13 Apr 2002
chronologie der ereignisse in Venezuela

WELTDIKTATUR IN VENEZUELA


Die bekannte Journalistin Stella Calloni gibt die über Handy vermittelte
Darstellung eines untergetauchten Parlamentariers wieder: "Der Präsident
hat nie seinen Rücktritt eingereicht. Deshalb nahmen sie ihn im
Morgengrauen mit. Er hatte verlangt, dass sie die vielen hunderten im
Palast von Miraflores eingekesselten Personen gehen lassen, ohne dass
die Scharfschützen der Putschisten auf sie schießen. Chávez blieb als
Geisel, um das Leben von vielen von uns zu retten". Der Parlamentarier
Juan Barreto: "Ich bitte die Welt, das Internationale Rote Kreuz, die
Menschenrechtsorganisationen, dass sie sofort in Venezuela aktiv werden.
Denn wir erleben gewalttätige Hausdurchsuchungen, Verfolgung, und man
redet schon von summarischen Hinrichtungen. Wir mussten alle
untertauchen". Wegen der elektronischen Überwachung ist es mittlerweile
praktisch nicht mehr möglich, ParlamentarierInnen, JournalistInnen oder
generell bolivarianische Militante anzurufen, um sie nicht an Leib und
Leben zu gefährden. Die Journalistin zitiert aus einer e-mail einer
Freundin zu den Geschehnissen am Tag des Putsches: "Tausende stiegen
von den Bergen der Armen herunter ... In kurzer Zeit, ohne vorausgegangene
Mobilisierung, füllte sich schon eine große Avenida, die zum
Regierungspalast führt. Da begann die Guardia Nacional Tränengas gegen
die einzusetzen, die versuchten, hin zu kommen ... Von den Gebäuden
begann die Polizei des Oberbürgermeisters Alfredo Peña auf die zivile
Unterstützungsdemonstration für Chávez zu schießen ... Die Bilder der
Toten im TV zeigten Menschen, die Chávez unterstützten. Ich sage das
nicht aus Sympathie für die Regierung, sondern weil an mir viele Kugeln
vorbei pfiffen. Ich konnte sehen, wie die Toten zum Palast getragen
wurden und Dutzende von Verletzten, die sich vor den mörderischen Kugeln
der Scharfschützen zu retten suchten ... Wir alle haben gesehen, wie die
Polizei auf uns schoss. Wir alle haben gesehen, wie unsere Compañeros
starben ... Was die Opposition macht, ist blutrünstig, ist
terroristisch, sie bringen uns um". Eine andere Stimme : "Ihr kennt den
Schmerz nicht, der in den armen Barrios ist. Und warum all dies, wenn
nicht um zu dominieren, um den Ölpreis auf der Welt zu drücken, um die
Hilfe an Cuba zu unterbinden, um das einzige Projekt von Demokratie, das
wir gekannt haben, zurückzudrehen? Ich gehe den Weg der Elenden, die
angefangen haben zu hoffen und es herrscht Schweigen, aber hinter diesem
Schweigen ahne ich ein Feuer, das wieder entfacht werden wird".

Ein Militärputsch beendete die demokratisch gewählte Regierung von
Präsident Hugo Chávez. Die untrüglich von der US-Administration
inspirierten Ereignisse werden weitreichende Folgen haben, nicht nur für
die venezuelanische Gesellschaft. Unmittelbar wird die Kriegseskalation
in den Anden weiter und massiv verstärkt werden; ebenso sind die
Sozialbewegungen in Argentinien betroffen - die dortige Militärführung
sieht sich zum Eingreifen "im Notfall" ermuntert. Darüber hinaus machen
die Vorgänge unabhängig vom Verlauf der nächsten Tage klar, dass auch
wiederholte Wahlsiege und Reformen strikt im Rahmen von Verfassung von
der Weltmacht nicht hingenommen werden, so bald sie ihre Interessen
tangiert sieht. Die ganze lateinamerikanische Linke, alle sich an Wahlen
beteiligenden Kräfte, die auf zivilgesellschaftlichen Konsens hin
orientierten Bewegungen und nicht zuletzt politisch-militärische
Organisationen in oder vor Friedensverhandlungen werden diese Tatsache
zu assimilieren haben.

