Globale Armut im späten 20. Jahrhundert

Michel Chossudovsky 20.05.98

Gerade erst haben es die G8 Länder, ein Forum der reichsten und mächtigsten Länder der Welt, bei einer Gipfel-Konferenz in Birmingham abgelehnt, die ärmsten Länder der Welt zu entschulden und ihnen damit einen Neustart zu ermöglichen. Im folgenden Essay beleuchtet der kanadische Wirtschaftswissenschaftler Michel Chossudovsky die Folgen der neoliberalen Wirtschaftsordnung.

I. Die Globalisierung der Armut

Das späte 20. Jahrhundert wird als eine Periode der globalen Verarmung in die Weltgeschichte eingehen, die von dem Zusammenbruch produktiver Systeme in den Entwicklungsländern, dem Untergang öffentlicher Einrichtungen und dem Zerfall von Gesundheits- und Erziehungsprogrammen gekennzeichnet ist. Diese "Globalisierung der Armut" - die in weiten Teilen die Errungenschaften der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehoben hat - nahm in der Dritten Welt ihren Ausgang und fiel mit dem Ausbruch der Verschuldungskrise zusammen. Seit den 1990ern hat sie alle Großregionen der Welt erfaßt, einschließlich Nordamerika, Westeuropa, die Länder des ehemaligen Sowjetblocks und die "Schwellenländer" in Südostasien und im Fernen Osten.

In den 1990ern sind lokale Hungersnöte in Afrika südlich der Sahara, in Südasien und in Teilen Lateinamerikas ausgebrochen; Krankenhäuser und Schulen sind geschlossen und Hunderten Millionen von Kindern das Recht auf Grundschulbildung verwehrt worden. In der Dritten Welt, in Osteuropa und auf dem Balkan sind erneut Infektionskrankheiten aufgetreten, einschließlich Tuberkulose, Malaria und Cholera.

Die Verarmung der ehemaligen Sowjetunion

Wirtschaftlische Schocktherapie

Beurteilt man die Auswirkungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs nach dem Kalten Krieg auf Einkommen, Beschäftigungszahlen und staatliche Sozialleistungen, so erscheinen sie weit umfassender und zerstörerischer als jene der Weltwirtschaftskrise. In der ehemaligen Sowjetunion (von Beginn des Jahres 1992 an gerechnet) trug die galoppierende Inflation, die durch den Sturz des Rubels ausgelöst worden war, zum raschen Abbau der Realeinkommen bei. In Verbindung mit dem Privatisierungsprogramm stürzte die "wirtschaftliche Schocktherapie" ganze Industrien in die unmittelbare Liquidation, was zur Entlassung von Millionen von Arbeitern führte.

In der Russischen Föderation stiegen infolge der ersten makroökonomischen Reformen, die die Regierung Jelzin im Januar 1992 eingeführt hatte, die Preise um ein Hundertfaches; die Löhne stiegen andererseits um das Zehnfache; eine britische Studie hat in dieser Hinsicht bestätigt, daß die Realkaufkraft während des Jahres 1992 um 86 Prozent gesunken war.

Zivile Ersparnisse erschöpft

Die Reformen haben nicht nur den militärisch-industriellen Komplex demontiert, sie haben auch die zivilen Ersparnisse erschöpft. Der wirtschaftliche Niedergang übertraf den Produktionssturz, den die Sowjetunion am Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges nach der Besetzung von Weißrußland und von Teilen der Ukraine durch die Deutschen im Jahre 1941 sowie der ausgedehnten Bombardierung ihrer industriellen Infrastruktur erfahren mußte. Das sowjetische Bruttoinlandsprodukt war im Jahre 1942 um 22 Prozent geringer als vor dem Krieg. Vergleichsweise fiel in der gesamten ehemaligen Sowjetunion die Industrieproduktion (gemäß offiziellen Zahlen) in den Jahren 1989-1995 um 48,8 Prozent und das Bruttoinlandsprodukt um 44,0 Prozent, und die Produktion ist weiterhin am Sinken. . . Unabhängigen Schätzungen zufolge war der Rückgang jedoch wesentlich höher, und es gibt sichere Beweise dafür, daß man die offiziellen Zahlen manipuliert hat.

