Die Welt, 2.6.03

Chirac plädiert in Evian für eine "multipolare Welt"

Frankreichs Staatspräsident will sich mit eigenen Akzenten vom "Alleingänger USA" distanzieren

von Jochen Hehn

Evian - Im luxuriösen Ambiente des französischen Touristenortes Evian am Genfer See ist an diesem ersten Tag des Gipfeltreffens der sieben mächtigsten Industriestaaten und Russlands (G 8) der unangefochtene Star ein Nobody: Afrika, der vergessene, marginalisierte Kontinent, dem dank der ausgeklügelten Gipfelregie der französischen Gastgeber die ungeteilte Aufmerksamkeit der führenden Industriestaaten zuteil wird. Evian solle nicht als "Gipfel der Reichen für die Reichen" in die Geschichte eingehen, hatte Frankreichs Präsident Jacques Chirac schon im Vorfeld die Losung ausgegeben und bewusst außer den G-8-Staaten auch die Staats- und Regierungschefs aus 14 "aufstrebenden Staaten" geladen, unter ihnen gleich fünf Vertreter des vernachlässigten Schwarzen Kontinents - die Präsidenten von Südafrika, Nigeria, Ägypten, Algerien und dem Senegal.

Dass er mit dieser Vorgehensweise auch seiner Anschauung von einer "multipolaren Welt" Nachdruck verleihen und sich von dem, wie Paris meint, zunehmend im Alleingang handelnden Washington abheben will, versteht sich von selbst. Doch der amerikanische Präsident George W. Bush ist ein ebenbürtiger Spieler auf dem diplomatischen Parkett. Er hat die Herausforderung Chiracs angenommen, der sich früher als andere westliche Politiker als Fürsprecher Afrikas in Szene setzte. Noch vor dem G-8-Gipfel verabschiedete der US-Kongress eine internationale Aids-Hilfe von 15 Milliarden US-Dollar. Damit soll in den nächsten fünf Jahren die heimtückische Krankheit bekämpft werden, an der allein in Afrika 28 Millionen Menschen leiden. In der westlichen Welt sind es "nur" 1,5 Millionen. Nun sollten die Europäer, fordert Bush, seinem guten Beispiel folgen und ähnliche Anstrengungen unternehmen.

Für den von Bürgerkriegen, Armut, Hunger und Krankheit heimgesuchten afrikanischen Kontinent könnte es ein Segen sein, sollte der plötzliche Tatendrang, den Chirac und Bush an den Tag legen, Schule machen. Im vergangenen Jahr beim G-8-Gipfel im kanadischen Kananaskis war Afrika schon einmal das zentrale Thema gewesen. Auch an Absichtserklärungen, dem Kontinent zu helfen, mangelte es nicht. Doch keines der gesetzten Ziele wurde auch nur annähernd erreicht. Im Gegenteil.

Während in fast allen Ländern der Dritten Welt die Armut zurückgeht, hat sie in Afrika sogar zugenommen. Nach Angaben der UNO werden dort im Jahre 2015 mehr als 400 Millionen Menschen in bitterer Armut leben. 1999 waren es noch 315 Millionen. Das dort herrschende Elend kann durch die Statistik nur unzureichend wiedergegeben werden. Die Lebenserwartung beträgt in Afrika 48 Jahre, während sie in den G-8-Staaten bei 78 Jahren liegt. Jedes Jahr sterben dort 4,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren, 3000 täglich allein an Malaria, einer Krankheit, die schon durch die Bereitstellung von Moskitonetzen erfolgreich bekämpft werden könnte. Doch dafür fehlt das Geld. Während 291 Millionen Afrikaner mit weniger als einem Dollar täglich auskommen müssen, wird in der EU jede Kuh täglich mit zwei Dollar subventioniert. 45 Prozent der afrikanischen Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. "Die Vereinigten Staaten und Großbritannien haben 70 Milliarden Dollar für den Krieg gegen den Irak aufgebracht. Warum können sie keine 25 Milliarden finden, um die Armut in Afrika zu halbieren und jedem Kind einen Schulbesuch zu ermöglichen?", fragt die Hilfsorganisation Oxfam.

Zu mehr Solidarität mit Afrika, aber auch mit anderen Staaten der Dritten Welt hat auch UN-Generalsekretär Kofi Annan die führenden Industriestaaten aufgefordert. Dringend notwendig seien eine erhebliche Aufstockung der Entwicklungshilfe und ein Abbau von Handelsschranken.

Auch die Zehntausenden von Globalisierungsgegnern der Gruppe Attac, die lautstark gegen den G-8-Gipfel demonstrierten, sind der Auffassung, dass die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich auf das mangelnde Engagement der führenden Industrieländer zurückzuführen ist. Zumindest akustisch waren ihre Proteste in Evian nicht zu hören. Mehr als 15 000 Polizisten und Gendarmen hatten den Gipfelort in eine uneinnehmbare Festung verwandelt. Bei einer Protestaktion wurde ein Demonstrant schwer verletzt. Wie die Polizei mitteilte, stürzte der Mann beim Versuch, sich von einer Autobahnbrücke abzuseilen, zu Boden.


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