Stuttgarter Zeitung, 2.6.03

Das wütende Protestgebrüll hört niemand in Evian

So viel Sicherheit war noch nie. Die massive Präsenz von Soldaten und Polizei hat die befürchteten Krawalle zum Auftakt des G-8-Gipfels unmöglich gemacht. Nur vereinzelt flammt Gewalt auf.

Von Christopher Ziedler, Evian

Wer den Mächtigen der Welt die Stirn bieten will, muss früh aufstehen. Es ist vier Uhr morgens. Für die Globalisierungsgegner, die sich zu zigtausenden rund um den Genfer See verabredet haben, bricht der Tag X an. Aus hunderten von Zelten ihres "Intergalaktischen Dorfes" in Annemasse kriechen müde Gestalten und sammeln sich am Ausgang zur Straße hin. Ihr Plan: mit einer Blockade der Zufahrtswege nach Evian den Gipfelbeginn stören und verzögern. Dass Staatschefs wie US-Präsident George W. Bush nach der Landung in Genf mit dem Hubschrauber den 40 Kilometer entfernten Konferenzort ansteuern und viele Delegierte vom schweizerischen Lausanne aus mit dem Schiff übersetzen, ficht die Protestler nicht an: "Tausende Delegierte und Serviceleute können nicht alle aus der Luft kommen", mutmaßt das Attac-Mitglied Lukas Engelmann. Er hofft, dass alles so gut klappt wie einstudiert. Als hunderte Zeltstadtbewohner im Sitzstreik auf der Wiese locker die Angriffe ihrer Mitstreiter parierten, die mit Küchenkrepprollen bewaffnet Schlagstock schwingende Polizisten mimten.

Die Praxis freilich sieht anders aus. Nicht alle 2000 Frühaufsteher begnügen sich mit dem Sitzstreik. Ein paar hundert Radikale sammeln an der Böschung Holz und setzen die damit gebaute Barrikade in Brand. Die Polizei reagiert, will einen Vormarsch Richtung Evian verhindern. Aus hundert Meter Entfernung hält sie die Blockierer mit stundenlangen Tränengassalven in Schach. Die Augen brennen unerträglich, jeder Atemzug schmerzt. Doch die meisten Demonstranten bleiben. "Ich weiß nicht, wie die das aushalten", sagt Attac-Sprecher Malte Kreutzfeldt, der sich in den Büschen verschanzt. Schon fahren hier keine Autos mehr, die Polizei leitet um. An den Kontrollposten vorbei rücken Militärlastwagen ins Kampfgebiet nach.

Während rund um den Genfer See die Proteste toben, in Lausanne Autonome ein Geschäft und eine Tankstelle plündern, in Genf fünf Brücken besetzt sind und Bankiers den Schaden des Vorabends begutachten, gleicht Evian dem Auge des Orkans. Auch vom Beginn der Großdemonstration, deren beide Züge in Genf und Annemasse starten und sich später an der französisch-schweizerischen Grenze vereinen, bekommt hier keiner etwas mit. Im berühmten Mineralwasserort herrscht gespenstische Stille.

Das Freibad bleibt fast zum Trotz geöffnet. Es ist bestens besucht, wie die Frau am Kassenhäuschen versichert: "Wo sollen die Menschen aus Evian auch hin, bei all den Kontrollen." Alle Einwohner des 7500-Seelen-Städtchens, die älter als 13 Jahre alt sind, mussten sich im Vorfeld auf der Polizeiwache registrieren lassen. Der 27-jährige Mario und seine schwangere Frau Axelle haben sich auf der Liegewiese ausgebreitet und machen auf Normalität. Dass im Nachbargebäude eine halbe Kompanie französischer Bodentruppen untergebracht ist und ein olivgrünes Tarnnetz die beiden Sprungtürme in den See bedeckt, nehmen sie Schulter zuckend zur Kenntnis. Axelle winkt den Marinetauchern zu. Einer von ihnen winkt zurück.

Keine 500 Meter weiter, entlang der leergefegten Strandpromenade, befindet sich der Landungssteg. Hier empfängt Frankreichs Präsident Jacques Chirac die afrikanischen Staatenlenker, die auf der anderen Seeseite nächtigen, übers Wasser kommen und anschließend zum Hotel Royal geleitet werden. Jedes Schiff hat mindestens zwei Marineschlauchboote im Schlepptau, auf Deck stehen zwei Dutzend Soldaten und Polizisten - mit der Maschinenpistole im Anschlag.

Es ist der Tag der 24 000 Sicherheitskräfte, nicht der der Globalisierungsgegner: Die 26 Straßensperren blocken alles ab, was gefährlich werden könnte; 900 Beamte des Bundesgrenzschutzes trotzen auf dem Genfer Flughafen der Sprachbarriere und bewachen Bushs Ankunft; in den steil hinter Evian aufragenden Alpen halten sich weitere Tausendschaften in Reserve; die Beamten sind gelöst, haben alles im Griff: "Wenn Sie dort links abbiegen", rät ein Motorradpolizist, "sind Sie schneller bei der Demonstration, Monsieur."

"G-8 illegal!" "Sie sind acht, wir sind Milliarden!" So viele sind es bei weitem nicht, die dem Weltwirtschaftsgipfel die Legitimation absprechen, über die Geschicke der Menschheit zu befinden, und diese Botschaft in lautes Parolengebrüll packen. Die Schätzungen schwanken zwischen 20 000 und 120 000 Globalisierungsgegnern. Dass sie im fernen Evian niemand hört, ist ihnen dabei durchaus bewusst: "Mehr als symbolischer Protest ist diesmal kaum möglich gewesen", sagt Lukas Engelmann. Anders als in Genua ist die rote Zone, gegen die sie anrennen könnten, weit weg. Dementsprechend harmlos nehmen sich die Schäden aus. Von Verletzten hat niemand etwas gehört.

Und weil sich auch die Polizei in den Seitenstraßen bedeckt hält, gerät die Demonstration zum bunten Spektakel: Frankreichs Kommunisten skandieren die Internationale, die Unterstützer von Linksruck haben ihre Hände blutrot gefärbt und fordern "Globale Gerechtigkeit statt globalem Krieg", "Ärzte ohne Grenzen" beklagen mit einem Straßentheater, dass den Entwicklungsländern das Geld für die teure Medizin aus dem Westen fehlt, und am Straßenrand stehen nach der Gewaltorgie von Genua offizielle Beobachter von Amnesty International, die nach neuerlichen Menschenrechtsverletzungen der Polizei Ausschau halten. Am frühen Abend sind ihre Notizblöcke noch immer blütenweiß.

Die Straßenblockade nach Evian zeigt ebenfalls erste Auflösungserscheinungen. Obwohl sie den ordnungsgemäßen Beginn des G-8-Gipfels ganz und gar nicht gefährdet haben, geben sich die Globalisierungsgegner dennoch zufrieden. Zumindest ein paar Delegierte mussten die Umleitung nehmen.


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