Während die Lebenshaltungskosten in Osteuropa und auf dem Balkan als Resultat der Deregulierung der Warenmärkte auf das Niveau des Westens angestiegen waren, beliefen sich die monatlichen Mindestlöhne nur auf zehn Dollar. In Bulgarien betrugen die Pensionen im Jahre 1997 zwei Dollar im Monat. . . In der gesamten Region wurden große Bevölkerungsteile (da sie nicht für Elektrizität, Wasser und Verkehrsmittel aufkommen konnten) auf brutale Weise von der Neuzeit ausgeschlossen. . .

Armut im Westen

Soziale Apartheid

Bereits während der Ära Reagan-Thatcher, weitaus merklicher aber seit dem Beginn der 1990er, hat die Einführung strenger Sparmaßnahmen schrittweise zur Zersetzung des Wohlfahrtsstaates (einschließlich des gesamten Sozialversicherungssystems) beigetragen. Die Errungenschaften der frühen Nachkriegsjahre werden aufgehoben, die Tendenz im Westen geht in Richtung einer teilweisen Zersetzung des Arbeitslosenversicherungssystems und einer Privatisierung der Pensionskassen und der staatlichen Sozialleistungsträger. . .

Mit dem Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaates ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit zunehmend eine Quelle sozialer Unruhen und zivilen Ungehorsams. Das städtische Leben wird umgeformt, die wirtschaftliche Umstrukturierung führt dazu, daß westliche Städte mehr und mehr jenen in der Dritten Welt gleichen. Das Milieu bedeutender Großstadtgebiete ist von "sozialer Apartheid" geprägt: der urbane Lebensraum gliedert sich zunehmend entlang sozialer und ethnischer Grenzen auf. Die Armut in den Gettos und Slums von amerikanischen (und vermehrt europäischen) Städten läßt sich in vielerlei Hinsicht mit jener in der Dritten Welt vergleichen.

Der Tod der "Asiatischen Tiger"

Unlängst haben Spekulationsgeschäfte zuungunsten von nationalen Währungen die Destabilisierung der weltweit erfolgreichsten Wirtschaftssysteme der "Schwellenländer" (Indonesien, Thailand, Korea) vorangetrieben und dadurch praktisch über Nacht zu einer abrupten Verschlechterung des Lebensstandards geführt. In China, dem Beispiel einer "wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte", stehen Tausende von staatlichen Betrieben vor der Liquidierung oder vor dem Zwangskonkurs, was zur Entlassung von Millionen von Arbeitern führen wird. Diese Entwicklung ging mit beträchtlichen Budgetkürzungen bei Sozialprogrammen einher.

Während der asiatischen Währungskrise im Jahre 1997 haben sich Berufsspekulanten Milliarden von Dollar aus den gesetzlichen Rücklagen der Zentralbanken angeeignet. Diese Länder sind mit anderen Worten nicht mehr in der Lage, mittels Geldmengenpolitik "die wirtschaftliche Entwicklung zu finanzieren".

Diese Erschöpfung von gesetzlichen Rücklagen ist ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses der wirtschaftlichen Umstrukturierung, die zu Konkursen und zur Massenarbeitslosigkeit führt. Anders ausgedrückt: Die Kontrolle über private Devisenrücklagen, die sich in den Händen von "Berufsspekulanten" befinden, übertrifft bei weitem die beschränkten Möglichkeiten der asiatischen Zentralbanken - das bedeutet, daß letztere weder einzeln noch gemeinsam die Flut von Spekulationsgeschäften bekämpfen können.

