Von Reinhard Lackinger.
Brasilien, das größte Land Lateinamerikas, begeht heuer das Jubiläum seiner "Entdeckung" durch portugiesische Seefahrer vor 500 Jahren. Für die landlosen Bauern im verarmten Nordosten des Landes kein Grund zum Feiern.
Als 1992 die Show des 500-Jahr-Jubiläums der "Entdeckung" Amerikas über die globale Bühne lief, sagten uns die Stimmen jugendlicher Demonstranten, dass es eigentlich nichts zu feiern gäbe. Indios und Campesinos ginge es weiterhin schlecht, sie litten nach wie vor an Hunger und drängten sich in der steten Menschenflut der Elendsviertel lateinamerikanischer Städte.
Der portugiesische Seefahrer Pedro Álvarez Cabral hat am 22. April 1500 Brasilien im Bundesstaat Bahia, genau genommen in Porto Seguro, entdeckt und tags darauf das Land betreten. Ein Ereignis, das im April 2000 zum Gedenken dieses Datums unter den Auspizien der brasilianischen Regierung nachvollzogen wird.
Verschiedene Schiffe, unter ihnen die Kopie der Karavelle des Entdeckers, werden den Atlantik in Richtung Nordostbrasilien kreuzen. Die Festlichkeiten sehen auch die Wiederholung der ersten Feldmesse auf brasilianischem Boden vor, der Politiker, sonstige Autoritäten, Volk und Indios beiwohnen werden.
Nicht nur in Porto Seguro wird die Entdeckung Brasiliens gefeiert. Auch für Salvador (die 1549 von Tomé de Souza gegründete Hauptstadt Bahias, bis 1763 auch Hauptstadt Brasiliens und Sitz der Vizekönige) sind zahlreiche Festakte geplant, die mit der Silvesterfeier zum 1. 1. 2000 ihren Auftakt hatten, vor dem Leuchtturm von Barra und einer riesigen Menschenmasse.
Die Landlosen Brasiliens, organisiert im MST, Movimento dos Sem Terra, stellten sich die Gedächtnisfeier "500 Jahre Brasilien" jedoch anders vor. Sie veranstalteten zur Jahreswende 1999/2000 in Porto Seguro eine symbolische Gerichtsverhandlung, bei der sowohl die portugiesische Krone als auch die gesamte ungerechte Gesellschaft Brasiliens und vor allem die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 angeklagt und verurteilt wurden.
Seit der Entdeckung dieses flächenmäßig größten Landes Südamerikas (hundertmal größer als Österreich) durch die Portugiesen beruht die Produktion wirtschaftlicher Güter auf der Ausbeutung billigster Arbeitskräfte.
Von den einst fünf Millionen Ureinwohnern Brasiliens leben nur noch 200.000 Indianer in Reservaten, bedroht von Großgrundbesitzern und Goldgräbern. Eineinhalb Millionen afrikanischer Sklaven wurden bis ins neunzehnte Jahrhundert an Land gezerrt, auf Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen zur Arbeit gezwungen, in den Krieg gegen Paraguay gehetzt.
Die Abschaffung der Sklaverei (13. Mai 1888) hatte mehr politische und wirtschaftliche als humanitäre Gründe. Sklaven zu erhalten war vielen zu teuer geworden. Auch heute noch beziehen die meisten brasilianischen Arbeiter nicht mehr als den Mindestlohn von etwa 900 Schilling im Monat.
Die politische Ordnung begann mit den capitanias hereditárias, den vererbbaren Sitzen an Hafenstädten. Privilegien: Erbsünden allen politischen und wirtschaftlichen Lebens, bis in die heutigen Tage.
Die von Portugal ernannten Statthalter gliederten das Ackerland in sogenannte Sesmarias auf. Ländereien, die gegen das Versprechen verteilt wurden, Grund und Boden zu bewirtschaften. Sollte das Land binnen 5 Jahren noch immer brach liegen, hatte der säumige Landwirt den Besitz an die Krone zurückzugeben. Und obwohl noch immer riesige fruchtbare Gebiete unbebaut liegen, wurde nie in der Geschichte Brasiliens ein einziger Quadratmeter an die Regierung zurückerstattet.
Jahrhunderte hindurch diente das Land ausschließlich den Monokulturen und der Spekulation. Auch die Militärdiktatur begünstigte die weitere Konzentration des Landbesitzes für die extensive Ochsenwirtschaft.
Nur ein Prozent der Eigentümer besitzt 45 Prozent des kultivierbaren Ackerlandes. 1996 lagen 42,6 Prozent davon brach, und 27 der bedeutendsten Großgrundbesitze umfassten insgesamt 25.547.537 ha Land. Der größte individuelle Besitz erstreckte sich nach diesen Angaben über mehr als 4 Millionen Hektar. Nicht nur während der Militärdiktatur, sondern auch heute noch ignoriert die brasilianische Elite die Bedeutung einer Agrarreform für den Fortschritt des Landes, für den Kochtopf der Armen. In der UDR, União Democrática Ruralista, haben die Großgrundbesitzer eine effiziente pressure group, die es schafft, ihre Interessen zu schützen, und die es ihnen weiterhin ermöglicht, ihre Anwesen zu vergrößern. Zum Beispiel durch die Umwandlung von staatlichen Ländereien in privates Eigentum mittels Brandrodung und Dokumentenfälschung, eine Praxis, die grilagem genannt wird. Noch während der Militärdiktatur wurden Maßnahmen gesetzt, die angeblich eine Agrarreform vorantreiben sollten, in Wirklichkeit aber ausschließlich großen Projekten zugute kamen.
