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Neues Deutschland • Samstag, 17. Dezember 2005

Zuversichtliche Kokabauern

Im Chapare setzt man auf Evo Morales

Von Gerhard Dilger, Cochabamba

Der frühere Gewerkschafter Evo Morales ist Aymara-Indianer. Er könnte der kommende Staatschef des Andenlandes Bolivien werden. Alle Umfragen vor den Präsidentenwahlen am Sonntag sehen ihn vorn.


Francisco Vargas sitzt auf der Tribüne einer Mehrzweckhalle im tropischen Chapare-Tiefland Boliviens. »Ohne Koka haben wir keine Zukunft«, sagt er und schiebt ein trockenes dunkelgrünes Kokablatt in den Mund. Auf seinen zehn Hektar Land baut er Obst und Gemüse an. Und 1600 Quadratmeter Koka - die Fläche, die einer Familie seit einem Jahr dank eines Abkommens mit der Regierung zusteht. »Seither ist es hier ruhig geworden«, berichtet Vargas, »und wir haben ein bisschen mehr zum Überleben.«

Vargas ist zur Versammlung der Kokabauern-Gewerkschaften gekommen, um Evo Morales zu sehen. Am Sonntag will Morales, der im Chapare als Kokabauer politisch aktiv wurde, zum Präsidenten gewählt werden. Er wäre der erste Indigene an der Spitze Boliviens, wo sechs der neun Millionen Einwohner indianischer Herkunft sind.

Sein härtester Rivale heißt Jorge Quiroga. Der war schon einmal ein Jahr lang Präsident. Im Chapare setzte er die bolivianische Variante des USA-Drogenkriegs fort: Militarisierung, Repression gegen Kokabauern, Vernichtung von Kokafeldern, Alternativprogramme mit mäßigem Erfolg. Die Nachfrage der Drogenhändler macht den Kokaanbau konkurrenzlos attraktiv.

»Wenn Quiroga gewinnt, gibt es wieder Kugeln für uns«, fürchtet Francisco Vargas. Seine Hoffnung heißt Evo Morales. Der redet seiner Basis ins Gewissen: »Hier gibt es einige Compañeros, die mehr Koka anbauen als erlaubt. Das ist Selbstbetrug. Wir müssen die Abkommen einhalten, die wir unterschreiben, sonst werden wir unglaubwürdig und gehen in eine große Falle.«

Evo Morales weiß, dass längst wieder mehr Blätter für die Kokainproduktion abgezweigt werden als auf den legalen Märkten der bolivianischen Städte landen. Und dass die USA nur darauf warten, eine unliebsame Regierung mit dem Argument zu destabilisieren, sie spiele dem Drogenhandel in die Hände. Morales, der aus seiner Bewunderung für Hugo Chávez und Fidel Castro kein Hehl macht, ist für die Falken in Washington schon seit Jahren ein rotes Tuch.

In sämtlichen Umfragen liegt er mit rund 35 Prozent vorne. Wie auf jeder Wahlveranstaltung sagt er auch vor den Kokabauern: »Wir brauchen 50 Prozent plus eine Stimme.« Dadurch will er Verhandlungen im Kongress umgehen, denn dort findet die zweite Runde der Präsidentenwahl statt - falls alle Kandidaten die absolute Mehrheit verfehlen. Genau danach sieht es aus, denn Quiroga pendelt zwischen 25 und 30 Prozent.

Zwischen Morales und Quiroga inszeniert sich der Großunternehmer Samuel Doria Medina als Kandidat der Mitte. Er kann mit 15 bis 20 Prozent rechnen. Programmatisch liegen die drei Kandidaten erstaunlich eng beieinander. Sie plädieren für die Stärkung von Kleinbetrieben und die Kontrolle ausländischen Großkapitals. Der Neoliberalismus hat zumindest auf rhetorischer Ebene ausgedient.