II. Die Ursachen der globalen Armut

Globale Arbeitslosigkeit

Die neue internationale Wirtschaftsordnung lebt von der Armut der Menschen

Die globale Verschlechterung der Lebensstandards ist nicht das Resultat einer "Knappheit an Produktionsmitteln", wie das in früheren Geschichtsperioden der Fall war. Die Globalisierung der Armut hat sich tatsächlich in einer Periode des rapiden technischen und wissenschaftlichen Fortschritts ereignet. Während der letztere zur enormen Steigerung der potentiellen Kapazität des Wirtschaftssystems beigetragen hat, Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs zu erzeugen, war es jedoch nicht gelungen, die höhere Produktivität in eine entsprechende Verringerung der globalen Armut umzusetzen.

Im Gegenteil: Kürzungen, Strukturmaßnahmen bei Unternehmen und die Verlagerung der Produktion in Billigarbeitsländer der Dritten Welt haben zu höheren Arbeitslosenzahlen und zu beträchtlich geringeren Einkünften bei Angestellten und Landwirten geführt. Diese neue internationale Wirtschaftsordnung lebt von der Armut der Menschen und von billigen Arbeitskräften: die hohe nationale Arbeitslosigkeit hat sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern ihren Beitrag zur Schwächung der Reallöhne geleistet. "Die Arbeitslosigkeit ist internationalisiert worden", auf der unentwegten Suche nach einem billigeren Angebot an Arbeitskräften wandert das Kapital von einem Land zum anderen.

Die Armut hat sowohl in den Entwicklungs- als auch in den Industrieländern überhandgenommen. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) betrifft die weltweite Arbeitslosigkeit eine Milliarde Menschen oder beinahe ein Drittel des globalen Arbeitskräftepotentials.

"Die Schaffung einer Überschußbevölkerung"

Die Isolation von nationalen Arbeitsmärkten gehört der Vergangenheit an: Arbeiter aus verschiedenen Ländern werden zueinander in offenen Wettkampf gebracht. Die Rechte der Arbeiter werden beschnitten, die Arbeitsmärkte dereguliert.

Die weltweite Arbeitslosigkeit funktioniert als Druckmittel, das die Kosten für Arbeitskräfte auf einer weltweiten Ebene "regelt": das reichhaltige Angebot an billigen Arbeitskräften in der Dritten Welt (zum Beispiel China mit geschätzten 200 Millionen überschüssigen Arbeitern) und im ehemaligen Ostblock trägt zur Senkung des Lohnniveaus in den Industrieländern bei. Davon sind praktisch alle Kategorien von Arbeitskräften betroffen (einschließlich hochqualifizierte Arbeiter, Fachkräfte und Wissenschafter).

Ferner schafft die wirtschaftliche Umstrukturierung eine große Kluft zwischen Nationalitäten, Gesellschaftsklassen und ethnischen Gruppen. In den Ländern selbst zersplittert sie den Arbeitsmarkt und zieht soziale Grenzen: zwischen weißen und schwarzen Arbeitern, zwischen Jung und Alt, zwischen Beschäftigten, Teilzeitbeschäftigten und Arbeitslosen . . .

Die globale Wirtschaft der billigen Arbeitskräfte

Globale Unternehmen halten die Kosten für Arbeitskräfte auf einem weltweiten Niveau möglichst gering. Die Reallöhne in der Dritten Welt und in Osteuropa sind um das Siebzigfache geringer als jene in den Vereinigten Staaten, Westeuropa oder Japan: aufgrund der Masse an billigen, verarmten Arbeitern weltweit sind die Möglichkeiten für die Produktion enorm.

Während die traditionellen Wirtschaftswissenschaften betonen, daß die "spärlichen Ressourcen" einer Gesellschaft verteilt werden müssen, steht die harte gesellschaftliche Realität im krassen Gegensatz zum herrschenden Wirtschaftsdogma: Industrieanlagen werden geschlossen, Klein- und Mittelbetriebe in den Konkurs getrieben, Facharbeiter und Staatsbeamte entlassen - menschliches und materielles Kapital befindet sich im Namen der "Wirtschaftlichkeit" im Leerlauf. Die Dynamik verläuft in Richtung einer "wirtschaftlichen" Nutzung gesellschaftlicher Ressourcen auf mikroökonomischer Ebene. Auf der Ebene der Makroökonomie jedoch ist die Situation genau umgekehrt: Ressourcen werden nicht "wirtschaftlich" genutzt - das bedeutet, daß der moderne Kapitalismus mit seinen großen brachliegenden Industriekapazitäten und mit Millionen von beschäftigungslosen Arbeitern völlig versagt, diese ungenutzten menschlichen und materiellen Ressourcen zu mobilisieren.

