Neues Deutschland, 2.6.03

Ökonomische Gerechtigkeit statt Almosen

4000 Teilnehmer diskutierten auf Gegengipfel über Schuldenerlass, Menschenrechte und Waffenkontrolle

Von Susanne Götze

Nach drei Tagen ist im französischen Annemasse der G8-Gegengipfel « Summet pour un autre monde » zu Ende gegangen. Am Montag wollen die Veranstalter Staatspräsident Jacques Chirac einen Forderungskatalog für eine gerechtere Weltordnung überreichen, der in den letzten Tagen in den Foren und Workshops ausgearbeitet wurde.

Die G8 haben kein Recht, für den Rest der Welt zu entscheiden« , sagte der Veranstalter Gabriel Fallin bei der Abschlusskundgebung im Martin-Luther-King-Zentrum in Annemasse vor mehreren hundert Leuten. « Wir haben in den letzten Tagen bewiesen, dass sich die Welt demokratisch verändern lässt« , rief er der begeisterten Menge zu. Allein in Annemasse nahmen über 4000 Menschen am G8-Gegengipfel teil. In 12 Workshops und in 12 Foren setzten sich Vertreter aus Entwicklungsländern, Nichtregierungsorganisationen und einfache Bürger zusammen, um Lösungsansätze für eine alternative Weltordnung zu entwickeln.

Die Forderungen an die acht Regierungschefs haben die Teilnehmer in vier Themenfelder unterteilt: Demokratie, Verantwortung, Sicherheit, Solidarität. Beim Thema Demokratie wurde das Treffen der führenden Industrienationen kritisiert: Diese seien nicht dazu legitimiert, Entscheidungen in einem derart intransparenten Rahmen zu treffen. Die Vertreter des Forums betonten, dass den Entwicklungsländern die demokratische Selbstbestimmung durch ökonomische Zwänge und politische Entmündigung genommen sei. Die Autonomie der Staaten werde immer mehr eingeschränkt, je stärker sich die Kluft zwischen dem reichen Norden und dem schwachem Süden vergrößere. Durch die Abhängigkeit von Krediten und Wettbewerbsbedingungen, so der Vorwurf, bliebe den Ländern keine andere Chance, als sich dem neoliberalen Modell zu beugen.

Unabdingbar sei daher der Schuldenerlass für die wirtschaftlich schwachen Länder, um ihnen eine selbständige Entwicklungsperspektive zu bieten. Auch die Ursachen des Terrors seien aus dieser Perspektive zu betrachten. Irene Khan von Amnesty International wies darauf hin, dass sich die Vertreter der führenden Industriestaaten nicht die Mühe machen würden, nach den Ursachen des Terrors zu suchen: « Terror darf nicht mit Terror bekämpft werden« . Die Folge der Politik der G8-Nationen sei, dass die Unsicherheit der Menschen weltweit auf dem Stand des Kalten Krieges angelangt sei.

Die Menschenrechte würden mehr und mehr zugunsten von Anti-Terror-Paketen vernachlässigt. Auffallend sei, dass in keinem einzigen der G8-Dokumente die Menschenrechte erwähnt werden. Khan forderte die Teilnehmer der offiziellen G 8-Konferenz auf, stärkere Waffenkontrollen durchzuführen und sich mit den andauernd schwelenden Krisen- und Kriegsgebieten wie Tschetschenien auseinander zu setzen, die in den Verhandlungen immer wieder vernachlässigt würden.

Im Themenfeld Solidarität forderten die Teilnehmer des Gegengipfels die Durchsetzung fundamentaler Rechte für die Entwicklungsländer. Es gehe nicht um Wohlfahrt und Almosen durch die Industrieländer, sondern um ökonomische Gerechtigkeit und politische Gleichberechtigung. Durch das neoliberale Modell fehle den Ländern der politische Spielraum, um dringende Probleme in ihrem Land zu lösen. Immer noch würden pro Tag 10000 Menschen weltweit an Aids sterben, oftmals weil die Medikamente zur Linderung der Krankheit unerschwinglich sind.

Da das Treffen der Acht im französischen Evian stattfindet, in dem die gleichnamige Wassermarke ihre Heimat hat, steht die Kommerzialisierung von Wasser ganz oben im Forderungskatalog. Die G8 müssten sich darüber im Klaren sein, dass sie die Verantwortung für die Vermarktung der öffentlichen Daseinsvorsorge tragen. In diesem vierten Themenfeld schlugen die Teilnehmer vor, die Privatisierung stärker zu kontrollieren und Bereiche wie Umwelt-und Entwicklungspolitik beispielsweise durch die Besteuerung von Devisen zu finanzieren. So solle man statt der Privatisierung der öffentlichen Wasserbetriebe die Versorgung und Ausweitung von Wasseranschlüssen in den Entwicklungsländern durch diese Steuer finanzieren.

Die Lösungsansätze sind nach Angaben der Direktorin des Zentrums, Francoise Vanni, schon ein Vorgriff auf die anstehende Welthandelsrunde in Cancun (Mexico) im September dieses Jahres, bei der vor allem über das Dienstleistungsabkommen GATS verhandelt werden soll. Heute nachmittag nehmen die Delegierten des Forums schließlich den Termin mit Jacques Chirac wahr, um ihm die Forderungen zu überreichen, verkündete Vanni.


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