Die Medien retouchieren den militärischen Charakter des Putsches eifrig
weg. Ein hoher Militär hatte das vorformuliert: "Die Streitkräfte
wünschen nicht, mit einem Putsch einen Platz in der Geschichte zu
erringen, ... [sondern] die Zivilgesellschaft in ihren Protesten zu
unterstützen" . Militarismus wurde dagegen reichlich dem gewählten
Präsidenten vorgeworfen, der 1992 einen Putsch versucht haben soll. Real
hatten sich Chávez und andere Offiziere damals geweigert, ihre Gewehre
auf hungernde PlünderInnen von Supermärkten zu richten und versuchten,
die Regierung daran zu hindern. In der letzten Nacht äusserte der Chef
der Armee, Gen. Vázquez: "Die Toten von heute können nicht toleriert
werden" . Er bezog sich auf die mutmasslich 12 Toten, die gestern unter
noch zu klärenden Umständen ihr Leben verloren hatten. Ähnliche Töne
waren nach dem 27. Februar 1989 nicht zu hören gewesen: Damals
erschossen Armee und Polizei mindestens 1000 Menschen, um eine
Hungerrevolte in Caracas gegen die "IWF-Strukturanpassungen" unter der
sozialdemokratischen Regierung von Carlos Andrés Pérez zu beenden.


Politik von Hugo Chávez

· Die bolivarianische Regierung hatte energische Massnahmen gegen die
während 40 Jahren Regierung von Christ- und Sozialdemokratie etablierte
Korruption umgesetzt
· Eine Erziehungsreform, unter der erstmals in der Geschichte des Landes
über eine Million Kinder die Schule besuchen konnten
· Gratisgesundheitsversorgung und -erziehung bis zur Unistufe;
Verdoppelung des Erziehungsbudgets. Wiedereröffnete Schulen und
Spitälern, die von vorausgegangenen Regierungen aus ,Budgetgründen'
geschlossenen worden waren
· Massive Reduktion der Steuern für die Unterklassen bei gleichzeitiger
Steigerung der Staatseinnahmen
· Reduktion der Kindersterblichkeit von 17% auf 13%
· Finanzierung gemeindeorientierter, ökologischer Projekte
· Stärkung von Rechten für Frauen und indigene Nationen
· eine bescheidene Landreform, die Ländereien über 5000 ha für Landlose
zugänglich machte
· billiger Wohnungsbau für die Unterklassen
· Günstige Agrarkredite

Neben dieser sozialpolitischen Insubordination wogen international
folgende Verbrechen besonders schwer:

· Weigerung der venezuelanischen Regierung, ihren Luftraum der US-Air
Force für Flüge gegen die kolumbianischen Aufständischen zur Verfügung
zu stellen · Bremsfunktion in Sachen Amerikanische Freihandelszone
(Zieldatum: 2005) und Annäherung an den Mercosur als Gegenprojekt
· autonome Beziehung mit Cuba
· führende Rolle bei der Reaktivierung der OPEC mit dem Ziel einer neuen
blockfreien Bewegung trikontinentaler Länder
· Höhere Steuerabgaben für internationale Ölmultis und Stopp der
Privatisierung des nationalen Ölsektors
· Kritik am Krieg in Afghanistan ("Terrorismus mit Terrorismus
bekämpfen")
· wichtige Orientierungsfunktion des bolivarianischen Diskurses der
nationaler Unabhängigkeit für Bewegungen im Andenraum und generell in
Lateinamerika


Widersprüche

Die bolivarianische Regierung hat ihren Wahlversprechen und Kritik am
neoliberalen Modell also Taten folgen lassen. Unter dem Strich hat sie
die sonst im gesamten Kontinent erfolgende Verarmung weiter
Bevölkerungsteile zumindest aufhalten, wenn nicht sogar leicht umdrehen
können. Trotzdem gibt es natürlich eine lange Reihe kritischer Fragen an
diese bolivarianische Praxis: die nun noch bitterer klingende
Verherrlichung des Soldatischen; ein von Vielen kritisierter
Assistenzialismus für die Armen statt realer Organisierung und
Selbstbestimmung; anscheinend wenig Hemmungen bzgl. sog.
Arbeitsflexibilisierung; Messianismus um die Person Chávez. Im Mai 2000
entzog die ursprünglich linke Partei Patria Para Todos Chávez ihre
Unterstützung (PPT fordert nach dem Putsch eine unabhängige
Untersuchung der Ereignisse durch Amnesty und die OAS). Solidarität mit
dem antiimperialistischen Charakter der bolivarianischen Bewegung und
Ablehnung des nun erfolgten Putsches brauchen nicht in eine kritiklose
Idealisierung zu münden. Es war und ist sehr schwierig, sich ein
genaueres Bild der gesellschaftlichen Realität in Venezuela unter Hugo
Chávez zu machen.