Die Anhäufung globalen Reichtums

Diese globale wirtschaftliche Umstrukturierung verschlimmert die Produktionsflaute bei Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs, während sie Ressourcen in Richtung lukrativer Investitionen in die Luxusgüterindustrie umleitet. Aufgrund des Versiegens der Kapitalbildung in produktiven Unternehmungen sucht man ferner Profit in immer spekulativeren und betrügerischeren Geschäften, die wiederum tendenziell Zerrüttungen auf den wichtigsten Finanzmärkten der Welt unterstützen.

Im Süden, im Osten und im Norden hat eine privilegierte gesellschaftliche Minderheit großen Reichtum auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit angehäuft. Die Zahl der Milliardäre ist in den Vereinigten Staaten alleine von 13 im Jahre 1982 auf 149 im Jahre 1996 angestiegen. Der "Klub der Milliardäre" (mit in etwa 450 Mitgliedern) bringt es auf ein weltweites Gesamtvermögen, das das Gesamt-Bruttoinlandsprodukt der Gruppe jener Länder mit geringem Pro-Kopf-Einkommen zusammen, in denen 56 Prozent der Weltbevölkerung leben, bei weitem übertrifft.

Ferner findet der Prozeß der Anhäufung von Reichtum zunehmend außerhalb der eigentlichen Wirtschaft und fern von aufrichtigen produktiven und geschäftlichen Aktivitäten statt. Laut Forbes "waren Erfolge auf dem Aktienmarkt der Wall Street [also im Spekulationshandel] für den größten Teil des Zuwachs an Millionären im letzten Jahr [1996] verantwortlich". Dann wieder werden Milliarden von Dollar aus Spekulationsgeschäften auf Geheimkonten bei den weltweit mehr als 50 Off-shore-Bankoasen geschleust.

Der Einbruch bei den Ausgaben der Privathaushalte In diesem System findet eine Produktionszunahme aufgrund einer "Herabsetzung der Beschäftigung" und einer Kürzung von Arbeiterlöhnen statt. Dieser Prozeß wiederum wirkt sich aus auf das Bedarfsniveau der Privathaushalte an Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs: unbeschränkte Produktionskapazitäten, beschränkte Konsumkapazitäten. In einer globalen Wirtschaft der billigen Arbeitskräfte trägt gerade der Prozeß der Produktionssteigerung (durch Kürzungen, Entlassungen und Niedriglöhne) zur Verringerung der Konsumkapazität einer Gesellschaft bei.

Die Tendenz geht daher in Richtung einer Überproduktion in einem noch nie dagewesenen Umfang. In diesem System kann mit anderen Worten eine Expansion nur durch eine gleichzeitige Freisetzung stilliegender Produktionskapazitäten stattfinden, nämlich durch den Konkurs und die Liquidierung "überschüssiger Unternehmen". Letztere müssen der fortschrittlichsten mechanisierten Fertigung weichen: ganze Industriezweige liegen still, die Wirtschaft ganzer Regionen ist betroffen, und nur ein Teil des weltweiten Agrarpotentials wird genutzt.

Dieses globale Überangebot an Waren ist eine direkte Folge der sinkenden Kaufkraft und der steigenden Armut. Das Überangebot trägt wiederum dazu bei, die Einkünfte der Direktproduzenten durch die Stillegung überschüssiger Produktionskapazitäten zu schmälern. Entgegen Says Gesetz der Märkte, das von den traditionellen Wirtschaftswissenschaften verkündet wird, "erzeugt das Angebot nicht seine eigene Nachfrage". Seit den frühen 1980ern hat die Überproduktion von Waren, die zum Sinken (realer) Warenpreise führt, eine große Zerstörung vor allem unter den Erstproduzenten der Dritten Welt angerichtet, (in letzter Zeit) aber ebenso im Fertigungsbereich.

