Hier ein Hintergrundbericht über die erschreckenden Lebensbedingungen der Bauern in Bolivien, der einiges über die gegenwärtige Rebellion und explosive Situation in Bolivien auszusagen hat.
La Paz, 28. Sept. 2003
Mit ihrer ruinierten Wirtschaft, vom freien Markt aufgegeben und von Staatsmacht und Gesellschaft, die sie noch immer mit Verachtung und Arroganz betrachtet, geringschätzig behandelt, haben die bolivianischen Bauern und Indigenen Gründe im Übermaß, um zu revoltieren.
Wir sind keine Tiere, wir sind keine Wilden, wir sind menschliche Wesen (...) die Regierung sollte uns respektieren und nicht auf uns schießen, sagt einer von ihnen, der sich vor den Kameras von TV - Red Uno, mitten auf der Hauptverkehrsader des Andenhochlands aufgebaut hat, einer von denen, die in ihrem Kampf für die Wiederverstaatlichung von Erdöl und Erdgas mit den Militärs im Streit liegen.
Alles wie ein Traum für die Männer und Frauen vom Land, die noch mit Feuerzeug, Guano und Holz als Brennmaterial hantieren. Männer und Frauen, die sich mit Koka, Urin und Heilkräutern kurieren, weil es weder Gesundheitsstation noch Arzt gibt. Männer und Frauen mit vielen Kindern, denn viele sterben frühzeitig an Durchfall, Unterernährung und Verwahrlosung. Es gibt zahlreiche Familien wie die von Juan Cosme Apaza, dem 35-jährigen Bauern in Warisata, der am Sonnabend, 20. Sept. durch Soldaten von Kugeln durchsiebt wurde und der eine Witwe und neun Kinder (das älteste ist 12 Jahre alt) als Waisen zurückläßt, die bestimmt sehr bald, wie es Tausende machen, in die Elendsviertel der Stadt, oder zur Zuckerrohrernte in Argentinien abwandern, oder wie ihre Väter und Großväter den Weg der Rebellion einschlagen werden
RUINIERTE WIRTSCHAFT
Die bäuerliche Lebensweise und Wirtschaft im Andenhochland und einem großen Teil der Täler liegt in den letzten Zügen. Der freie Import ausländischer Erzeugnisse, die totale Vernachlässigung durch die Regierung, der Kleinstgrundbesitz und Landmangel verurteilen die bäuerliche Wirtschaft, in der niedrigste Produktivität vorherrscht, die Armut regiert und die Unzufriedenheit wächst, zum Ruin,
Die Probleme sind enorm und haben sich durch den Neoliberalismus noch auf das Äußerste zugespitzt. Unabhängige Studien stellen fest, daß das Durchschnittseinkommen der Bauernfamilien während der letzten fünfzehn Jahre um 50 % gesunken ist. Heute muß in der bolivianischen Landwirtschaft das Doppelte produziert werden, um gerade so das Dasein zu fristen wie früher, was außerdem sehr schwierig ist, weil die Erde nicht mehr so viel hergibt wie früher, weil mehr Münder ernährt werden müssen und es geringere Absatzmöglichkeiten gibt.
Im Durchschnitt entstehen jedes Jahr im Hochland und in den Tälern mehr als 16 000 neue Kleinst-Landwirtschaften (Minifundios), in einem derart beschleunigten Prozess der Landfragmentierung, der die Produktionsprozesse erschwert und sie binnen kürzester Zeit unrentabel macht. Vom Minifundio (Kleinstbesitz) ist man inzwischen bereits zum Surcofundio (Besitz einer Furche) übergegangen. In dieser Lage befinden sich eine Million Kleinstlandwirte (agricultores minifundiarios), die tagtäglich ärmer und elender werden, sowie weitere 250 000, die nicht einmal mehr über eine eigene Furche verfügen. Es ist deshalb kein Zufall, daß nach den offiziellen Zahlen fünf von zehn Bauern Hunger leiden und vier kaum genug haben, um sich ein bescheidenes Essen zu leisten.
TOTALE VERNACHLÄSSIGUNG
Heute hat jeder Bauer des Hochlands und der Täler wesentlich weniger Land als früher, weshalb auch ein beschleunigter Prozeß der Aufgabe traditioneller Landflächen und eine starke Migration vom Land in die Städte, und vom Westen des Landes in den Osten eingesetzt hat.
Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Verbreiterung der Zonen der Armut und Ausgrenzung in den größten Städten und wachsende Konflikte um den Besitz von Grundstücken, besonders im Osten des Landes.
Auf dem Land verschärft sich die Situation wegen der gänzlich fehlenden Unterstützung durch die Regierung: es gibt keine Kredite, es gibt keine technische Unterstützung, die Investition in die Produktionsinfrastruktur ist dürftig und sinkt weiter. Was aber am meisten schmerzt, ist die permanente Regierungspolitik zur Öffnung der Grenzen, zur Senkung der Einfuhrzölle und Einfuhr billiger, subventionierter Erzeugnisse ins Land, die die inländischen Produzenten ruiniert.