Eckdaten

Dezember 98 Überlegener Wahlsieg von Hugo Chávez über die
diskreditierten traditionellen Parteien und die kreolische Bourgeoisie
August 99 Eine Verfassungsgebenden Versammlung tritt zusammen,
nachdem sich 90% der Stimmenden bei großer Stimmenthaltung für sie
ausgesprochen haben Dezember 99 70% stimmen für die neue,
bolivarianische Verfassung Juli 00 Hugo Chávez wird mit großem absolutem
Mehr für eine sechsjährige Amtsperiode neu gewählt


Momente des Putsches

30.Oktober 01

Washington "sehr enttäuscht" über die Kritik Chávez' am Afghanistankrieg

5.-7. November 01

Nach einer zweitägigen Diskussion des ,Problem Venezuela' zwischen State
Department, Pentagon und National Security Council beschuldigt das
US-Aussenministerium Caracas der Unterstützung des ,Terrorismus' in
Kolumbien, Ecuador und Bolivien. Colin Powell forderte Chávez auf, "sein
Verständnis von dem, worum es bei Demokratie geht", zu verbessern.

14. November 01

49 Reformgesetze (Landreform, Beschränkung des transnationalen Zugriffs
auf venezuelanisches Öl, Gratisgesundheitsversorgung u.a.). Insbesondere
die Beschneidung der exorbitanten Profite von Philipps Petroleum, Exxon
Mobile oder französischer Ölgiganten vertiefen die Washingtoner
,Enttäuschung'.

10. Dezember 01

Die Handelskammer Fedecámaras legt seine angeschlossenen
Unternehmen mit Unterstützung des Gewerkschaftsverbandes Confederación=
de Trabajadores Venezuelanos CTV wegen der gerade verabschiedeten
Reformgesetze still.
(In Fedecámaras spielen die beiden spanischen Großbanken Santander und
HBVA eine wichtige Rolle. Bei der CTV handelt es sich um eine mafiös
strukturierte Gewerkschaft, ähnlich wie bei den großen Verbänden
Argentiniens oder Mexikos. Ihr Chef Carlos Ortega kooperiert eng mit dem
wegen Korruptionsverfahren ins Ausland geflüchteten früheren Präsidenten
Carlos Andrés Pérez. Die CTV pflegt die Namen "destruktiver" Mitglieder
den Unternehmerverbänden für ihre schwarzen Listen mitzuteilen. Ortega
war in einer umstrittenen Wahl zum Gewerkschaftsboss gewählt worden.)
Den ArbeitnehmerInnen wurden die Löhne ausbezahlt. ParlamentarierInnen
der bolivarianischen Partei V. Republik machten kurz zuvor
Tonbandaufzeichnungen eines Telefongespräches zwischen dem
Expräsidenten Carlos Andrés Pérez und CTV-Boss Ortega vor, das sich
darum drehte, dass in dieser Etappe im Land Streiks, Destabilisierung und
Chaos unter der Führung des Unternehmerchefs Pedro Carmona
vorangetrieben werden müssen. Im Februar 02 war Ortega vor der
Intensivierung der Destabilisierungskampagne zu Gast beim State
Department, US-Kongressabgeordneten und dem US-Gewerkschaftsverband
AFL-CIO gewesen.

Letzte Monate 01

Trotz einer nach bürgerlichen Massstäben stabilen Wirtschaft (Wachstum,
pünktliche Schuldenzahlungen, Inflationsrückgang) erfolgt eine politisch
motivierte "Kapitalflucht" in die üblichen Offshorezentren (mindestens $
10 Mrd.), entscheidender Schritt zur Herstellung einer ökonomischen
Krise.

5. Februar 02

US-Aussenminister Colin Powell betont vor dem US-Kongress die
Unzufriedenheit Washingtons mit Chávez.

