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Reichstagsbrandstiftung in New York

Boris Kagarlitzky, junge Welt 24.09.2001

Die Terrorattacke vom 11. September ist bereits mit Pearl Harbor und dem Untergang des U-Bootes Kursk verglichen worden. Michail Gorbatschow erblickte eine Ähnlichkeit mit Tschernobyl - der womöglich präziseste Vergleich, wenn man die Erschütterung und Schande in Betracht zieht, welche die US-Regierung erleben mußte. Dort wie hier offenbarten sich erst Inkompetenz sowie Hilflosigkeit und dann - verzweifelte Versuche, »die Ehre zu retten«.

Es gibt allerdings einen anderen Vergleich: die Reichtagsbrandstiftung. Die antiarabische und antimuslimische Hysterie, die nach dem Desaster weltweit um sich greift, legt es nahe, Parallelen zu den 30er Jahren herzustellen. Die US-Behörden fingen sofort an, nach Schuldigen ausgerechnet unter den Arabern zu suchen, bin Laden ist praktisch zeitgleich mit der Katastrophe beim Namen genannt worden, während andere Versionen fast ungeprüft blieben.

In den ersten Minuten hegte wohl kaum jemand ernsthafte Zweifel an der »arabischen« Herkunft der Anschläge (der Autor dieser Zeilen war keine Ausnahme). Doch mit den sich mehrenden Beweisen und Argumenten, die die »arabische« Version untermauern sollen, nehmen die Zweifel zu. Der Moskauer Politologe Wjatscheslaw Nikonow bemerkte in einem TV-Kommentar, daß die Schuldigen entweder gefunden oder ernannt werden. Und fügte zynisch hinzu: Für Rußland wäre es von Vorteil, wenn das die Taliban und bin Laden sein werden.

Bin Laden, ein US-Mythos

Die weitere Entwicklung entsprach genau diesem Szenario. Man fahndete nach Arabern mit Pilotenausbildung - in der festen Überzeugung, daß kein anderer Mensch zu einem solchen Attentat fähig wäre. Auf der Verdachtsliste standen auch jene Piloten, die nur winzige Sportmaschinen fliegen konnten, - einfach weil sie Araber waren. Es fanden sich unzählige Indizien, und die Presse meldete unwiderlegbare Beweise an. Zweifel aber sind geblieben: Die superprofessionellen Terroristen begingen elementare Fehler und hinterließen Berge von Spuren, wie etwa eine Kreditkarte, mit der all ihre Tickets bezahlt worden sind.

Es ist allgemein bekannt, daß terroristische Organisationen der Islamisten von westlichen Geheimdiensten nicht nur sorgfältig observiert werden, sondern von der saudischen Aufklärung auch noch durch und durch infiltriert sind. Die vermeintlichen Selbstmordpiloten waren laut offizieller Version Saudis. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die mit der CIA eng verbundene saudische Aufklärung die Planung einer großen Operation gegen die USA unter ihrer Nase zugelassen hätte.

Zwei Tage später war bekannt geworden, daß mindestens zwei der nach Pressedarstellung unwiderlegbar überführten Terroristen nicht an Bord des Flugzeuges gewesen sind. Und der Dritte verstand es allem Anschein nach nicht, eine Boeing zu fliegen. Doch das hat die »arabische Version« nicht ernsthaft erschüttert. Man denkt da an jenen Menschen, der unter der Laterne nach dem verlorenen Schlüssel sucht, weil es dort heller ist. Man sollte dem Moskauer Talkshowmaster Alexander Gordon recht geben, der in zwei russischen Fernsehkanälen die Vermutung geäußert hat, daß hinter den Verbrechen nicht die Islamisten, sondern jene Gruppen ultrarechter »Milizen« stehen könnten, die die Explosion in Oklahoma City organisiert haben. Einige amerikanische Websites weisen auf eine ähnliche Handschrift hin (bis hin zur Weigerung, die Verantwortung für den Anschlag zu übernehmen).