Die Vernichtung von Kleinkapital

Expansion der Multis auf Kosten lokaler, regionaler und nationaler Produzenten

In den Entwicklungsländern werden ganze Industriezweige, die für den Binnenmarkt produzieren, ausgelöscht; der informelle städtische Sektor - der geschichtlich eine wichtige Rolle als Quelle für die Schaffung von Arbeitsplätzen gespielt hat - wird in der Folge von Währungsabwertungen und der Liberalisierung von Importen einschließlich Warendumping zerstört. In Afrika südlich der Sahara ist der informelle Sektor der Bekleidungsindustrie ausgelöscht und durch den Verkauf von gebrauchter Kleidung (die zu 80 Dollar die Tonne aus dem Westen importiert wird) ersetzt worden.

Vor dem Hintergrund einer Wirtschaftsflaute (einschließlich negativer Wachstumsraten, die man in Osteuropa, in der ehemaligen Sowjetunion und in Afrika südlich der Sahara nachgewiesen hat) haben die größten Unternehmen der Welt ein noch nie dagewesenes Wachstum und eine ebensolche Expansion ihres Anteils am Weltmarkt erlebt. Diese Entwicklung hat jedoch vor allem aufgrund der Ersetzung bereits bestehender Produktionssysteme stattgefunden - das heißt auf Kosten lokaler, regionaler und nationaler Produzenten. Die Expansion und "Rentabilität" der größten Unternehmen der Welt beruht auf einer globalen Ballung der Kaufkraft und der Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung.

"Überleben der Tüchtigsten": In einer Weltwirtschaft, die von Überproduktion gekennzeichnet ist, überleben jene Unternehmen, die über die fortschrittlichsten Technologien verfügen, oder jene, die die niedrigsten Löhne zahlen. Während sich die Gesinnung des anglo-sächsischen Liberalismus der "Förderung des Wettbewerbs" verpflichtet sieht, hat die makroökonomische Politik der G-7 (durch strenge Steuer- und Währungskontrollen) in der Praxis sowohl eine Welle von Unternehmensfusionierungen und -erwerbungen als auch den planmäßigen Konkurs von Klein- und Mittelbetrieben unterstützt. Dann wiederum haben große multinationale Unternehmen (vor allem in den USA und in Kanada) die Kontrolle über lokale Märkte (besonders auf dem Dienstleistungssektor) durch das Franchising-System an sich gerissen.

Auswirkungen der wirtschaftlichen Integration

Dieser Prozeß ermöglicht es, dem Großunternehmenskapital ("dem Franchiser"), die Kontrolle über menschliches Kapital, billige Arbeitskräfte und die Unternehmensleitung zu erlangen. Dadurch kann ein großer Gewinnanteil der Kleinfirmen und/oder des Einzelhandels in Besitz genommen werden, während der Großteil der Investitionsausgaben vom finanziell unabhängigen Produzenten ("dem Franchisee") übernommen wird.

Eine entsprechende Entwicklung läßt sich in Westeuropa beobachten. Der Prozeß der politischen Umstrukturierung in der Europäischen Union schenkt mit dem Vertrag von Maastricht zunehmend den herrschenden Finanzinteressen Beachtung, auf Kosten der Einheit der europäischen Gesellschaften. In diesem System sanktioniert die Staatsmacht bewußt die Entwicklung von Privatmonopolen: das Großkapital zerstört das Kleinkapital in all seinen Ausprägungen. . . Aufgrund der Tendenz zur Bildung von Wirtschaftsblöcken sowohl in Europa als auch in Nordamerika werden regionale und lokale Unternehmen ausgerottet, das Stadtleben transformiert und privates Kleineigentum ausgelöscht. "Freier Handel" und wirtschaftliche Integration gestatten dem globalen Unternehmen eine größere Beweglichkeit, während sie gleichzeitig den Fluß des lokalen Kleinkapitals (durch nicht-tarifäre und institutionelle Handelshemmnisse) unterdrücken. Obwohl die "wirtschaftliche Integration" (unter dem Einfluß des globalen Unternehmens) eine politische Einheit zur Schau stellt, fördert sie oft Parteigeist und soziale Spannungen zwischen und innerhalb von nationalen Gesellschaften.

