Aus La Paz berichtet Anja Witte
Die Lage in dem von Straßenblockaden und Unruhen geprägten Bolivien droht sich erheblich zu verschärfen. Die mächtigen Gewerkschaften riefen für kommenden Montag einen unbefristeten Generalstreik aus und forderten den Rücktritt von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada.
Nur langsam rumpelt der klapprige Mercedes-Minibus über die Landstraße von der peruanischen Grenze in Richtung La Paz. Mehr als 30 Kilometer pro Stunde sind unmöglich, weil die Straße über hunderte von Metern von Steinen und größeren Felsbrocken übersät ist. Eine halbe Straßenseite ist notdürftig freigeräumt. Das war das Militär. In der Nacht werden die Bauern alles wieder hinschaffen. Das geht in Bolivien seit zwölf Tagen so. Und ab nächste Woche erhalten die Campesinos Unterstützung: Am Donnerstag beschloss eine Versammlung des Gewerkschaftsdachverbandes COB den Generalstreik ab Montag. Der Verband schloss sich damit den Protesten von Bauern gegen den geplanten Export von Erdgas an.
Die Blockierenden auf den Landstraßen sind hauptsächlich Campesinos und Campesinas aus den Provinzen um La Paz. Mit ihren Aktionen wollen sie das bolivianische Gas verteidigen, das die Regierung an die USA und Mexiko verkaufen will. Und nicht nur die Bauern unter Felipe Quispe, dem Vertreter des Hochlandbauernverbandes, kämpfen im »Krieg ums Gas«. Viele bolivianische Gesellschaftsgruppen haben sich mit ihnen solidarisiert. Beispielsweise die Kokabauern in den Yungas und im Chapare unter der Führung des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Evo Morales von der oppositionellen Bewegung zum Sozialismus (MAS). Auch die Landlosenbewegung, Beschäftigte im Transportwesen, Minenarbeiter, Lehrer und Rentner haben sich dem Protest angeschlossen.
Dass sich die Bolivianer so zahlreich an der Auseinandersetzung beteiligen, hat vor allem zwei Gründe. Zum einen ist Bolivien das ärmste Land Südamerikas mit einer Jahrhunderte alten Geschichte von Ausbeutung und Unterdrückung. Große Teile der Bevölkerung befürchten bei dem Geschäft mit dem Gas zum wiederholten Male die Verlierer eines Ausverkaufs ihres Landes zu sein, an dem sich die kleine privilegierte Elite bereichert und ausländische Unternehmen verdienen, während beim Gros der Bevölkerung nichts, aber auch gar nichts ankommt. So wird immer wieder die Forderung laut, das Gas zur Industrialisierung des eigenen Landes zu nutzen.
Zum zweiten pflegen die Bolivianer eine uralte Feindschaft gegenüber Chile, seit Bolivien im Salpeterkrieg 1879/80 seinen einzigen Zugang zum Meer an Chile verlor und zum Binnenland wurde. Pipelines, in denen das Gas zur Verschiffung ans Meer gelänge, müssten entweder durch Chile oder Peru verlaufen. Laut einer Regierungsstudie wäre wegen der größeren Entfernung und der schlechteren Infrastruktur der Bau einer Ferngasleitung über Peru etwa 800 Millionen US-Dollar teurer. Doch die Mehrheit der Bolivianer ist aufgrund der historischen Ressentiments für jede Alternative der Gasverwendung eher zu gewinnen als für eine Variante, die mit Chile zu tun hat.
Abneigung hegen die Bolivianer allerdings nicht nur gegen Chile, sondern auch gegen die eigene Regierung unter Gonzalo Sánchez de Lozada. Nicht erst, aber vor allem seit letzten Sonnabend. Nachdem der landesweite Generalstreik am Freitag entgegen aller Erwartungen friedlich verlaufen war, kam es tags darauf zu blutigen Auseinandersetzungen. Während einer Blockaderäumung durch das Militär starben im Hochlanddorf Warisata fünf Zivilisten, darunter ein achtjähriges Mädchen, und ein Soldat bei Zusammenstößen von Militärs und bewaffneten Campesinos. Die Regierung wollte durch die Militäraktion in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen und der britischen Botschaft rund 700 Touristen, darunter 70 Ausländer aus dem nahe gelegenen Sorata holen, die allesamt wegen der Straßenblockaden bereits eine Woche lang eingeschlossen waren.
Die Militäraktion wurde von Verteidigungsminister Sánchez Bersaín geleitet, der selbst mit dem Hubschrauber einflog. Noch im Februar hatte Sánchez Bersaín das Kabinett verlassen müssen, weil er für die über 30 Toten verantwortlich gemacht wurde, die bei Auseinandersetzung zwischen streikenden Polizisten und Militärs ums Leben gekommen waren. Bei der Neubildung der Regierung am 6. August wurde er indes wieder zum Verteidigungsminister berufen.
Seit dem vergangenen Wochenende hat sich die Stimmung stark aufgeheizt. Durch den Zorn und die Trauer über die Toten sind die Menschen enger zusammengerückt. Die Blockaden haben sich verschärft, Reisende oder Warentransporte können praktisch nicht mehr passieren. Und die Wut auf Präsident Sánchez de Lozada wächst. Bauernführer Felipe Quispe rief den »Ausnahmezustand der Bevölkerung des Hochlandes« aus. Er gab an, dass ein Dialog mit der Regierung erst möglich sei, wenn sich das Militär von den Straßen zurückziehe. Der Schulterschluss mit den Gewerkschaften wird den Druck auf Sánchez de Lozada verstärken. Der kommende bolivianische Sommer droht heiß zu werden.
(ND 27.09.03)
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