taz Berlin, 30.5.03

"Die Reise soll uns inspirieren"

300 Berliner Globalisierungskritiker sind mit einem Sonderzug auf den Weg zum G-8-Gipfel nach Evian. Mit dabei ist auch Pedram Shahyar (30), Student an der Freien Universität und Mitglied bei der Berliner Sektion von Attac

taz: Herr Shahyar, sind Sie ein Gipfel-Tourist?

Pedram Shahyar: Nein, bin ich nicht. Der Gipfelprotest ist keine Sache von Tourismus. Er macht schon viel Spaß, es ist ein nettes Come-Together. Aber wir fahren schon noch aus politischen Gründen nach Evian.

Und die wären?

In Evian treffen sich die Repräsentanten der politischen und wirtschaftlichen Weltordnung. Wir finden diese Weltordnung inhuman und wollen ein Zeichen setzen für eine menschlichere und sozialere Welt.

Ist der soziale Protest am Sonntag beim SPD-Parteitag im Hotel Estrel nicht viel nahe liegender?

Das ist ein ganz wichtiger Protest. Wir von Attac mobilisieren auch dafür. Wir wollen aber Evian und den SPD-Parteitag nicht gegeneinander ausspielen. Alle von uns, die nicht nach Evian fahren, werden beim SPD-Parteitag sein. Geplant ist auch eine telefonische Live-Schaltung, auf der wir uns gegenseitig von unseren Aktionen berichten werden.

Glauben Sie nicht, dass Attac mit dem Sonderzug nach Evian viel Protestpotenzial gegen die Agenda 2010 beim SPD-Parteitag abschöpft?

Nein. Aus Berlin fahren 300 Leute nach Frankreich. Die fehlen zwar, aber es ist keine Summe, die den Protest in Berlin schwächen wird.

Warum haben Sie sich für Evian entschieden und nicht für den SPD-Parteitag?

Ich fahre nach Evian, weil ich auf globaler Ebene ein Zeichen setzen möchte. Unser Nein zur G-8-Politik wird auch die Menschen in Australien, Lateinamerika und Asien erreichen. Außerdem finde ich die internationalen Proteste inspirierend. Wir kommen in Kontakt mit AktivistInnen aus Ländern, wo die sozialen Bewegungen viel stärker sind als in Deutschland.

Was bringt der soziale Protest der anderen Länder den Sozialhilfeempfängern in Berlin?

Hinter der Agenda 2010 steckt die Logik der weltweiten, neoliberalen Politik. Das ist eine Agenda, die momentan auf der ganzen Welt umgesetzt wird. Rentenkürzungen treiben gerade auch die Menschen in Österreich und Frankreich in Massen auf die Straße. Wir in Berlin sind nicht die Einzigen, die mit diesen Problemen konfrontiert sind. Deshalb ist es auch mal wichtig, auf einem globalen Happening gegen den Neoliberalismus auf die Straße zu gehen.

Die Massenproteste gegen den Sozialabbau fehlen aber gerade in Deutschland. Sollte nicht zuerst der Protest vor Ort vergrößert werden, bevor man in die große weite Welt zieht?

Unser Protestpotenzial hier ist längst nicht so ausgeprägt wie in Frankreich. Das stimmt. Evian bietet aber den BerlinerInnen, die dort hinfahren, die Möglichkeit zu diskutieren, an Workshops teilzunehmen, sich untereinander besser kennen zu lernen und von der Protestkultur der anderen Ländern zu lernen. Wir kommen gestärkt zurück, um besser in das lokale Geschehen einzugreifen. Wir werden viele Studierende sein, die nach Evian fahren. Ganz sicher fallen uns dort auch neue kreative Aktionen gegen den anstehenden Bildungsabbau hier in Berlin ein.

INTERVIEW: FELIX LEE
Junge Welt, 30.5.03


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