Die Reaktion von bin Laden ist auf ihre Weise bezeichnend. Er billigte den Terroranschlag, wies aber die »Autorenrechte« von sich und machte keinen Hehl aus seinem Neid gegenüber den Organisatoren. Es wäre allerdings falsch, New York nur als Fortsetzung der Explosion in Oklahoma zu betrachten. Die Dimension der Aktion ist unvergleichbar. Eine Dimension, die weder bin Laden noch den ultrarechten Milizen zuzumuten ist.

Die Analyse der Geschehnisse macht deutlich, daß die einzelnen Elemente der Terroroperation, etwa die Einschleusung von Messern, der Einbruch ins Cockpit usw., zwar recht einfach zu realisieren waren, doch die gegenseitige Abstimmung und Koordination der Handlungen, die oft in verschiedenen Teilen des Landes zu machen waren, ist ein ungemein schwieriges Unterfangen.

Die Operation des 11. Septembers erforderte gigantische Bemühungen im Management und der Kontrolle, also logistics, fine tuning, wie die Amerikaner sagen. Und eben das verweist nicht auf arabische Terroristen. Der Vorteil des islamischen Terrorismus liegt in dessen simpler Organisation, seine unbesiegbaren Elemente sind Spontaneität und Unberechenbarkeit. Alle Gruppen agieren autonom. Selbst die Zerschlagung der Kommandozentralen beeinflußt die Gesamtsituation in keiner Weise, denn jeder Kämpfer Allahs kann auf sich allein gestellt handlungsfähig bleiben.

Das, was sich am 11. September ereignet hat, ähnelt weniger dem arabischen Terrorismus, sondern eher den amerikanischen Vorstellungen über denselben. Bin Laden ist ohnehin ein amerikanischer Mythos - diese Person gibt es zwar, doch sie ist bei weitem nicht so einflußreich und machtvoll, wie es dargestellt wird. Die Amerikaner haben eine globale kriminelle Organisation mit einer zentralisierten Leitung und dem Chefschurken erfunden, der alle Fäden aus einem geheimen Verlies wie in James-Bond-Filmen zieht.

Bin Laden ist in der Tat kein Organisator, sondern der Generalsponsor des Terrorismus. Er gibt das Geld für die Unterstützung von Terrorbrigaden aus, die relativ selbständig in verschiedenen Teilen der Welt operieren.

Handschrift eines All-Star-Teams

Die Aktion am 11. September wurde auf mehreren Ebenen koordiniert und makellos durchgeführt. Drei von den vier gekidnappten Jets haben ihre Ziele getroffen. Eingedenk des Ausmaßes der Operation ist das eine selten anzutreffende Effizienz - selbst für professionelle Sonderdienste. Dafür braucht man nicht einfach Profis, sondern ein All-Star- Team. Man wird erst nach einer langen Karriere zum Profi einer solchen Ebene. Niemand kann es schaffen, Erfahrungen im Terror zu sammeln, ohne in Erscheinung getreten zu sein. Und hier geht es doch um eine komplette Struktur.

Andererseits werden falsche Indizien ins Spiel gebracht, die die Fahnder in eine Sackgasse führen, aber ganz offensichtlich auf eine »arabische Spur« hinweisen. Die Verantwortung für die Anschläge wird nicht übernommen. Woran erinnert das? So agieren Sonderdienste und - manchmal - radikale rechte Organisationen.

Einige Kommentatoren haben bereits bemerkt, daß eine derart komplizierte Attacke, wie am 11. September, die Möglichkeiten der Terroristen überfordern würde. Nur einer (oder mehrere) Sonderdienste wären dazu fähig. Aber das Problem liegt ja darin, daß kein einziger Geheimdienst eine ähnliche Operation verwirklichen konnte. Dieser Terroranschlag bedurfte einer sorgfältigen Planung, es sollte eine Unzahl Menschen geworben werden, die dann (wären es Ausländer) über die Grenzen einzuschleusen wären. Die Ausmaße der Operation, ob durch Terroristen oder Geheimdienstler realisiert, hätten früher oder später zu einem Fehler und die ganze Kette zu Bruch führen müssen.

