Todesschüsse auf Demonstranten lösen neue Proteste aus

Von Marcos Salgado und Roberto Roa

(Buenos Aires, 1. Juli 2002, npl).- "Als ob wir mit der Wirtschaftskrise nicht schon genug Probleme haben. Jetzt erklärt uns diese Regierung, die nicht einmal gewählt wurde, auch noch den Krieg!" Der erboste Ausruf einer jungen Demonstrantin, die Ende vergangener Woche in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires gegen das Vorgehen der Polizei protestierte, bringt die Stimmung im Land auf den Punkt. Nach dem Tod von zwei Demonstranten ist für viele Argentinier die Zeit der Übergangsregierung unter Präsident Eduardo Duhalde abgelaufen - weder die ökonomische, noch die politische Krise hat er eindämmen können.

Die Auseinandersetzungen ereigneten sich genau da, wo der Protest gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung am heftigsten ist: In den Armenvierteln südlich der Hauptstadt, wo die so genannten piqueteros immer wieder große Straßen und Kreuzungen besetzen. Die Piqueteros sind zumeist Arbeitslose und Tagelöhner, die teilweise wochenlang auf Straßen campieren, um so auf ihre hoffnungslose Lage aufmerksam zu machen und Forderungen durchzusetzen. Sie gelten als die neue soziale Bewegung Argentiniens, die großen Anteil daran hatte, im vergangenen Dezember die Regierung von Fernando De la Rúa wegen dessen Sozialpolitik in einer großen Protestwelle zu stürzen.

Am brutalsten agierte die Polizei an der Brücke von Pueyrredón, wo piqueteros die wichtigste Zufahrtsstraße nach Buenos Aires blockierten. Hier beträgt die Arbeitslosigkeit bereits knapp 50 Prozent, und das Vertrauen der Bewohner in die Politiker ist weit unter dem Nullpunkt. Ohne Vorwarnung eröffnete die Polizei am Mittwoch das Feuer auf die Demonstranten. Sie erschoss zwei junge Männer, es gab viele Verletzte, darunter acht schwerverletzte, alle durch Schusswunden. Von den über zweihundert Festgenommenen war nicht einer bewaffnet. Zuerst versuchte die Regierung noch, das Geschehen mit einem Streit unter den Protestierenden zu erklären. Doch Pressefotos zeigten eindeutig, dass der Polizeichef Alfredo Frachiotti höchstpersönlich vor Ort war und auch selbst zur Waffe griff. Präsident Duhalde machte prompt eine Kehrtwendung und verurteilte das Geschehen als "widerliche Menschenjagd". Wenig später traten der Polizeichef der Provinz Buenos Aires, sein Stellvertreter und dann auch der Sicherheitsminister des Bundesstaates von ihren Ämtern zurück.

Schon am folgenden Tag reagierte die Protestbewegung: Zehntausende versammelten sich im Zentrum der Hauptstadt, um der Toten zu gedenken und um erneut gegen die Regierung zu demonstrieren. Piqueteros, Studenten, Schüler bis hin zu den Staatsangestellten, die aus Protest den ganzen Tag über nicht zur Arbeit gegangen waren, waren auf den Straßen. Damit, so kommentiert die argentinische Tageszeitung "Página 12", sei es der Regierung jedenfalls nicht gelungen, die piqueteros zu isolieren und als gewalttätig hinzustellen.

Im Gegenteil: Es scheint offensichtlich, dass die Polizei diese Konfrontation gesucht hatte. "Es war ein krimineller Plan, der zum Ziel hatte, angesichts der sozialen Krise einer repressiven Staat zu etablieren," so das Kommuniqué der "Arbeitslosenbewegung Aníbal Verón, der die beiden Erschossenen angehörten.

Insbesondere die Opposition in Argentinien befürchtet, dass dieser Gewaltausbruch einen Wendepunkt markieren könnte. Immerhin ist es jetzt schon sechs Monate her, dass mit dem Aufstand vom Dezember und der Aufgabe der Regierung das wirkliche Ausmaß der Krise offensichtlich wurde. Jahrelange Misswirtschaft, Korruption und hemmungslose Bereicherung, aber auch die bedingungslose Hörigkeit gegenüber den Leitlinien des Weltwährungsfonds IWF, der mehr den Schuldendienst als die Entwicklung der Landeswirtschaft im Auge hat, haben Argentinien in den Bankrott getrieben.

In den letzten Wochen war seitens Unternehmerverbänden im Inland und im Ausland, die Forderung zu hören, es müsse mit "harten Hand und Nulltoleranz" gegen die piqueteros und andere Protestler vorgegangen werden. Auch innerhalb der Regierung Duhalde gibt es Strömungen, die für einen härteren Kurs plädieren. So Außenminister Carlos Ruckauf, der bei einem Treffen mit Militärs die Möglichkeit in Erwägung zog, die Armee zur Befriedung des Landes einzusetzen.

Übergangspräsident Duhalde jedenfalls ist mit seinem Latein am Ende. Sogar die Proteste, die er bislang halbwegs unterbinden konnte, sind jetzt neu entfacht. Mit dem IWF konnte er die Verhandlungen zwar am Leben halten, aber noch keinen Abschluss über einen neuen Kredit aushandeln. Und die Wirtschaft ist weiterhin auf Talfahrt.

Zu der Spekulation, dass Duhalde noch dieses Jahr vorgezogene Neuwahlen ausrufen will, ist eine weitere hinzu gekommen: Ex-Präsident Carlos Menem, Symbol für Korruption und angeklagt wegen illegalem Waffenhandel, könnte sich erneut um das höchste Staatsamt bewerben - und angesichts des politischen Chaos nicht chancenlos.


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