III. Die Internationalisierung der makroökonomischen Reform

Die Verschuldungskrise

Die Umstrukturierung des globalen Wirtschaftssystems hat sich über mehrere Perioden seit dem Zusammenbruch des Systems der festen Wechselkurse von Bretton Woods im Jahre 1971 entwickelt. In den Jahren nach dem Ende des Vietnamkriegs begannen sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre auf den primären Warenmärkten Beispiele für Überangebot zu zeigen. Die Verschuldungskrise der frühen 1980er war vom gleichzeitigen Zusammenbruch der Warenpreise und dem Anstieg der Realzinssätze gekennzeichnet.

Die Zahlungsbilanzen der Entwicklungsländer befanden sich in der Krise; die Anhäufung riesiger Auslandsschulden lieferte internationalen Gläubigern und "Stiftern" ein "politisches Druckmittel", um auf die Richtung der makroökonomischen Politik auf Landesebene Einfluß zu nehmen.

Das Strukturanpassungsprogramm

Entgegen dem Geist der Vereinbarung von Bretton Woods im Jahre 1944, die auf dem "wirtschaftlichen Wiederaufbau" und auf der Stabilität der wichtigsten Wechselkurse basierte, hat das Strukturanpassungsprogramm (SAP) seit den frühen 1980ern weitgehend dazu beigetragen, die nationalen Währungen zu destabilisieren und die Wirtschaft der Entwicklungsländer zugrundezurichten.

Die Umstrukturierung der Weltwirtschaft unter der Führung der internationalen Finanzorganisationen mit Sitz in Washington und der Welthandelsorganisation (WTO) verunmöglicht einzelnen Entwicklungsländern zunehmend die Gründung einer nationalen Wirtschaft: die Internationalisierung der makroökonomischen Politik verwandelt Staaten in wirtschaftlich frei zugängige Territorien und nationale Wirtschaftssysteme in "Vorratskammern" für billige Arbeitskräfte und natürliche Ressourcen. Der Staatsapparat wird unterminiert, die auf den Binnenmarkt ausgerichtete Industrie wird zerstört und nationale Unternehmen werden in den Konkurs getrieben. Ferner waren diese Reformen der Ausschaltung der Minimallohn-Gesetzgebung, der Aufhebung von Sozialprogrammen und so weiter dienlich.

"Globale Überwachung"

Die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) im Jahre 1995 markiert eine neue Phase in der Entwicklung des Wirtschaftssystems nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen dem IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO) hat sich eine neue "dreigliedrige Gewaltenteilung" entfaltet. Der IWF hatte zu einer "effektiveren Überwachung" der Wirtschaftspolitik der Entwicklungsländer und zu einer stärkeren Zusammenarbeit der drei internationalen Organe aufgerufen, was auf eine weitere Beschneidung der Souveränität nationaler Regierungen hinausläuft.

Unter dem neuen Handelssystem (das aus dem Abschluß der Uruguay-Runde in Marrakesch im Jahre 1994 resultierte) muß die Beziehung der Organisationen mit Sitz in Washington zu den nationalen Regierungen neu definiert werden. Die Durchsetzung der Vorschriften der IWF/Weltbank wird nicht länger von speziellen Kreditvereinbarungen auf Landesebene (die keine "gesetzlich bindenden" Dokumente darstellen) abhängig sein. Fortan werden viele Bestimmungen des Strukturanpassungsprogramms (wie zum Beispiel die Liberalisierung des Handels und das vorherrschende System der ausländischen Investitionen) in der Satzung der neuen Welthandelsorganisation (WTO) verankert werden. Diese Klauseln werden die Grundlagen für die "Beeinflussung" von Staaten (und die Durchsetzung von "Bedingungen") gemäß internationalem Recht legen.