POLITIK DER VERNICHTUNG
Das Resultat ist nur allzu klar: sie strangulieren die bäuerliche Wirtschaft, entwurzeln die Männer und Frauen vom Land, die noch 40 % der bolivianischen Bevölkerung ausmachen. Wenn sich aber dieser Rhythmus der Produktionsminderung und der verschlechterten Lebens- und Arbeitsbedingungen fortsetzt, könnte die bäuerliche Wirtschaft in einem Zeitraum von nicht mehr als 20 Jahren nur noch Erinnerung sein, warnen die mit der katholischen Kirche verbundenen Organisationen.
Gegenwärtig findet eine Strangulierung der ökonomischen Produktionstätigkeit von Bauern und Indigenen statt, vor allem bei der Produktion von Nahrungsmitteln und Verarbeitungsprodukten, da sie nicht über die materiellen Bedingungen verfügen, mit den in den Herkunftsländern subventionierten Importprodukten konkurrieren zu können, erklären sie.
Aber das interessiert die bolivianischen Regierenden nicht, die bei der Tagung der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancún beispielsweise vorbrachten, die Einfuhrzölle ganz zu streichen und forderten, die Subventionen für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu untersagen. Für Bolivien würde dies bedeuten, einen maximalen Anreiz für die Einfuhr ausländischer landwirtschaftlicher Produkte zu schaffen und dem inländischen Bauern null Unterstützung zu gewähren.
Die Regierung hat die Absicht, den bolivianischen Bauern auf gleicher Ebene mit den transnationalen Nahrungsmittelfirmen und den mittelständischen und großen Unternehmen der Nachbarländer konkurrieren zu lassen. Einfach ein Selbstmord, nach CIPCA-Experten, die demonstrieren, daß die landwirtschaftliche Produktivität der entwickelten Länder 500-mal höher als die bolivianische ist. Vor einem Jahrhundert war die Differenz noch das 20-fache gewesen.
DER WIDERSTAND
Aber diese Anti-Bauernpolitik der Regierung wird von der Agrarbevölkerung des Andenhochlands und der Täler mit Widerstand und Kampf beantwortet, die sich weigert zu sterben und stattdessen ihre alten Fahnen in den neuen Farben aufpflanzt.
Eine neue Agrarreform muß durchgeführt werden, die Schluß macht mit der extremen Konzentration von Ländereien, die sich im Besitz der Großgrundbesitzer befinden und die Millionen von Bauern mit genügend Land ausstattet, sagte vor kurzem der Anführer der Coca-Anbauer und Hauptführer der Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo - MAS), Evo Morales bei der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Agrarreform Anfang August dieses Jahres.
Heute haben die Führern der Bauern- und Indigenen-Organisationen Boliviens eine neue Agrarrevolution im Sinn, um mit den Latifundien im Osten des Landes endgültig Schluß zu machen, den Kleinstgrundbesitz im Westen zu überwinden und der Landwirtschaft den Weg des Fortschritts und der Entwicklung zu öffnen. Die offiziellen Daten zeigen, daß 87 % des Landes sich in den Händen der Großgrundbesitzer und unproduktiven Neo-Latifundien befinden, während die einfachen Bauern kaum 13 % des Grund und Bodens innehaben.
Wir wollen nicht nur das Land, sondern auch das Territorium; nicht nur den Boden, auf dem wir gehen, sondern auch den Untergrund mit seinen Bodenschätzen wie Erdgas und Öl, fügte der "Mallku" Felipe Quispe hinzu, der die Andenrebellion zur Wiedereroberung (reconquista - das Wort erinnert an die jahrhundertelange spanische Reconquista, d.Ü.) des Erdgases für die Bolivianer und indigenen Völker anführt. In der Bauern- und Indigenen-Bewegung herrscht die Gewißheit, daß mit der Wiedergewinnung des Eigentums am Erdgas in Bolivien die Elektrifizierung und Industrialisierung auf dem Land in Angriff genommen und der Landwirtschaft ökonomische und finanzielle Unterstützung gegeben werden könnte. Das wäre undenkbar, wenn diese schadstoffarme Eneriequelle in den Händen der transnationalen Firmen verbliebe, die Millionen und Abermillionen einstecken und wenig oder nichts im Lande lassen.
Das Erdgasexport-Projekt in die Vereinigten Staaten über einen chilenischen Hafen wird den ausländischen Ölgesellschaften zum Beispiel einen jährlichen Gewinn von 1 300 Millionen Dollar ermöglichen, während Bolivien kaum 40 bis 70 Millionen Dollar an Steuern und Nebeneinnahmen(?) bleiben.
Das ist es, was heute umstritten ist, inmitten all der Straßenblockaden, inmitten der Steine und Schüsse. Eine Welt der Bauern und Indigenen, unterstützt von Arbeitern, Studenten und verarmten Angehörigen der Mittelschichten, die dieselben Träume und dieselbe Farbe der Erde miteinander gemein haben, im Kampf gegen die Regierung einer kleinen weißen Minderheit von Millionären, die mit den Großunternehmen und dem Finanzkapital im Bunde stehen. Der Kampf für das Recht auf ein würdiges Leben. Wir sind keine Tiere, wir sind keine Wilden, wir sind Menschen (....) die Regierung sollte uns respektieren und nicht auf uns schießen.
Quelle: Econoticiasbolivia.com (Gabriel Tabera) (28/09/2003 17:49) auf - 29/9/03 12:53
guerra del gas | bolivia | www.agp.org (archives) | www.all4all.org