Frankfurter Rundschau, 3.6.03

"Über Millionen Menschen, die jährlich sterben, redet keiner"

Philipp Hersel von Attac über Ausschreitungen am Rande von Evian, strukturelle Gewalt und totgeschwiegene Opfer der Weltwirtschaftsordnung

Von "schweren Ausschreitungen" am Rande des G-8-Gipfels in Evian ist viel berichtet worden, weniger aber über die Inhalte der Globalisierungskritiker, die unweit des Treffens der Mächtigen tagelang debattierten und überwiegend friedlich demonstrierten. Mit Philipp Hersel vom bundesweiten Koordinierungskreis der globalisierungskritischen Attac- Bewegung sprach am Montag vor seiner Rückreise nach Berlin FR- Redakteurin Monika Kappus.

Frankfurter Rundschau: Bilder von brennenden Barrikaden und zerborstenen Schaufenstern - ist das Ihre Botschaft zum G-8- Gipfel?

Philipp Hersel: Sicher nicht. Attac hat sich an den gewalttätigen Protesten nicht beteiligt, sondern nur an Demonstrationen und einer Sitzblockade mit zivilem Ungehorsam. Zur Konfrontation kam es erst, als die Polizei Tränengas einsetzte. Wenn bisher viel Gewalt rüberkam, dann liegt das auch daran, wie die Medien berichten. Die Gruppe der gewaltbereiten Demonstranten war ausgesprochen klein.

Sie könnten aber versuchen, den Schwarzen Block stärker zu isolieren.

Selbst wenn wir das täten, die Medien würden trotzdem oft nur darüber berichten. Und man muss auch mal fragen, in welchem Verhältnis die Gewalt bei den Demonstrationen steht zu der, die täglich durch die G 8 ausgeübt wird. Das legitimiert nicht die gewaltsamen Ausschreitungen. Aber was die G 8 Milliarden von Menschen antun, das ist ein Krieg gegenüber dem Lagerfeuer, das man hier gesehen hat. Über die Millionen Menschen, die jährlich sterben, weil eine bestimmte Weltwirtschaftsordnung aufrechterhalten wird, redet keiner. Aber wenn hier eine Fensterscheibe kaputtgeht, reden alle darüber.

Aber es muss doch auch in Ihrem Interesse sein, stärker Inhalte zu vermitteln.

Das mit der Gewalt ist eine zweischneidige Sache. Auch wenn wir gewalttätige Aktionsformen ablehnen, muss man leider sagen: Wenn es nicht kracht, guckt keiner hin. Das stimmt nicht für alle Journalisten. Aber viele sind im offiziellen Pressezentrum kaserniert und erfahren nur von der Polizei, wenn es irgendwo Krawalle gibt. Von den Hunderten von Veranstaltungen des Gegenkongresses wird nicht berichtet.

Sie müssen sich aber schon fragen, wie sie Ihre Botschaften rüberbringen?

Ich bin da ganz optimistisch, wenn ich mir Evian betrachte. Die offizielle Tagesordnung ist der Versuch, so zu tun, als würde sich der Gipfel mit unseren Themen beschäftigen. Aids- Bekämpfung, Wasserverteilung, Entwicklung der armen Länder. Oder Chiracs Nepad-Initiative. Unsere Ansätze, unsere Kritik an der neoliberalen Globalisierung kommen also sehr wohl an. Allerdings halte ich die Zusagen der G 8 für reine Lippenbekenntnisse.

Weil Sie von Mächtigen nichts erwarten?

Ich verfolge diese Gipfel seit zehn Jahren. Hier wird viel heiße Luft produziert. Schauen Sie sich die Afrika-Hilfe an. In Genua wurde ein Milliardenbetrag für den Aids-Fonds in Aussicht gestellt. Davon ist bisher weniger als die Hälfte eingezahlt worden und noch viel weniger abgeflossen. An den klassischen Strukturen internationaler Politik ändert sich nicht dadurch etwas, dass die Mächtigsten einige Entwicklungsländer an ihren Tisch rufen. Nehmen Sie Nepad. Die Länder des Südens müssen sich den Bedingungen der G 8 beugen, von der Korruptionsbekämpfung, die vom Norden keiner verlangt, bis hin zu in Anführungsstrichen guten Bedingungen für internationale Investoren. Dann erst fließen Investitionshilfen der G 8, die vor allem bei internationalen Konzernen landen.

Und gegen all das soll Diskutieren und Demonstrieren helfen?

Alternativen fangen damit an, dass man einen Freiraum zum Nachdenken und für neue Politikansätze schafft. Wir haben nicht die eine Blaupause für die bessere Welt, aber einzelne Ansätze wie etwa die Tobinsteuer. Die werden auch diskutiert, aber durch Worte ändert sich der neoliberale Konsens der Regierungschefs nicht. Kanzler Schröder etwa kam verspätet nach Evian, weil er daheim erst mal den Sozialstaat zerschlagen musste, statt mit Entwicklungsländern darüber zu reden, wie sie eine soziale Sicherung ansatzweise wieder aufbauen könnten. Wir fordern Verteilungsgerechtigkeit. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer schneller immer weiter: 1960 hatten die reichsten 20 Prozent der Länder 30 Mal so viel wie die ärmsten 20 Prozent, 1990 hatten sie 60 Mal so viel, und bis 2000 ist daraus 1 zu 90 geworden.


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