Die Bewegung der Landlosen keimte in kleinen Initiativen mittelloser Brasilianer und der Pastoral da Terra, der "Kirchlichen Landfürsorge", die die Missstände auf dem Land sowie die Straflosigkeit von Verbrechen der Reichen anprangerte. Bis 1985 agierte die Landlosenbewegung im Untergrund, galt als subversiv, wurde von der Elite verfolgt.
Beim 1. Nationalen Kongress des MST (Curitiba, Paraná, Jänner 1985) wurde beschlossen, die Bewegung der Landlosen über alle Bundesstaaten auszudehnen. Regionales Führungspersonal wurde ausgewählt und geschult.
Das Ziel des MST war von allem Anfang an, dem Land eine soziale Funktion zu geben. Menschen, die vom Bankett der pharaonischen Projekte ausgeschlossen waren, sollten brach liegendes Land bebauen, sich in Genossenschaften zusammenschließen, Agroindustrien gründen.
Den Führern des MST schwebte eine Gesellschaft ohne Ausbeuter vor, Arbeit für alle und eine gerechte Verteilung der Resultate. Jede/r BrasilianerIn sollte das Recht auf kostenlose Erziehung, ärztliche Betreuung, Wohnung und öffentlichen Transport haben, und es wurde soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Gerechtigkeit gefordert. Arbeit solle mehr Wert zugemessen werden als dem Kapital, Vorurteile sollten bekämpft, menschliche und sozialistische Werte verbreitet werden.
Die Aktionen des MST beginnen mit der systematischen Besetzung verlassener Besitze und staatlicher Grundstücke, um deren Enteignung und die darauffolgende legale Verteilung der Grundstücke an landlose Familien zu erwirken.
Diese Besetzungen von verlassenen Fazendas, ungenützten Ochsenweiden und rohem Land durch Sem-Terras-Landlose gehen äußerst diszipliniert vonstatten. Sie errichten ein Acampamento, ein Lager aus schwarzen Kunststoffplanen und beginnen unverzüglich mit dem Pflanzen verschiedener Kulturen wie Mais, Maniok oder Bohnen. An einem Mast weht die rote Fahne des MST. Jedes Acampamento hat seine eigene Organisation, wählt seine Führer. Diese sorgen für die Sicherheit der Familien, für deren Gesundheit und beschaffen die nötigen Lebensmittel.
Wenngleich gesunder Menschenverstand Aktionen dieser Art legitim erscheinen lässt, stehen Gesetz und Militärpolizei weiterhin auf der Seite der "rechtmäßigen" Besitzer. Niemand weiß, wie viele Landlose, von der staatlichen Ordnungsmacht und gedungenen Mördern verwundet oder getötet wurden.
Viele von ihnen wurden im Laufe der Jahre samt Familien wieder zu von den Acampamentos Vertriebenen. Diese vertriebenen Familien harren dann am Rande staubiger Straßen der nächsten Landbesetzung und warten auf das Errichten eines neuen Acampamentos.
Oft dauert es Jahre, bis ein Acampamento in ein Assentamento, ein kollektives Agrarprojekt, verwandelt wird, bis die Regierung die Vorkehrungen trifft, die Landnahme zu legalisieren, eine minimale Infrastruktur sowie die notwendigen Kredite bereitstellt.
Das Movimento dos Sem Terra MST wird vom PT (Partido dos Trabalhadores), der Arbeiterpartei, unterstützt. Ohne diese Bewegungen und ohne Druck der vom Land vertriebenen Arbeiter wäre es in Brasilien nie zu einer Agrarreform gekommen. Jeder Hektar Land verlangt weiterhin Schweiß und Blut mutiger und arbeitsamer Menschen.
In den Jahren 1986 bis 1996 wurden in Brasilien auf einer Fläche von 4.870.172 ha insgesamt 1.564 Assentamentos für 145.712 Familien erwirkt. Wenig im Vergleich zu den oben zitierten Großgrundbesitzen. In der selben Zeitspanne fiel unendlich mehr staatliches Land in private Hände.
Außerdem stellte sich bald heraus, dass von der Regierung enteignet zu werden ein rentables Geschäft darstellte. Die Entschädigungen waren oftmals wesentlich höher als der Wert des Landes und der darauf befindlichen Einrichtungen.
Während sich die Regierung auf die 500-Jahr-Feier vorbereitete, sprachen die Landlosen das System schuldig, das seit der Ankunft Dom Pedro Álvares Cabrals in Brasilien den Ton angibt.
Die Kläger verurteilten die portugiesische Krone, die politische und wirtschaftliche Elite Brasiliens dazu, dem Volke öffentlich seine Selbstachtung zurückzugeben, die ihm durch Ausbeutung, Mord und Versklavung der Indios, der afrikanischen Sklaven sowie deren Nachfahren genommen worden war.
Noch verlacht die Elite hoch von der Tribüne der Festlichkeiten die unbeholfen anmutenden Gesten der Armen. Sie kann aber den siegreichen Feldzug der Landlosen nicht mehr umkehren, die Hände nicht aufhalten, die im selben Moment braches Land besetzen und die Fahne des MST hissen.