Der Schlag war so ungeheuer geworden, weil man ihn so nicht erwartet hat. Doch was hat das zu bedeuten? Die Massenmedien und auch die US-Filmindustrie sprechen schon seit längerem von der Gefahr des islamischen Terrorismus, aber der reale Schlag trug eine überraschende Form und kam aus einer Richtung, die man nicht vermutet hatte. Ein Spruch besagt, Armeen bereiten sich immer auf einen früheren Krieg vor. Das mußso nicht immer zutreffen. In diesem Fall geht es jedoch nicht um einen anderen Krieg, sondern um einen anderen Gegner.

Luftangriff wie auf Bagdad

Es scheint, daß die Operation von Leuten vorbereitet wurde, die nicht nur Freizügigkeit innerhalb des Landes besaßen, sondern auch außerhalb jedes Verdachts standen. Sollten das Profis sein, dann haben sie ihre Erfahrungen nicht im terroristischen Untergrund gesammelt.

Aber auch nicht in den Geheimdiensten. Bush war es vielleicht nicht bewußt, wie recht er mit seiner Feststellung behielt, die Ereignisse des 11. Septembers wären gleich Krieg. Es geht weder um eine Sonderoperation noch um einen Terroranschlag, es geht vielmehr um einen gut geplanten militärischen Luftangriff.

Ein solches Fach wird in den Aufklärungsakademien und Freischärlerlagern nicht gelehrt. Dort kann man durchaus eine Pilotenausbildung erhalten, aber wo lernt man die Planung militärischer Luftoperationen? Die Luftattacke ist nach denselben Regeln erfolgt wie die amerikanischen Bombardements von Bagdad und Belgrad. Dieselbe sorgfältige Zielauswahl, die gleichen punktuellen Schläge. Die Ziele sind politisch und nach symbolischer Wichtigkeit bestimmt worden. Die Terroristen hatten nicht vor, das Land zu zerstören, sonst wären die Flugzeuge nicht auf Pentagon und World Trade Center abgestürzt, sondern auf nukleare Objekte. Dann ginge es nicht um Tausende, sondern um Millionen Opfer.

Der Luftangriff wurde nach einigen Angaben durch elektronische Attacken gegen Luftabwehrsysteme begleitet, wie es während der letzten Kriege üblich war. Weder die irakische noch die iranische Aufklärung wären dazu imstande gewesen. Was die Ideologen der tschetschenischen Islamisten auch schreiben mögen, die Russen oder Israelis würden die USA schlecht in die Luft jagen wollen.

Unmöglich ist auch die Vermutung, daß die US- Sonderdienste dermaßen verrückt gespielt hätten, um mit den eigenen Händen das Heimatland zu sprengen.

Es waren also keine Terroristen und keine Geheimdienste, wer oder was dann? Die Attacke gegen New York und Washington ist allem Anschein nach aus dem Inneren des eigenen Landes vorbereitet worden. Und zwar durch Bürger, die militärisch erfahren genug, aber abhold jeden Verdachts waren. Das konnten ehemalige Militärs sein, wahrscheinlich mit einer verdienstvollen Vita und guten Seilschaften in Geheimdiensten und Armee. Sie könnten nach Bedarf »Personen arabischer Nationalität« ohne deren Wissen ausnützen. Im letzten Fall zwingen sich Parallelen auf zwischen diesen Ereignissen in Amerika und den Wohnhausexplosionen in Moskau 1999. Die Hitleristen haben schließlich auch Kommunisten als Brandstifter des Reichstags aufgeboten.

Mit anderen Worten: Es kann also nicht nur um ultrarechte »Volksmilizen« gehen, sondern um eine Verschwörung von ganz anderer Dimension, mit derselben Ideologie, doch mit völlig anderen Potenzen. Sollte es wirklich so gewesen sein, dann ist das Geschehene erst der Anfang. Die Haßwelle gegenüber Moslems und Immigranten, neue Bombardements im Nahen Osten und - schließlich - die Wiederherstellung westlich-christlicher Zivilisationswerte, die durch alle möglichen Liberalen unterminiert wurden. Eine Verschwörungstheorie mehr? Aber Terrorakte sind ohne Verschwörung undenkbar, insbesondere jene solcher Dimension.