6. Februar 02

CIA-Chef George Tenet vor dem Senat: Die Situation in Venezuela "wird
sich wahrscheinlich verschlechtern" (wegen "domestischer
Unzufriedenheit")

7. Februar 02

Oberst Pedro Soto ruft an einer Kundgebung von 200 Personen Chávez zum
Rücktritt auf. Großes Echo in den nationalen und internationalen
Medien.

8. Februar 02

Die venezuelanische Presse stürzt sich auf eine in der Zeitung El
Nacional wiedergegebene Aussage aus dem IWF, dass dieser auch mit einer
"Übergangsregierung" kooperieren werde.

Ricardo Hausmann, ehemaliger Planungsminister von Carlos Andrés Pérez,
langjähriger Chefökonom der Interamerikanischen Entwicklungsbank und
eifriger Promoter der Totaldollarisierung lateinamerikanischer
Wirtschaften: die "einzige Lösung der aktuellen Krise" besteht in
Chávez' Rücktritt .

8. Februar 02

State Department-Sprecher Richard Boucher zeigt sich schwer besorgt über
die Pressesituation im Land. (Sämtliche nationalen Medien bis auf eines
befinden sich in den Händen der Oligarchie und hetzen pausenlos gegen
die Regierung.) Kurz zuvor hatte eine Untersuchungskommission der
Interamerikanische Menschenrechtsorganisation der OAS (CIDH) einen
"breiten und beredten Ideenwettstreit" konstatiert. Die CIDH nahm auch
Stellung zur sog. Cadena Nacional, bei welcher der Präsident Fernseh-
und Radiosendern anordnen konnte, seine Botschaften zu verbreiten. In
vernünftigem Rahmen sei dies rechtens.

13. Februar

Die feste Bindung des Bolívar an den Dollar wird unter dem Druck der
orchestrierten Kapitalflucht aufgehoben (Januar 02: $ 1.6 Mrd.).
Inflation.

Zweite Hälfte Februar

Weitere Militärs fordern den Rücktritt Chávez'. Es kommt zu einer
Oppositionsdemo mit ca. 30'000 Menschen. Aufgrund der nachhaltigen
Diskreditierung der traditionellen Parteien nimmt diese Aufgaben die
sog. Zivilgesellschaft wahr: die Allianz von Fedecámaras und CTV mit den
Medien und der katholischen Kirchenführung. Das internationale
Medienecho ist groß, im Gegensatz zu jenem auf die Kundgebungen vom
27.
Februar, wo zwischen einer und anderthalb Millionen Menschen für die
Regierung demonstriert haben sollen .
Die Washington Post zitiert einen Funktionär des State Departments:
"Falls der venezuelanische Präsident den Kurs seiner aktuellen Politik
nicht ändert, läuft er Gefahr, sein Mandat ... nicht zu ende zu
bringen".

28. Februar 02

Charles Shapiro ist neuer US-Botschafter in Caracas. Shapiro war 1999 im
State Department zuständig für Kuba und in der Zeit von 1983 bis 1988 in
verschiedenen Funktionen in der US-Kriegsbotschaft in El Salvador
aktiv. Bemerkenswerterweise spielte in jenen Jahren der eng mit
CIA-kubanischen Elementen liierte venezuelanische Militärgeheimdienst
DISIP eine wichtige Rolle für die salvadorianischen Todesschwadronen.
Shapiro's Ernennung wird als Signal für die Zuspitzung von Umsturzplänen
eingeschätzt.

25.März 02

Admiral Molina fordert den Rücktritt von Hugo Chávez. Die New York Times
referiert putschistische Offiziere, welche die venezuelanischen
Beziehungen zu Cuba "angesichts der lange bestehenden engen
Verbindungen
mit Washington als 'unvorsichtig' ansehen". (Venezuela beliefert Cuba
mit Öl und erhält als Gegenleistung Unterstützung auf medizinischem
Gebiet. Venezuela liefert übrigens unter Chávez an alle Staaten der
Karibik und Zentralamerika Öl zu günstigen Konditionen). Unter Verweis
auf die behauptete Abneigung Washingtons gegen Militärputsche zitiert
die Times danach den hohen Militär mit der korrekten Sprachregelung:
"Die Armee will keinen Putsch, [sondern] die Zivilgesellschaft in ihren
Protesten unterstützen".

