lochstreifen auswirft. Sie empfiehlt sich diesen Menschen zweitens als Begrifflichkeit, die sie benutzen können bei dem Versuch, sich anderen verständlich zu machen oder mit ihnen zusammenzuschließen. Sie empfiehlt sich drittens denjenigen, die ihre Kooperation miteinander frei und gleich gestalten wollen, als Handreichung, als Zusammenfassung von Erfahrungen bei dem Experiment "freie Kooperation". Sie empfiehlt sich viertens Menschen und Gruppen, die zu der Auffassung gelangen, ihre Kooperationen seien erzwungen, als strukturierendes Modell bei der Suche nach Strategien der Transformation. Und sie empfiehlt sich fünftens als Methode, sich auf bestimmte Leitplanken zu besinnen im Konflikt mit Menschen, die alles anders sehen und anderes wollen.
Wenn wir also fragen: Wer entscheidet denn, was ein vergleichbarer und vertretbarer Preis für alle Beteiligten ist, eine Kooperation zu verlassen oder Kooperationsleistungen einzuschränken? dann lautet die Antwort: Die Menschen selbst, und sie können sich dabei irren. Niemand kann ihnen diese Entscheidung abnehmen. Es gibt keine Instanz, die mit absoluter Verbindlichkeit und Sicherheit an ihrer Stelle entscheiden könnte. Es gibt kein Monopol, weder auf die Theorie noch auf korrekte Schlussfolgerungen daraus. Die Beurteilung, ob eine Kooperation erzwungen ist oder frei, ist jedoch weniger willkürlich als die Einschätzung, ob Verteilungen und Regeln "gerecht" sind, oder ob sie einem selber gefallen. Die Theorie der freien Kooperation ist in der Tat zirkulär, so zirkulär wie jede postmoderne Utopie. Sie verschiebt das Problem auf eine andere Ebene: weil sie der Meinung ist, dass es auf dieser Ebene besser in der Praxis zu bearbeiten ist, als auf der ursprünglichen. Glauben Sie keiner Theorie, die etwas anderes von sich behauptet.
Ist es also möglich, die Theorie der freien Kooperation dafür zu benutzen, Herrschaftsstrategien zu verschleiern und zu legitimieren? Absolut. Es gibt keine Theorie, keine Konzeptionalisierung, die davor sicher wäre. Ist es deshalb egal, welche Theorie wir verwenden, welches Paradigma durchgesetzt ist? Absolut nicht. Die Theorie der freien Kooperation macht es Personen, Gruppen und Instanzen, die für sich eine "Lösungshoheit" beanspruchen wollen, weniger leicht, als andere Theorien. Sie stellt Waffen und Werkzeuge bereit, die sich wirksamer gegen einen solchen Missbrauch einsetzen lassen, als dies in anderen Theorien der Fall ist. Nicht mehr; aber auch nicht weniger.
nicht unwiderruflich sein könnte: Denn wenn es keine obere Gewalt gäbe, die für die Treue der Vertragschließenden bürgen oder diese zwingen könnte, ihre gegenseitigen Verpflichtungen einzuhalten, wären die Parteien allein Richter in eigener Sache, und jede hätte jederzeit das Recht, den Vertrag zu kündigen, sobald sie feststellt, dass die andere gegen seine Bedingungen verstößt, oder sobald diese ihr nicht mehr zusagen.
Jean-Jacques Roussau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen
Das Revolutionäre Frauengesetz der EZLN (der zapatistischen Befreiungsarmee) vom 8.3.1993, fast ein Jahr vor Beginn des bewaffneten Aufstands in Chiapas, entstand aus den Frauenversammlungen in verschiedenen Dörfern des Aufstandsgebiets heraus. Die Frauen machten ihre Mitwirkung am Aufstand abhängig davon, dass ihre gesellschaftliche Stellung sich änderte - nicht nur als Forderung für "hinterher", sondern jetzt, sofort, in ihrer eigenen Community und in der Aufstandsbewegung selbst. Sie benutzten die Formel "Nein, wenn nicht ..." Sie konnten niemanden zwingen. Die Männer der EZLN hätten den Aufstand ohne die ausdrückliche Mitwirkung der Frauen versuchen können. Sie hätten ihn auch bleiben lassen können. Oder verschieben. Aber sie konnten die Frauen ihrerseits nicht zwingen. Sie konnten sie auch nicht vertrösten. Sie wussten, dass der Aufstand ohne die Mitwirkung der Frauen wenig Chancen gehabt hätte. Und sie hatten aufgrund der Auseinandersetzungen und Veränderungen der zurückliegenden Jahre eine ungefähre Vorstellung davon, dass die Forderungen der Frauen zwar nicht bequem, aber ein möglicher Teil einer möglichen gemeinsamen Sache sein könnten. Jedenfalls einigte man sich. "Gut, also dann ..." (35)
So funktionieren soziale Prozesse zwischen Freien und Gleichen. In freier Verhandlung, gestützt auf einen ähnlich hohen, aber möglichen Preis des Scheiterns; ohne einen richtenden Dritten, mit keiner anderen Instanz als den Beteiligten, mit keinem anderen Druckmittel als dem der Kooperation oder Nichtkooperation, die alle Beteiligten ähnlich hart treffen würde. Punkt. Es gibt nichts anderes.
