Neues Deutschland, 28.5.03

Genf: 100000 bei Aktionen gegen G8-Gipfel erwartet

Attac-Zug fährt heute von Berlin zum Treffen des « Clubs der Reichen »

In Evian, in der Nähe von Genf, treffen sich die Regierungschefs der reichsten Industrieländer. Globalisierungskritiker wollen vor Ort für eine sozial gerechte Welt demonstrieren.

Berlin (ND-Rex). Rund 100000 Teilnehmer erwarten die Organisatoren der Gegenaktionen zum Gipfeltreffen des « Clubs der Reichen » (G8) am Genfer See. Wie die bundesdeutschen Organisatoren von Attac am Dienstag in Berlin mitteilten, startet ein Protestzug mit 1000 Teilnehmern am heutigen Mittwoch von Berlin aus nach Genf. Der Sonderzug soll in Berlin-Lichtenberg um 16.54 Uhr und am Bahnhof Zoo um 17.26 Uhr abfahren. Bis eine Stunde vor Abfahrt könnten noch Tickets erworben werden, versicherten die Veranstalter. Der Zug hält in 15 Städten, unter anderem in Magdeburg, Hannover, Dortmund und Karlsruhe. Weitere 1000 deutsche Teilnehmer wollen mit Bussen zum Genfer See fahren, andere würden sich auf eigene Faust in die Region begeben.

In mehreren Städten am Genfer See sind von Mittwoch bis Sonntag Demonstrationen, Kundgebungen, Konferenzen, Rock- und andere Konzerte sowie Filmveranstaltungen geplant. In Evian bauen die Demonstranten ein Zeltlager auf.

Der G8-Gipfel beginnt am Sonntag im französischen Thermalbad Evian am Südufer des Genfer Sees. Der Gipfel solle die Privatisierung der Trinkwassersysteme und anderer öffentlicher Güter vorbereiten sowie die Militarisierung der Politik fortsetzen, erklärte Philipp Hersel für Attac am Dienstag in Berlin. Die Gegenveranstalter wollen außerdem gegen den Sozialabbau in Europa mobilisieren.

Der Schweizer Jean Ziegler wies ebenfalls in Berlin auf die Gefahren hin, die durch die « funktionierende Globalisierung » entstünden. Seit dem Ende des Ostblocks habe sich das Weltsozialprodukt verdoppelt. Gleichzeitig wüchsen « die Leichenberge » der Opfer neoliberaler Politik. Laut UN-Statistiken könnten auf der Erde nicht nur die sechs, sondern sogar zwölf Milliarden Menschen normal ernährt werden. Wer heute an Hunger sterbe, werde von den Profiteuren der Globalisierung ermordet, schlussfolgerte Ziegler.

Teilnehmer des ökumenischen Kirchentages in Berlin wollen den Protestzug von Attac heute auf dem Bahnhof Zoo verabschieden, berichtete Sprecher Heiko Lietz. Am Freitag soll vom Kirchentag eine Grußbotschaft an den Gegengipfel angenommen werden. Darin wenden sich Kirchentagsteilnehmer gegen Gewalt, internationalen Terror und Kriege. Sie fordern eine sozial gerechte und umweltverträgliche Wirtschaftsform.

Neues Deutschland, 28.5.03

Zahlen und Fakten zum G 8-Gipfel

Globalisierungskritiker planen parallel zum offiziellen G8-Gipfel in Evian eine Reihe von Protestaktionen:

Intergalaktik-Camp vom 28. Mai bis 3. Juni

Am 28. Mai startet in Deutschland ein Sonderzug, für den mit 1000 mitreisenden Gipfelgegnern gerechnet wird. Die Rückfahrt ist für den 2. Juni geplant

Unter dem Titel « Gipfel für eine andere Welt » findet ab dem 29. Mai in Annemasse, Centre Martin Luther King, ein Gegengipfel statt.

Im Maison du Faubourg, Rue des Terreaux-du-Temple 8, Genf finden am 30. Mai mehrere Podiumsdiskussionen statt.

Ein weiterer Gegengipfel unter dem Titel « Schuldentribunal » findet am 31. Mai in Genf statt.

Für den 31. Mai sind überall am Genfer See Protestfeuer geplant.

Am 1. Juni sind Großdemonstrationen in Genf und Annemasse geplant

Der offizielle G8-Gipfel von 1. bis 3. Juni in Annemasse, Genf und Lausanne soll blockiert werden.

Infos unter: www.g8illegal.org und www.attac.de/evian

Neues Deutschland, 28.5.03

Kein Kampf um die « Rote Zone« 

Ziviler Ungehorsam, Blockaden und dezentrale Aktionen statt Stürmungsversuch

Von Susanne Götze

Wenn sich ein Mal jährlich die Regierungschefs der führenden Industrienationen zum G8-Plausch treffen, lässt der Protest von Gewerkschaften, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen sowie linken Gruppen nicht lange auf sich warten. In Evian werden nach italienischen und französischen Schätzungen 100000 Gipfelgegner aus ganz Europa erwartet.

