Junge Welt, 17.5.03

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Frankreich: G-8-Treffen soll zur Mobilisierung gegen sozialen Krieg genutzt werden

Von Bernard Galichon, Paris

Nach dem großen Erfolg der Demonstrationen gegen die Rentenreform und andere soziale Rückschritte in Frankreich in dieser Woche ist es riskant geworden, Prognosen zu treffen, welche Auswirkungen der G-8-Gipfel Anfang Juni in diesem Land haben wird. Einerseits haben gewerkschaftliche Aktivisten derzeit alle Hände voll zu tun mit den Mobilisierungen gegen die antisozialen Reformprogramme der Regierung Raffarin. So ist für kommenden Montag bereits ein erneuter Aktionstag der öffentlich Bediensteten angekündigt. Und am Sonntag nächster Woche will die Gewerkschaft CGT mehrere hunderttausend Protestierende aus ganz Frankreich zu einem zentralen Demozug in Paris aufrufen. Denn am 28. Mai soll das Kabinett den Gesetzentwurf zum Rentensystem verabschieden. Deswegen ist es möglich, daß der G-8-Gipfel in den Aktionskalendern vieler Gewerkschafter zwischen zahlreichen anderen Terminen untergeht. Andererseits könnte es auch zu einem gegenseitigen Verstärkungseffekt beider Mobilisierungen kommt.

Über das Ausmaß der Demonstration werden die letzten Tage vor dem 1. Juni entscheiden. Bisher haben die Gegenaktivitäten zum G-8-Gipfel vor allem zwei gesellschaftliche Träger: Zum einen die Antikriegsbewegung der letzten Monate, und innerhalb dieser Bewegung vor allem ihr linker bis linksradikaler Teil, der sich in den ACG-Kollektiven (Agir contre la guerre, Handeln gegen den Krieg) kristallisierte. Die ACG-Gruppen im Großraum Paris sind derzeit führendi, wenn es um das Organisieren von Busreisen in Richtung Annemasse/ Evian am letzten Maiwochenende geht. Das zweite Standbein ist bisher das globalisierungskritische Spektrum rund um die Organisation ATTAC. Dabei wird die Frage der Orientierung der Proteste aufgeworfen, denn bisher bleibt ATTAC Frankreich bei ihrer »Janusköpfigkeit« . Sie versucht einerseits, Träger einer sozialen Bewegung (in ihr sind zahlreiche Gewerkschaften organisiert) zu sein. Andererseits möchte ATTAC aber auch gern als »Politikberater« ernst genommen werden, der den etablierten Politikern den Weg weist, wie diese Spielräume der (nationalstaatlichen) »Regulierung« gegen die »entfesselten Märkte« wiedererlangt werden.

Mit diesem Zwiespalt spielt derzeit auch die konservative Regierung. Sie setzt ihrerseits auf eine Doppelstrategie: Einerseits versucht sie soziale Bewegungen und Organisationen möglich fest einzubinden. So empfing Staatspräsident Jacques Chirac am 30. April Abordnungen, die eine große Spannbreite sozialer Organisationen vertreten. Das Spektrum reichte von Vereinigungen von Kommunalparlamentariern, über das Rote Kreuz, Amnesty International und über katholische Organisationen der Dritte-Welt-Solidarität bis hin zu ATTAC, Greenpeace oder die AIDS-Hilfeorganisation Act Up. Dabei strich Chirac seine eigene Sorge um das Wohlergehen des Südens, seine Bemühungen um weltweite Demokratie usw. heraus. Aus diesem Anlaß fiel der seit einem halben Jahr amtierende französische Attac-Vorsitzende Jacques Nikonoff - je nach Sichtweise unangenehm oder nicht - auf, als er dem Präsidenten zunächst zu dessen Position im Golfkrieg gratulierte und ihm noch nachträglich die »volle Unterstützung« seiner Vereinigung aussprach. Das wurde nicht besser dadurch, daß Nikonoff - der Wirtschaftswissenschaftler gehört der KP an, in der er einen von den Strömungen unabhängigen, individuellen Standort einnimmt - Chirac danach aufforderte, seine »Aktion gegen den US-Krieg« jetzt auch auf die Innenpolitik zu übertragen. Nämlich, indem er dafür Sorge trage, daß die Sozial- und Wirtschaftspolitik nicht vom »angelsächsischen Liberalismus« inspiriert werde.

Auf der anderen Seite werden die Sicherheitsvorkehrungen rund um den G-8-Tagungsort verschärft. In einem Umkreis von über 20 Kilometern um Evian wird eine »rote Zone« eingerichtet, die als Sperrgebiet gilt. Vorgefertigte Schnellbauten werden derzeit in der Nähe des Genfer Sees installiert, um das Festhalten einer größeren Zahl von Personen zu ermöglichen. Denn eine Reihe von Gruppen wird dennoch versuchen, nach Evian zu gelangen, um vom 1. bis zum 3. Juni den Ablauf des Gipfels zu beeinträchtigen. Zugleich wurde bereits publik, daß »schwarze Listen« von politisch verdächtigen EU-Bürgern angewendet würden, denen - als »Demotouristen« - die Einreise nach Frankreich verweigert würde. Ähnliches wurde auch in der Schweiz bekannt.

Die Gegenaktivitäten werden aufgrund der widrigen örtlichen Gegebenheiten nicht im - auf drei Seiten durch die Berge oder den See unzugänglichen - Evian, sondern im rund 30 Kilometer entfernten Annemasse stattfinden. So das »alternative intergalaktische Dorf« , bei dem es um Themen wie die jüngsten imperialistischen Kriege, um die Ausplünderung des Südens, aber auch um den Abbau sozialer Rechte im Norden gehen soll. Höhepunkt der Protestaktionen wird die Demonstration am 1. Juni zwischen Genf und Annemasse sein.


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