9. April 02

Chávez wechselte Ende Februar Führungskader des nationalen Ölkonzerns
PDVSA aus. Der Großkonzern ist der drittwichtigste Öllieferant für die
USA. Als Präsident setzt er einen prononcierten Kritiker der Korruption
und Privatisierungsbestrebungen im Ölsektor unter den früheren
Regierungen ein. Das von reaktionären Regierungen ernannte
Unternehmensmanagement beschliesst Widerstand gegen diesen Eingriff in
seine "Autonomie". Chávez geht es um die Einhaltung der
OPEC-Förderquoten, welche vom bisherigen Management, dem hohe
Aktienkurse wichtiger als hohe Ölpreise waren, sabotiert wurden. Der
PDVSA-Filz ist zentral mitverantwortlich für die trotz Oelbonanza
akkumulierte Aussenschuld des Landes. Viele Erlöse waren regelmässig in
schwarze Kassen der früheren Regierungspartein, in luxuriöse
Einkaufszentren, moderne Bürobauten etc. geflossen . Michael Klare, der
linksliberaler Energie- und Militärexperte, weist daraufhin, dass im
famosen, von Enron etc. letztes Jahr verfassten Energiestrategiedokument
von US-Vizepräsident Dick Cheney explizit von den Wünschen der USA die
Rede war, mehr in die venezuelanische Ölindustrie zu investieren und die
Förderquoten zu erhöhen.

Die CTV beschliesst, zusammen mit der Handelskammer, den Kampf ,der
Arbeiter des DVSA', sprich des Managements, zu unterstützen und
initiiert heute einen sog. Generalstreik. Ausser der CTV beteiligt sich
keine Gewerkschaft an diesem vorhaben. Der "Streik" wird auch
international als großer Erfolg dargestellt. Laut pro-chavistischen
Quellen soll es sich dabei aber i Vergleich zur partiell erfolgreichen
Lahmlegung vom 10. Dezember um einen Misserfolg gehandelt haben.
Geschäfte, kleine Unternehmen, Banken, öffentlicher Verkehr etc. haben
gearbeitet. Die TV-Sender zeigen verkehrslose Straßen, sichtbar
aufgenommen während der Morgendämmerung! Überraschenderweise rufen
CTV und Fedecámaras dennoch für eine Weiterführung der Aktion an den
kommenden Tagen und eine Kundgebung für 11. April auf. Die
bolivarianischen Kräfte interpretieren das als Signal für eine noch
unbekannte "Trumpfkarte" der Rechten.

Die Zeitung Universal reproduziert eine Warnung des State Departments an
US-BürgerInnen, sich wegen zu erwartenden Gewalttätigkeiten von Demos
fernzuhalten.

10. April 02

Brigadegeneral Nestor González bringt den Einsatz der Armee ins Spiel
und ruft Hugo Chávez zum Rücktritt auf, da er die kolumbianische
Guerilla unterstütze (in den letzten Monaten zunehmend Desinformationen
über angebliche "Beweise" für eine Zusammenarbeit mit den FARC in
venezuelanischen und US-Medien gestreut). Ein General der Guardia
Nacional ruft die Regierung dazu auf, "keine Gewalt" gegen
Demonstrierende anzuwenden. Die New York Times bemerkt: "Die Botschaft
verursachte Verwirrung, da die Regierung keine Zuflucht bei Gewalt
gesucht hatte".