Evo Morales ist schon seit Jahren viel gemäßigter als sein Ruf. Dass er unter einer »Nationalisierung« der Erdöl- und Erdgasressourcen etwas anderes versteht als die sozialen Bewegungen in Cochabamba oder El Alto, hat er oft deutlich gemacht und wird dafür gerne als Verräter beschimpft. »Wir wollen gerechte Verträge mit den Erdölmultis aushandeln, wir wollen sie als Partner, und nicht als Herren«, sagt er vor Journalisten Auf seinen Wahlplakaten steht aber nur: »Nationalisierung«.

Was er nach einem Wahlsieg vorhat, ist völlig offen. »Vielleicht weiß er es nicht einmal selbst«, sagt ein Aktivist aus La Paz, der ihn gut kennt. Denn im neu gewählten Kongress dürfte das Establishment wieder in der Überzahl sein. Das spräche für einen Pakt zwischen Quiroga und Doria Medina. Morales könnte dann versuchen, zusammen mit den sozialen Bewegungen deren zweite Hauptforderung einzuklagen: die rasche Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung.

Oder er zieht Doria Medina auf seine Seite, allerdings um einen hohen Preis: eine Politik, die sich wohl kaum von der seiner Vorgänger unterscheiden würde. Würde Morales ein »zweiter Lula«, also ein übervorsichtiger Reformer wie Brasiliens Präsident, hätte Washington »kein Problem«, soll USA-Botschafter David Greenlee gesagt haben.

Bei den sozialen Bewegungen außerhalb des Chapare überwiegt Skepsis. Schon die bolivianische Linksregierung Anfang der 80er Jahre sei am unkontrollierbaren Druck von unten gescheitert, sagt Abel Mamani, Sprecher der Stadtteilkomitees von El Alto.

Im Chapare sieht man das naturgemäß anders. »Evo hat unsere Hautfarbe, er spricht unsere Sprache«, sagt eine Marktfrau in Shinahota. »Er hat schon viel für uns erreicht«, lobt die Sozialarbeiterin und MAS-Aktivistin Marcela López, »wir vertrauen ihm.« Der Schuster Vicente Mamani misstraut zwar allen Politikern, aber vielleicht gibt auch er Morales seine Stimme: »Damit er endlich aufhört, mit Straßenblockaden das Land lahm zu legen.«


Die Vorgeschichte

Unruhige Jahre

Dreieinhalb unruhige Jahre nach der letzten Präsidentenwahl sind knapp 3,7 Millionen Bolivianer erneut zu den Urnen gerufen. Sie sollen nicht nur ein neues Parlament und neue Provoinzgouverneure wählen, sondern auch ein neues Staatsoberhaupt.

Seit den erfolgreichen Massenprotesten gegen die Wasserprivatisierung in Cochabamba Anfang 2000 hat sich das politische Koordinatensystem verschoben. Schon bei der Präsidentenwahl im Juli 2002 war Evo Morales von der Oppositionspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) als Zweitplatzierter nur knapp gescheitert. Seitdem hatte das Land mit neun Millionen Einwohnern bereits drei Staatschefs. Im Oktober 2003 wollte Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada, Multimillionär und Chefarchitekt neoliberaler Reformen in den 90er Jahren, Proteste gegen geplante Erdgasexporte blutig niederschlagen. Er wurde gestürzt und floh in die USA. Sein damaliger Vizepräsident und Nachfolger Carlos Mesa warf im Juni 2005 nach wochenlangen Protesten ebenfalls das Handtuch. In beiden Fällen kritisierten die Demonstranten den Ausverkauf der Reichtümer Boliviens. Die Erdgasvorkommen des Landes sind die zweitgrößten Südamerikas, doch die indianische Bevölkerungsmehrheit hat davon wenig.

Übergangspräsident Eduardo Rodríguez schrieb die Neuwahlen aus, um die politische Krise zu entschärfen. Neben Evo Morales (46) sind die bürgerlichen Politiker Jorge Quiroga (45) und Samuel Doria Medina (47) aussichtsreichste Kandidaten.

G.D.


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