Sie sind acht - wir sind Millionen! Unter diesem Motto wollen in den kommenden Tagen tausende Menschen gegen den G8-Gipfel in Evian demonstrieren. Doch der Protest soll weit über eine Demonstration hinausgehen. Während der offizielle Gipfel erst vom 1. bis 3.Juni stattfindet, richten sich die Gegner schon ab Donnerstag im nahe gelegenen Annemasse auf die Ankunft der mächtigsten Männer der Welt ein.

Aus Deutschland werden mehrere tausend Teilnehmer erwartet, die mit einem von Attac organisierten Zug oder mit Bussen und Pkw anreisen werden. Attac-Sprecher Malte Kreutzfeldt ist mit der bisherigen Resonanz zufrieden, obwohl noch nicht alle Plätze in den Bussen und im Zug belegt sind. « Die Proteste gegen den Irak-Krieg haben die alternative Bewegung in Deutschland gestärkt« , ist er sich sicher. Der letzte G8-Gipfel habe zwar durch die offene Gewalt der Polizei unter einigen politisch Aktiven für Abschreckung gesorgt, dennoch könne man aufgrund der jüngsten Ereignisse von einer breiten Politisierung bei jungen Leuten sprechen. Den italienischen und französischen Veranstaltern hingegen falle die Mobilisierung von Aktivisten generell entschieden leichter, so Kreutzfeldts Eindruck.

Auffallend ist, dass sich die Medien im Vorfeld des Gipfels über den Aufruf zum Protest ausschweigen. Dabei hat sich die Situation seit Genua eher noch verschärft: Die « Fronten » sind klarer geworden, der Krieg in Irak scheint die Bedenken der Protestierenden bestätigt zu haben.

An Themen mangelt es den Aktivisten auch dieses Mal nicht: Angefangen von der Kritik der deutschen Gewerkschaften an der Schröder-Agenda 2010, die zum Symbol für den europaweiten Sozialabbau geworden ist, über die Forderung nach Entschuldung von Entwicklungsländern - ein Tagespunkt übrigens, der in Genua ergebnislos vertagt wurde -, bis hin zu Forderungen, US-Präsident George Bush vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu stellen.

 »Ein wichtiger Schwerpunkt von Attac ist die weltweite Privatisierung von Wasser« , ergänzt Kreuzfeldt. Die Stadt Evian - nach der sich die gleichnamige französische Mineralwasserfirma benannte - sei ein Symbol für die Kommerzialisierung der lebenswichtigen Ressource. Paris gilt als Befürworter der Liberalisierung des Wassermarktes, besonders in Entwicklungsländern. Auffallend ist außerdem, dass gerade Frankreichs Präsident Jacques Chirac, dem einheimische Versorger wie Suez und Vivendi im Nacken sitzen, die « Menschheitsfrage » des Wasser auf die Tagesordnung gestellt hat. Hinter der Fassade des entwicklungspolitischen Ansatzes, bis 2015 die Anzahl der Menschen ohne Trinkwasserzugang zu halbieren, steht nach Meinung des Attac-Wasser-Experten Thomas Fritz der Ausverkauf der öffentlichen Wasserversorgung.

Ebenso wie der Kampf um die öffentliche Daseinsvorsorge, ist für Attac die Situation in Irak ein zentraler Punkt. « Wir werden mit ansehen müssen, wie die Europäer vor Bush zu Kreuze kriechen« , prognostiziert Kreutzfeldt. Der G8-Gipfel dient seiner Ansicht nach vor allem zur Neuaufteilung des Wirtschaftsraumes im zerstörten Irak.

Neben Attac organisieren Umweltschutzverbände, Entschuldungsinitiativen bis hin zu antifaschistischen Jugendgruppen ein selbstverwaltetes « Intergalaktisches Camp« , in dem die Gipfelgegner untergebracht sind und das im Vorfeld zahlreiche Informationsveranstaltungen, Diskussionen und Workshops anbietet. « Dieses Camp soll ein Zeichen sein, dass eine andere Welt möglich ist« , schwärmt der Attac-Sprecher. Das Camp teilt sich in fünf Zonen - angefangen vom grünen Bereich, in dem Umweltverbände untergebracht werden sollen, bis hin zum orangenen Bereich, der « ungehorsamen » Gruppen für fünf Tage ein Zuhause bietet. Zu diesen zählt sich übrigens auch Attac. Doch Kreutzfeldt betont, dass es sich hier « maximal » um zivilen Ungehorsam handeln werde. Polizeischlachten wie in Genua wolle man dieses Mal verhindern. Erklärtes Ziel der radikaleren Demonstranten sei es diesmal nicht, die « Rote Zone » - das abgesperrte Gebiet um die G8-Konferenz - zu stürmen, sondern durch Blockaden und dezentrale Aktionen auf Zufahrtsstraßen auf sich aufmerksam zu machen.


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