Die Deregulierung des Handels gemäß den Regeln der WTO, die neuen Klauseln, die sich auf die Rechte des intellektuellen Eigentums beziehen, etc. - all dies wird es multinationalen Unternehmen ermöglichen, lokale Märkte zu durchdringen und ihre Kontrolle über praktisch alle Bereiche der nationalen Industrie, der Agrarwirtschaft und des Dienstleistungsgewerbes auszudehnen.

Das "Multilateral Agreement on Investment" (Multilaterales Investitionsabkommen)

In diesem neuen wirtschaftlichen Umfeld spielen internationale, von Bürokraten unter zwischenstaatlicher Schirmherrschaft ausgehandelte Vereinbarungen bei der Umformung nationaler Wirtschaftssysteme, die der Verlagerung ganzer Produktionssysteme dienen soll, eine entscheidende Rolle. Das "Financial Services Agreement" (Abkommen über Finanzdienstleistungen) aus dem Jahre 1997, das unter der Verwaltung der WTO zustande gekommen ist, wie auch das geplante "Multilateral Agreement on Investment" (MAI) sorgen für das, was Beobachter eine "Charta der Rechte multinationaler Unternehmen" genannt haben.

Diese Abkommen erschweren es nationalen Gesellschaften, ihre Wirtschaftssysteme zu regeln. Unter der Schirmherrschaft der OECD bedroht das "Multilateral Agreement on Investment" (MAI) ferner Sozialprogramme auf staatlicher Ebene, Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Aktionen gegen die Diskriminierung von Minderheitsgruppen und Gemeindeinitiativen. Es führt mit anderen Worten zur Entmachtung der nationalen Gesellschaften, während globalen Unternehmen große Machtbefugnisse zugesprochen werden.

Verbriefte Rechte für globale Unternehmen

Ironischerweise unterstützt die Ideologie des "freien" Marktes eine neue Form von Staatsinterventionismus, die auf der bewußten Beeinflussung marktwirtschaftlicher Kräfte basiert. Ferner hat die Entwicklung globaler Organisationen auch zu einer Entwicklung von "verbrieften Rechten" für globale Unternehmen und Finanzorganisationen geführt. Der Prozeß der Durchsetzung dieser internationalen Abkommen auf nationaler und internationaler Ebene übergeht stets demokratische Prozesse. Unter dem Deckmantel der sogenannten "Kontrolle" und des "freien Marktes" verschafft der Neoliberalismus den politischen Machthabern eine zweifelhafte Legitimität.

Die Manipulation der Zahlen über die globale Armut hält nationale Gesellschaften davon ab, sich der Konsequenz einer geschichtlichen Entwicklung bewußt zu werden, die in den frühen 1980ern mit dem Ausbruch der Verschuldungskrise begonnen hatte. Dieses "falsche Bewußtsein" hat sich auf sämtlichen Ebenen kritischer Auseinandersetzungen und Diskussionen über Reformen des "freien" Marktes eingenistet. Dann wieder verhindert die intellektuelle Kurzsichtigkeit der traditionellen Wirtschaftswissenschaften ein Verständnis für die eigentliche Funktion des globalen Kapitalismus und für dessen destruktiven Einfluß auf den Lebensunterhalt von Millionen von Menschen. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen handeln nicht anders und klammern sich an den herrschenden Wirtschaftsdiskurs, ohne ernsthaft einzuschätzen, auf welche Weise sich die wirtschaftliche Umstrukturierung auf nationale Gesellschaften auswirkt und zum Zusammenbruch von Organisationen und zur Eskalation sozialer Konflikte führt.


Michel Chossudovsky ist Professor für Ökonomie an der Universität von Ottawa, und Autor von "The Globalisation of Poverty, Impacts of IMF and World Bank Reforms", Zed Books, London, 1997.


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