11.April 02

Eine Großdemonstration (die meisten Angaben schwanken zwischen 50'000
und 200'000 Teilnehmenden) legt während mehrerer Stunden unbehelligt die
City von Caracas lahm. Chávez offeriert der Opposition über Cadena
Nacional eine Kommission zur Beilegung des Streites um den Ölkonzern.
Während dieser Ansprache ruft CTV-Boss Ortega die Demo zum Marsch auf
das Regierungszentrum Miraflores auf, wo sich pro-chavistische
AnhängerInnen aus den Armutsvierteln zu sammeln zu beginnen. Die
Konfrontation ist damit praktisch unvermeidbar. Die Regierung stellt die
Guardia Nacional als Puffer zwischen die beiden Lager auf. Es kommt zu
konfusen Szenen: Reuters beschreibt Panikszenen, als es zu Schiessereien
zwischen drei Gruppen, Polizisten und "nicht identifizierten Schützen
und Scharfschützen auf Dächern", kommt. Laut verschiedenen Quellen
kommen die ersten Schüsse von den Dächern aus 200 m Distanz zu
Miraflores und treffen Bolivaristas. Sofort beginnen Mitglieder der
"linksextremen" Organisation Bandera Roja, die auf Seiten der Opposition
agiert, auf die Guardia zu schießen, worauf ein allgemeines Chaos
ausbricht. Mitglieder der Gemeindepolizei des erzreaktionären
Oberbürgermeisters von Caracas, Alfredo Peña, beginnen ihrerseits auf
die Pro-Chávez-Leute zu schießen. Die Mehrheit der Toten kommen aus
dem bolivarianischen Lager. Bisherige Regierungsmitglieder weisen ebenfalls
auf die Funktion von Bandera Roja-Schützen hin, halten aber fest, dass
die meisten Scharfschützen auf den Dächern Mitglieder der
Gemeindepolizei gewesen sind. Die Guardia habe nach den ersten Schüssen
das Feld geräumt. Das Ganze sei eine Provokation gewesen, um die
Armeeführung zum Einschreiten zu veranlassen. Im TV jedenfalls sind nur
Polizei und angeblich chavistische Schützen zu sehen. Nach neuen Angaben
haben 12 Menschen dabei ihr Leben verloren.

Sogleich meldet sich Carlos Andrés Pérez, der flüchtige Massenmörder vom
Februar 89, zu Wort: "Der Fall von Chávez wird leider mit Gewalt
erfolgen. Der Diktatur wurde die Maske vom Gesicht gerissen, aber Chávez
wird im Gefängnis landen.

Positiv sieht das das Wall Street Journal: Die "USA wurden eine als
politische Paria betrachtete Regierung los", "ein großes Plus für die
USA und die Stabilität der Ölmärkte".


Aktuelle Lage

Die von den Medien als Wahrheit verbreitete Aussage der Generäle, Chávez
habe seinen Rücktritt eingereicht, ist eine Lüge. Seiner Tochter sagte
er im einzigen erlaubten Aussenkontakt: "Ich bin gefangen, ich bin ein
gefangener Präsident". Der Generalstaatsanwalt der Republik weigerte
sich, den angeblichen Rücktritt ohne z.B. schriftliche Belege
anzuerkennen. Ähnlich argumentieren die (bisherige) Arbeitsministerin
María Cristina Iglesias und ihr Kollege Aristóbulo Istúriz vom
Erziehungsressort. Die beiden berichten auch von gefangenen
verfassungstreuen Militärs. Istúriz, bei Gesprächen zwischen Chávez und
putschistischen Militärs anwesend, versicherte, die Putschisten hätten
den USA gegenüber die Einhaltung der Menschenrechte versprochen -
"Clean" Putsch also, keine Fussballstadien wie in Chile, Lächeln für die
Medien, der Militärstiefel dort, wo die Kamera nicht surrt.

Telefonischen Mitteilungen zufolge ist eine Verhaftungswelle in Dörfern
und den Armutsvierteln Caracas angelaufen. Allerdings sollen
verschiedenen Orts schon Verhaftete von lokalen Bevölkerungsgruppen
wieder befreit worden sein. Der Chef der metropolitanen Polizei
behauptet, die bolivarianischen Kreise unter Kontrolle zu haben, denen
bei "Respektierung der Institutionen" nichts passiere. Letzte
Mitteilungen sprechen von verhafteten Ministern, Provinzgouverneuren und
GewerkschafterInnen. Der erwähnte Generalstaatsanwalt konnte in einem
Interview noch auf die totale Rechtlosigkeit im Land hinweisen, seither
ist er verhaftet. Universitäten sind militärisch kontrolliert, ca. 70%
der Bürgermeisterämter ebenso. Pedro Carmona, Ölunternehmer,
drittreichster Mann im Land und Nr. 50 auf der lateinamerikanischen
Hitliste, früherer Mitarbeiter des Massenmörders Carlos Andrés Pérez,
Ex-Funktionär internationaler Wirtschaftsorganisationen, in der
Militärkaserne Fuerte Tiuna mit dem Segen Erzbischofs von Caracas zum
Präsidenten ernannt, löste per Dekret das Parlament die Wahlbehörden=
das Oberste Gericht und eine Reihe weiterer Institutionen auf und
annullierte die Verfassung und die Reformen des Bolivarianismus. Im
neuen Kabinett sitzen mehrere Militärputschisten. Bei der Reorganisation
der Armeeführung wurden auch einige in die jüngsten Vorfälle
verwickelten Militärs abgesetzt, nach einigen Quellen sogar verhaftet -
die unsicheren Kantonnisten. Darunter offenbar der Generalinspektor der
Armee. Der Businessman stoppte sofort alle Öllieferungen an Cuba, dessen
Botschaft von einem rechtsextremen, angeblich von der CIA-kubanischen
CANF aus Miami angeleiteten Mob belagert wird, ohne jedes Eingreifen
der Machthaber. Das Leben der Botschaftsangehörigen ist in Gefahr. Die
CANF scheint nach diversen Quellen an der Finanzierung und Ausführung
des Putschplanes beteiligt gewesen sein.