Dass Menschen einander in dieser Weise als Freie und Gleiche behandeln, hat keine historische "Stufe" zur Voraussetzung, die erreicht sein müsste. Es hat nicht zur Voraussetzung, dass man sich in einem vollständig herrschaftsfreien Umfeld befindet, dass keine "Sachzwänge" existierten oder wir als Menschen frei wären von unserer jeweiligen Geschichte und den daraus resultierenden Besonderheiten. Man kann es tun; d.h. man kann es gemeinsam in einer Kooperation tun. Man kann darauf verzichten, Kooperation und Kooperationsleistung zu erzwingen; man kann die gegenseitige Situation dahingehend verändern, dass ein solcher Zwang auch tatsächlich weniger möglich ist, weil Zwangsmittel untereinander blockiert und abgebaut werden; man kann sich der Situation aussetzen, dass es keine Regeln gibt, nur die Tatsache: kooperiert oder lasst es bleiben.
Das allein macht Menschen nicht glücklich. Es führt auch nicht automatisch zu guten Entscheidungen. Es ist kein harmonischer Prozess. Man kann durchaus davon sprechen, dass es ein mitunter gewaltsamer Prozess ist, insofern die Beteiligten darauf bestehen, einander zu verändern. Sie haben allerdings keine Wand im Rücken, die sie daran hindert, wegzugehen oder zurückzuweichen. Nur ein Band zwischen sich, das sie eingehen, aufrechterhalten, dehnen oder zerreißen können.
Freie Kooperation heißt, diese Logik des Sozialen auf alle Arten und Bereiche von Kooperation anzuwenden und das zu verändern, was ihr entgegensteht. Es ist eine Utopie in Echtzeit. Sie dehnt sich aus und radikalisiert sich - in dem Sinne, dass sie breiter, umfassender und gründlicher wird. Wir brauchen keine utopische Gesellschaft, um damit anfangen zu können. In einem gewissen Sinne ist es egal, wo wir anfangen. Die Frage ist nur, wie weit wir gehen.
Es gibt viele Wurzeln dieser Utopie. In allen neueren Befreiungsbewegungen finden wir Praxisformen und Überlegungen, die darauf hinwirken. Oder genauer gesagt, die auf etwas hinwirken, was in diesem Punkt - der Utopie der freien Kooperation - einander ähnlich und vergleichbar ist. Oder noch genauer gesagt, auf etwas hinwirken, was ihnen anhand von Utopien der freien Kooperation als vergleichbar vorkommt und was sie als ähnlich anerkennen können. Die Politik der Anerkennung und des Verhandelns, die im italienischen Feminismus formuliert wurde, bewegt sich ebenso in eine solche Richtung, wie die Ideenwelt und Praxis der Zapatisten in Chiapas. Viele andere tun das auch. Unsere "näheren" Beziehungen - Wohn- und Lebensgemeinschaften; selbstorganisierte ökonomische, politische oder kulturelle Projekte; Arbeitszusammenhänge; familiäre und "wahlverwandte" Strukturen - haben eine zentrale Bedeutung als Experimentierfeld für soziale Kooperation und ihre Logik. Auch sie sind jedoch kein privilegierter Ort für die Entwicklung freier Kooperation. Es gibt genauso den Effekt, dass gesamtgesellschaftliche Umbrüche und die damit verbundenen Bewegungen eine Avantgarde-Funktion übernehmen, dass also die "ferneren" Beziehungen die "näheren" inspirieren bei der Suche nach einer veränderten Logik sozialer Kooperation.(36)
Es gibt notorische Einwände dagegen, eine solche Logik des Sozialen zur allgemeinen Logik gesellschaftlicher Verhältnisse machen zu wollen. Freie Kooperation sei ja als Idee gut und schön, aber nicht praktikabel, insbesondere nicht für größere soziale Einheiten und komplexe Gesellschaften.