Mit der »arabischen« Version lassen sich überdies die Meldungen über Broker nicht vereinbaren, die kurz vor der Attacke Aktien der mit dem WTC arbeitenden Versicherungsgesellschaften verkauft haben sollen. Diese Tatsachen sollen erst geprüft werden: Sollten sie sich bestätigen, so hieße es, daß offenbar jemand über wertvolle Insider-Informationen verfügt hatte. Und dieser Jemand dürfte mit den Islamisten nichts gemein haben.

Erst Strafe, dann Verbrechen?

Wer auch immer hinter den Anschlägen in Washington und New York gestanden haben soll, in Rußland und Israel haben sie die Rolle des neuen Reichtstagsbrandstifters bereits gespielt. Die äußere Rechte und Verfechter »westlicher Zivilisationswerte« riefen unisono zur Vergeltung auf. Ein vielstimmiger Chor tönt: Muslime sind Barbaren, Untermenschen, mit denen keine Verhandlungen möglich sind. Sie seien anders als wir und unsere Kriterien von Demokratie und Persönlichkeitsrecht gelten nicht mehr im Umgang mit ihnen. »Keine Angst vor unpopulären Maßnahmen«, hört man sagen. »Laßt uns durch demokratische Formalitäten nicht binden«, fügen andere hinzu.

Hinter Allgemeinplätzen steht konkreter Sinn. Das Minimalprogramm: Verhaftungen ohne Order, Massenabschiebungen, reihenweise Durchsuchungen. Das Maximalprogramm: Genozid. Ein Moskauer Politologe mit dem programmatischen Familiennamen Satanowski ruft vom TV-Bildschirm dazu auf, was Präsident Putin einmal vorgeschlagen hatte: abknallen, umlegen. Massive Repressionen würden natürlich zum massiven Widerstand führen und die Feinde vermehren. Ist das etwa jenen nicht klar, die uns heute mit der muslimischen Bedrohung einschüchtern? Doch, das verstehen sie sehr wohl. Nur sie glauben schlicht und einfach an eine Endlösung. Wenn nicht im Weltmaßstab, so wenigstens auf einem begrenzten Areal.

Die US-Administration meinte es sicher nicht ganz ernst mit ihrer Erklärung, sie hätte Schuldbeweise betreffend bin Laden. Seine Schuld kann nur vor einem Gericht nachgewiesen werden. Dafür würde man mindestens ein Jahr brauchen, selbst wenn die Terroristen erfolgreich entlarvt und gefangen werden sollten.

Um einen US-Bürger zu überführen, der einen Hamburger im McDonald's gestohlen hatte, soll eine Ermittlung durchgeführt, der Schuldige gefaßt und ein Verdikt der Geschworenen erzielt werden. Die amerikanischen Behörden wollen die Schuld eines ganzen Staates, Afghanistans, binnen weniger Tage ohne jede Gerichtsverhandlung beweisen. Aus den USA kommen Meldungen über Angriffe gegen islamische Zentren und Moscheen. Es ist ganz klar, daß die Muslime die bevorstehenden Bombardements und Offensiven mit Terror beantworten werden. Damit würden die erforderlichen Beweise erbracht. Ähnlich wie im Fall Milosevic: Er hatte zweifelsfrei Kriegsverbrechen begangen, doch alle ihm in Den Haag inkriminierten Tatsachen betreffen die Zeit nach dem Beginn der US-Bombenangriffe in Serbien. Das heißt also: Erst Strafe, dann Verbrechen, dann wieder Strafe. Auf diese Weise legt heute unsere »christliche Zivilisation« die Gerechtigkeit aus!

Der Faschismus des 20.Jahrhunderts kam im Ergebnis des wirtschaftlichen Zusammenbruchs von 1929-32 an die Macht. Das war ein in Militäruniform eingekleideter Faschismus. Die heutige Zeit ist eine andere. Die gegenwärtige Krise wird bereits als Wiederholung der großen Depression bezeichnet. Der jetzige Faschismus ist mannigfaltig und präventiv. Er greift von verschiedenen Seiten an und paßt sich mal dem Markenanzug eines respektablen Politikers, mal dem Cut kahlköpfiger Pogromaktivisten an. Er beginnt zu handeln, ohne die volle Entfaltung der Krise abzuwarten. Sie sind noch gar nicht an der Macht, aber der Reichstag steht schon in Flammen.

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