Pedro Eusse, Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes CUTV, bestätigt
in einem Communiqué von heute (13.4.02) die Darstellung der Provokation
von Miraflores, spricht von einem "faschistoiden" Putsch und bittet um
dringende Solidarität mit dem Bolivarianismus.
In der Nacht auf heute (13.4.02) kam es zu Protestplünderungen von
Einkaufszentren, an verschiedenen Orten zu Straßenbarrikaden und zu
anhaltenden Cacerolazos (Pfannendeckellärmen) sowie zu einigen
"Scharmützeln", offenbar in von der metropolitanen Polizei belagerten
oder kontrollierten Armutsvierteln an den Berghängen.



Schlussbemerkung

Die Mechanik des Putsches erinnert in mancher Hinsicht an Chile 1973 .
Eine lange Etappe von Versuchen demokratischer Reform oder sog.
Normalisierung in Lateinamerika droht damit, real abgeschlossen zu sein.
Eine Warnung liegt in der Luft: Der frühere kommunistische Kader
Guillermo García Ponce hatte nach den Reformgesetzen vom November
letzten Jahres auf einen militanten Zusammenschluss von Viehzüchtern
hingewiesen. Falls die Unternehmer Chávez zu Fall brächten und den
Widerstand aus der Bevölkerung und loyaler Truppen besiegen könnten,
"käme Pinochet aufgrund des entscheidenden Gewichtes, den die gänzlich
revanchistischen und tollwütigen Elemente in den Verschwörungsprojekten
haben".

Die Parallelen zu Chile sind offensichtlich: Die ökonomische
Destabilisierung, der Aufbau eines damals noch nicht ,Zivilgesellschaft'
genannten harten, nach Plan handelnden Oppositionskerns um
Unternehmerverbände und gelbe Gewerkschaftsapparate mit Kirche und
bewaffneten Provokationseinheiten im Schlepptau; die Dämonisierung der
demokratischen Regierung als "kommunistische Diktatur" mit Anlehnung an
damals Moskau, heute den ,Terrorismus' (FARC); die von den USA
gesteuerte Organisierung putschistischer Elemente innerhalb der Armee
(offizielle Dokumente zu den entsprechenden, stets abgestrittenen
Vorgängen in Chile sickerten erst vor wenigen Monaten via das National
Security Archive an die Öffentlichkeit) etc. Grundsätzlich ist auch die
Rolle der Medien nicht neu, sie ist jetzt aber, im Vergleich zu den
Möglichkeiten des chilenischen ,El Mercurio', viel gewaltiger. Während
die Oligarchie, Washington und die in diesen Belangen zuverlässig als
CIA-Verlautbarungsorgan fungierende Interamerikanische
Journalistenvereinigung SIP auch in Venezuela das Klagelied von der
diktatorialen Beschneidung der Pressefreiheit sangen, kontrollierten sie
in Wirklichkeit fast hundert Prozent der nationalen Medien. Sie
funktionierten in der Tat planmässig, bereiteten während vieler Monate
das Terrain für die Machtübernahme vor und übernahmen in den
entscheidenden Tagen sowohl die Funktion für die konterrevolutionäre
Mobilisierung wie auch die Verzerrung der Fakten, welche von den
internationalen Medien selbstredend ohne Widerspruch übernommen wurde
(,Streik', die Umdeutung der bewaffneten Provokation, die Ruhe im Land
nach dem Putsch, der ,Rücktritt' des Präsidenten etc.). Wenige Stunden
nach dem Putsch waren übrigens die meisten bolivarianischen Homepages,
auch auf Servern in den USA, abgeschaltet.