Die Theorie der freien Kooperation bestreitet in der Tat, dass es "komplexe Gesellschaften" gibt - wenn das heißen soll, dass es demgegenüber Formen sozialer Kooperation in kleinerem Rahmen gibt, die irgendwie "einfach" wären. Im Sinne der Selbstähnlichkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen gibt es keine "einfachen" Kooperationen. Auf solche Ideen können nur Wirtschaftswissenschaftler kommen - oder all jene, die den modernen Staat und die internationalen Verflechtungen für so wahnsinnig komplex halten, weil sie nie in der Küche vorbeikommen. Sonst wüssten sie nämlich, wie komplex es in einer Küche zugeht. Weil es aber keine Form sozialer Kooperation gibt, die prinzipiell "einfach" wäre, gibt es auch keinen Grund, warum wir die Erfahrungen, die wir in kleineren Kooperationen mit dem Experiment der freien Kooperation machen, nicht auf größere und prinzipiell auf alle Kooperationen übertragen sollten.
Im Sozialen ist überhaupt nichts einfach. Jede soziale Kooperation, jede Situation darin und jede Handlung, ist unendlich komplex. Abgesehen davon, dass sie das Gegenteil von erzwungener Kooperation und von Herrschaft ist und die einzige Möglichkeit, "jemand zu sein", ist freie Kooperation auch ein Weg, mit dieser Komplexität des Sozialen umzugehen. Ihre Logik entspricht genau dem, wie wir mit komplexen Systemen umgehen. Wir können sie nicht en detail steuern; wir beeinflussen sie, stellen fest wie sie sich verändern, und beeinflussen sie dann neu. Bis zu einem gewissen Grad behandeln wir sie als black box: auch wenn wir die Mechanismen verstehen, können wir die Ergebnisse nicht vorhersagen; wir versuchen sie zielgerichtet zu beeinflussen, und das funktioniert auch oft, aber wir haben keine Garantie, dass ein bestimmter Input das gewünschte Ergebnis hervorbringt.
Freie Kooperation geht davon aus, dass wir selbst und unsere Beziehungen auch so komplex sind.(37) Marktforscher können uns Monate vorher sagen, was wir wählen werden. Aber ob wir plötzlich eine Beziehung beenden, aus einer Gruppe aussteigen oder in eine Partei eintreten werden, ist selbst für die nächsten Bekannten oft nicht vorhersagbar. Weil soziale Kooperationen komplexe Systeme sind, können wir sie nicht beliebig steuern. Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen der Beziehung zu unseren Kindern und einer Neuregelung der Eigentums- und Verfügungsverhältnisse. Wir fischen im Trüben; es ist nicht alles total zufällig und unbeeinflussbar, aber wir haben keine feste Gewissheit, welche Wirkung diese oder jene Veränderung auf das Ganze der sozialen Kooperation haben wird. Deshalb können soziale Verträge nicht beliebig bindend sein, sondern müssen rückholbar bleiben. Deshalb kann eine utopische Gesellschaft, die wir uns vorgestellt haben, in der Praxis totaler Mist sein. Deshalb sind Kontaktanzeigen ("Löwe, der gern wandert, sucht Steinböckin mit ähnlichen Hobbies") immer ein bisschen pervers, weil Beziehungen so nicht funktionieren.
Weil soziale Kooperationen komplexe Systeme sind - und nichts anderes meint es, wenn wir sagen, sie sind eine "Praxis" - bleiben wir mit unseren Analysen, Versprachlichungen und Einwirkungsversuchen notwendig an der Oberfläche. Dieser "schwache" Bezug zwischen Praxis und Formalisierung ist auch ein Grund, warum allgemeine Geltungsansprüche - egal ob durch Verfahren oder durch Analyse - höchst problematisch sind. Weder die "ideale Sprechsituation" Habermas' noch Rawls fiktive Rekonstruktion dessen, was wir objektiv wollen müssen, können uns die Entscheidung abnehmen, ob wir die aktuelle Realität einer Kooperation akzeptieren oder ablehnen.
