Für alle reicht es nicht

20.Mai.98 Jungle World

In Genf feiert die WTO den 50. Geburtstag des weltweiten Zoll- und Handelsabkommens

Der Mann mit dem Rauschebart weckt nostalgische Erinnerungen. Was waren das für Zeiten, als der Osten noch als größter Feind des freien Handels galt. Fidel Castro, eine Art Ehrengast der Feiern zum 50. Geburtstags des Zoll- und Handelsabkommen Gatt und seiner Nachfolgeinstitution, der Welthandelsorganisation WTO, versuchte schließlich so lange wie nur möglich, sich den Segnungen des freien Marktes zu entziehen. Seine Anwesenheit ist Symbol der Erfolgsgeschichte des Gatt. Am Rande der Tagung kam es auch zu Gesprächen über den Beitritt Chinas. Nur einige Schönheitsfehler trüben die Bilanz am 50. Jubiläum. Ironischerweise gehört dazu, daß ausgerechnet die USA versucht, die ansonsten so verpönten Handelsbeschränkungen gegen Kuba durchzusetzen. Der Streit um das Helms-Burton-Gesetz, demzufolge alle Staaten, die mit der Karibikinsel Handel treiben, US-Sanktionen zu befürchten haben, war einer der Konfliktpunkte, die die zweite Ministerkonferenz der WTO in Genf vom 18. bis zum 20. Mai zu diskutieren hatte.

Mehr als 15 Staats- und Regierungschefs arbeiten fleißig daran, daß in der neuen globalen Verhandlungsrunde für das nächste Jahrtausend die letzten protektionistischen Flecken auf der WTO-Weltkarte verschwinden. Die EU setzt sich für eine weitere Liberalisierung des Handels ein, während asiatische Länder wegen der Wirtschaftskrise vorerst keine weiteren Lockerungen wollen. Auf dem Programm standen auch die Liberalisierung der Informationstechnologien, Telekommunikationsdienste und Finanzdienstleistungen. Die EU schätzt, daß weltweit beim Handel mit Bankeinlagen, Aktien und Versicherungen etwa 60 Billionen Dollar umgesetzt werden. Besonders Japan wird derzeit dazu gedrängt, seine wirtschaftliche Deregulierung voranzubringen und im Finanzbereich die Beschränkungen für den Zugang von ausländischen Unternehmen aufzuheben.

Für das nächste Jahr haben sich die Minister einen dicken Brocken vorgenommen - ab 1999 müssen die Verhandlungen über den Agrarsektor wieder ausgenommen werden - etwa über die hohen Subventionen der EU-Landwirtschaft, die vor allem von den USA heftig kritisiert werden.

Abgesehen von den Problemen der Agrarwirtschaft, ist der freie Handel kaum zu stoppen. Bei der Gründung des Gatt 1948 betrugen die Zölle durchschnittlich noch rund 40 Prozent der Warenwerte; Ende der achtziger Jahre lagen sie nur noch bei rund fünf Prozent. Der Welthandel hat sich seitdem um das Sechzehnfache erhöht. Und nichts spricht dafür, daß sich diese Entwicklung verlangsamen oder gar umkehren könnte.

Die Philosophie des WTO ist dabei so simpel wie effizient. Sie folgt der Theorie, die der englische Ökonom David Ricardo bereits im letzten Jahrhundert formulierte: Der Handel nütze sowohl dem Verkäufer als auch dem Käufer, folglich sind alle Hindernisse zu beseitigen; dann werde sich der allgemeine Wohlstand quasi von alleine einstellen. "Das Gatt hatte Erfolg, weil wir auf dem Ziel beharrten, die Hemmnisse abzubauen, die unseren Menschen die Vorteile vom freien und fairen Handel verweigern", erklärte Charlene Barshefsky, Handelsbeauftragter der USA, die aktuelle Version dieser "Philosophie".

Allerdings beweist die Geschichte des Gatt auch, daß die Vorteile des Freihandels sich zumeist nur auf wenige Gebiete beschränken und auch dort nur zeitweise zu erhalten sind. Die Asienkrise ist das aktuelle Beispiel, daß die "komparativen Vorteile" eher zu einem russischen Roulette denn zu einem dauerhaften Wohlstand führen. So galten in den sechziger und siebziger Jahren die lateinamerikanischen Länder wie Mexiko und Brasilien als aussichtsreichste Kandidaten; die kurzen Blütenträume gingen im "verlorenen Jahrzehnt" der Schuldenkrise unter. In den achtziger Jahren übernahmen dann die "Tigerstaaten" die Führung - knapp zehn Jahre später und pünktlich zum Geburtstag der WTO fallen die komparativen Vorteile von Ländern wie Indonesien in den Straßen von Jakarta in sich zusammen.

Auch wenn sich die Region wieder erholen sollte, könnte das nur auf Kosten anderer gehen. Auf dem globalen Markt ist immer schneller festzustellen, wer produktiver als alle andere produziert - und sofort versteht, diese Vorteile in Exportzuwächse umzuwandeln. An Kandidaten für die nächste Loser-Runde fehlt es nicht; in China und Indien stehen die bescheidene Entwicklungserfolge der letzten Jahrzehnte auf dem Spiel. Das eigentliche Motto des freien Handels könnte daher lauten: Für alle reicht es nicht.

Die Liberalisierung hat dazu geführt, daß auch die letzten Inseln des Protektionismus versinken. Selbst dem japanischen Monolith, der immerhin zweitgrößten Industrienation der Welt, wurden mittlerweile die Daumenschrauben angelegt; das Land wird zur Öffnung seiner Finanzmärkte gezwungen. Unwahrscheinlich, daß andere Wirtschaftsmächte sich diesem Druck entziehen und sich beispielsweise das deutsche Kapital auch weiterhin seine nationale Autarkiebestrebung erhalten kann. Und ohnehin keine Chance, dem Druck zur Marktöffnung standzuhalten, haben die Entwicklungsländer; über eine halbe Milliarde Menschen lebt in den 48 Staaten, die zur Gruppe der wirtschaftlich ärmsten Länder der Welt gehören.

Eine andere Hoffnung hat sich ebenfalls nicht eingestellt: der freie Handel trage zur Errichtung einer freien Assoziation der Produzenten bei. Der Freihandel "zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution", schrieb Karl Marx noch hoffnungsvoll. Heute hat die Liberalisierung zwar fast alle Handelsbarrieren abgeschafft; sie hat auch dazu beigetragen, daß sich die Hälfte des globalen Reichtums auf einige wenige hundert Personen konzentriert. Bei den Weltmarktverlierern von Sachsen-Anhalt bis Indien macht sich statt sozialer Revolution eher ein nationalistischer Fundamentalismus breit. Daß deren Manifeste gegen das globalisierte Kapital dabei in Kabul wie in Magdeburg vermutlich auf denselben Microsoft-Programmen geschrieben werden, steht dazu nicht im Widerspruch.

Anton Landgraf


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