Die meisten internationalen und Schweizer JournalistInnen erfüllen ihre
Aufgabe mit einer trotz mancher Erfahrungen immer wieder neu
widerwärtigen Servilität. Was bei den Militärputschen der 70-er Jahre
freudige Erwartung war, von der man heute einfach so tut, wie wenn es
sie nicht gegeben hätte, ist heute die Darstellung des Putsches als eine
Art Regierungswechsel für Neuwahlen, mit der salbungsvollen Hoffnung auf
wirkliche, nicht wie bei Chávez bloss ,populistische Reformen'.
Natürlich wird in der kommenden Zeit dieses und jenes über
Ungereimtheiten gesagt werden dürfen, homöopathisch wie immer, und geht
was schief, findet sich immer ein Venezuelaner, dem das Etikett Dummkopf
angehängt werden kann.

Die ,Ölspur' im Umsturz ist offensichtlich. Verblüffend ist nur, wie
lange sie medial unterschlagen werden kann, obwohl/weil sie direkt in
einen der Wirkungsstränge im terroristischen Weltkrieg nach dem 11.
September weist. Doch sollte der Putsch nicht auf das Öl reduziert
werden. Ins Auge springt auch die Funktion für den großen Andenkrieg,
der mit dem Angriff auf die Verhandlungszone der FARC in Kolumbien
letzten Monat eskaliert wurde. Jetzt ist ein wichtige ,störender' Faktor
ausgeschaltet worden. Schon unter Clinton waren mit dem Plan Kolumbien
die Weichen dafür gestellt worden. Die Ernennung des CIA-kubanischen
Contragateverbrechers Otto Reich zum Lateinamerikachef im State
Department vor ein paar Monaten markierte den Übergang zur aktiven
Umsetzung der Planung. Die für nächsten Monat vorgesehene Wahl des
Faschisten Uribe Pérez zum Präsidenten von Kolumbien, der mit seinen
offensichtlichen Drogengeschäften von Washington beliebig erpressbar
ist, wird dann das Signal für den Großangriff auf die kolumbianische
Guerilla, aber auch die Sozialbewegungen in der ganzen Andenrepublik
geben. Es ist zudem vermutlich eine Frage der Zeit, bis auch die
cubanische Regierung verstärkt angegriffen werden wird.

Ein Moment der Kampagne gegen Hugo Chávez wurde in der internationalen
Berichterstattung weggefiltert: Die rassistische Wut, mit der er von der
kreolischen Elite mit Schwarzen, Plebs und Indígenas assoziiert wurde.
Das führt direkt in die von uns nur schwer wahrzunehmende Verbindung des
bolivarianisch-lateinamerikanischen Nationalismus mit der Sehnsucht der
Unterklassen, "Randgruppen", Indígenas nach Befreiung. Die Gegenseite
irrt da weniger. Um ihre Vorstellungen vom Ölgeschäft zu realisieren,
sorgt sie mit sicherem Instinkt für Verzweiflung in den Hütten der
Armen. Das Öl wird zur Chiffre für den umfassenden Sozialangriff, auch
auf den ,populistischen Nationalismus'.

Die Frage bleibt, warum dieses Gemisch von sozialer Utopie und
bolivarianischem Nationalismus im entscheidenden Moment anscheinend so
wenig Macht entfalten konnte. Etwas muss in diesen Jahren
bolivarianischer Regierung ziemlich schief gelaufen sein, um z.B. bei
einem Putsch, dessen Herannahen wir hier erfassen konnten, nicht
zumindest mit vorbereiteten Gegenmobilisierungen auf die
Konterrevolution vom 11. April zu reagieren. Die spontane, aber zu spät
erfolgende Mobilisierung von den Armutszonen auf den Berghügeln hinunter
in die Stadt zeigt ja, dass es nicht einfach an Entschlossenheit
gemangelt hat. Eine Frage, auf die hoffentlich aus Venezuela eine
Antwort kommt.

Hier müssen wir uns überlegen, was wir machen können, nach Afghanistan,
unter dem Eindruck von Jenin, vor den nächsten Kriegen. Aus Venezuela
kommt die Aufforderung, uns für die Unversehrtheit und Freilassung der
Gefangenen inkl. Hugo Chávez' einzusetzen, für die Nichtanerkennung der
Putschisten, für die Aktivierung des IKRK ...


ZH, 13.4.02

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