Freie Kooperation zieht aus der Komplexität sozialer Systeme und der Problematik von Geltungsansprüchen bestimmte Konsequenzen. Sie beginnt nicht mit einem utopischen Ausgangsmodell, sondern nimmt die aktuelle Situation zum Ausgangspunkt, so wie sie ist. Sie spekuliert also nicht darüber, ob wir mit einem demokratisch-kapitalistischen Modell anfangen sollten oder lieber mit einem realsozialistischen bzw. das eine oder andere erst einmal "einführen" sollten. Sie fragt in der konkreten Ausgangslage: Wo liegt hier überall erzwungene Kooperation vor, durch welche Herrschaftsinstrumente wird freie Kooperation verhindert, was sind Schritte um diese Instrumente unschädlich zu machen oder zu beseitigen. Die Theorie der freien Kooperation überschätzt nicht das einzelne Instrument der Veränderung, sondern denkt in Kriterien, die sich in den fünf "Politiken" niederschlagen: was heißt hier "abwickeln"? wie kann hier eine "Politik der Beziehungen" zur Geltung gebracht werden? usw. Sie lässt Platz für Kontroversen um die Wirksamkeit dieses oder jenes Instruments und für Auseinandersetzungen um die mögliche Geschwindigkeit von Veränderung. Nur die Richtung ist klar; die Logik, der zum Durchbruch und zur Entfaltung verholfen werden soll.
Die angestrebte gesellschaftliche Ordnung, die Freiheit und Gleichheit ermöglicht, ist eine, in der ständig Prozesse ablaufen, die den im dritten Teil geschilderten Elementen der fünf "Politiken" entsprechen. Der Modus der Veränderung sind konkrete Menschen, Kooperationen und Bewegungen, die sich auf die drei Bestimmungen der freien Kooperation berufen, unterstützt und geschützt durch eine zunehmend allgemeinere Bewegung, deren Beteiligte sich zumindest gemeinsam auf das Prinzip der freien Kooperation beziehen.
Freie Kooperation ist deshalb implementierbar. Sie braucht keine tabula rasa von Neuordnung, sondern kann ansetzen an einer konkreten, hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft mit vorhandenen Institutionen, überkommenen Strukturen politischer Machtorganisation und aktuell wirksamen Regelsystemen. Sie entgeht nicht den notwendigen Spannungen zwischen Utopie und konkreter Politik, zwischen den vielfältigen Formen von "Expertentum", das zu beweisen versucht, wieso es nicht anders geht, und dem Veränderungsanspruch einer allgemeineren Bewegung, die aus etwas abstrakterer Entfernung überzeugt ist, dass es ganz einfach geht. Auch hier gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Streit um parlamentarische Realpolitik oder ökonomische Rahmensteuerung, und dem Streit, ob man eine konkrete Beziehung verlassen "muss", welche "Sachzwänge" ein selbstorganisiertes Projekt in Rechnung stellt oder nicht, usw. Das Problem ist nicht die Spannung; ein Problem ist es, wenn sie zusammenbricht. Es gibt viele Gründe, warum das passieren kann. Der Beitrag einer utopischen Methode dazu, die Spannung aufrechtzuerhalten und auszuhalten, besteht darin, nicht Effizienzdenken und Patentrezepte aufeinander prallen zu lassen, sondern in Kriterien zu denken und zu verhandeln.
Bevor im Folgenden diese Kriterien, die Elemente der fünf "Politiken", dargestellt werden, sei noch auf einen letzten Einwand hingewiesen. Dieser besteht darin, das alles sei doch viel zu kompliziert und daher letztlich elitär. Nun, die hier vorgelegte Grundlegung der freien Kooperation ist nicht wesentlich länger oder komplizierter als die Gebrauchsanweisung meines Handys, vom Betriebshandbuch für Windows ME ganz zu schweigen. Heute wird niemand behaupten wollen, Handys seien etwas Elitäres. Man kann sie auch benutzen, ohne Gebrauchsanweisungen zu lesen. Der Charakter dieser Grundlegung der freien Kooperation ist allerdings eher der einer Grammatik, der Grammatik einer in Entstehung begriffenen zeitgenössischen Sprache der Befreiung. Es gibt bessere und schlechtere Grammatiken. Man braucht auch nicht unbedingt eine Grammatik, um eine Sprache zu sprechen. Andererseits sollten wir über den Punkt hinaus sein, wo bestimmte theoretische oder praktische Ansätze und Traditionslinien ganz herzerfrischend von sich behaupteten, sie seien die native speaker der Emanzipation und die Anliegen aller anderen bräuchten, bitteschön, nur in diese Sprache übersetzt werden.
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