Aus den Informationen der Massenmedien ergibt sich der Anschein, als ob das ganze Volk will, dass der Präsidenten Chávez sein Amt niederlegt. Betrachtet man jedoch, wie die einfache Bevölkerung in den Elendsgürteln diesen Machtkampf erlebt, so wird ein differenzierter Standpunkt erkennbar. Hier zeigen sich die Sorgen, die Angst und auch die Hoffnung eines Landes mit menschlicherem Antlitz.
Nachstehend geben wir ein Telefongespräch wieder, das eine in Hamburg lebende Venezolanerin am 15.12.02 mit ihrer Mutter geführt hat, die in "BIMA", einem armen Stadtviertel auf einem Hügel im Westen von Caracas wohnt:
- Guten Abend, Mama.
- Gott segne Dich, meine Tochter. Ist alles in Ordnung?
- Ja, es geht so. Wie sieht es bei Euch aus?
- Hier machen sich die Leute gerade fertig, um zur Demonstration von Chávez zu gehen. Gestern haben die "Escuálidos" (1) eine Demo mit vielen Leuten gemacht. Da ist Ortega (2) dieser hässliche Mensch bloß über Chávez hergezogen und hat gesagt, dass der Streik erst dann aufhört, wenn Chávez geht.
- Glaubst Du, dass sie stark genug sind, um das zu schaffen? Was sagen denn die Leute?
- In einer Hinsicht scheint es so. Aber wenn wir uns hier unterhalten, sagen wir immer, dass man mit Geld alles kaufen kann, besonders die Reichen. Sie haben es nicht geschafft, alle Geschäfte zu schließen. Wir konnten hier einkaufen. Natürlich werden jetzt Sachen knapp, weil die Leute alles kaufen. Die Händler verdienen immer mehr. Das Problem ist das Erdöl. Man hört, dass es Schwierigkeiten mit den Schiffen gegeben hat, dass sie nicht alle beladen werden konnten. Man sagt, das der "Gocho" Carlos Andrés (3) , Lusinchi (4) und die Leute von COPEI (5) dahinterstehen. Ich meine, dass sie nicht genug Kraft haben, denn trotz all dem haben sie ja noch nicht geschafft, Chávez aus dem Amt zu jagen.
- Tatsache? Da kommt man schon ins grübeln. Vielleicht machen sie weiter, bis sie erschöpft sind.
- Das auf jeden Fall. Die Leute haben den ganzen Kram mit den Beleidigungen von allen Seiten satt. Deshalb stehen sie ja hinter Chávez, weil die Reichen nichts von den Armen wissen wollen und das wird noch schlimmer werden, wenn sie Chávez aus dem Amt kriegen. Deshalb wollen die Leute jetzt gerade los zur Demo von Chávez. Die Leute aus dem Barrio können die "Escuálidos" nicht leiden; wer soll die denn auch leiden können, die wollen doch nur Gewalt. Die respektieren doch niemanden, nicht einmal die OAS (6). Sie sagen, dass die Chávez unterstützt oder dass man einen Ausweg von der Verfassung aus suchen soll.
- Mama, aber was macht ihr, wenn ihr nichts mehr zu essen habt?
- Hier haben viele zum Durchhalten eingekauft und wenn dann einer nichts mehr hat, dann hilft man sich eben. Was uns am meisten sorgt, ist diese ständige Spannung mit den Beleidigungen. Die da, die Reichen schlagen um acht Uhr abends immer auf ihre Töpfe und von hier aus antwortet man mit Silvesterraketen. Und um zehn Uhr fängt das Töpfeschlagen der Armen an und hört erst nach Mitternacht auf. So geht das jeden Tag, meine Tochter. Die Töpfe von den Reichen hört man hier nicht, weil das wenige sind, aber unsere dröhnen ordentlich, denn die sind doch von Armenvierteln umgeben.
- Und was glaubst Du, wie das enden wird?
- Ich weiß nicht, denn es sind nicht nur sie, die Chávez nicht leiden können. Man sagt, dass die Gringos unser Erdöl wollen. Ach, meine Tochter, das wird schlimm. Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die bereit sind, sich zu schlagen wie jetzt. Morgen wollen die "Escuálidos" nach Miraflores (7) ziehen und dort wird es für sie Krieg geben, denn dieser Palast wird Tag und Nacht vom Volk bewacht. Ich denke, dass das nicht bald aufhören wird. Das Volk ist für Chávez und riskiert alles. Wie man sagt, haben wir, die Armen, immer verloren, aber dieses Mal ist die Hoffnung wieder aufgelebt und die Reichen sagen schon, dass sie vom Pöbel nichts wissen wollen und wenn sie durchkommen, dann werden die Armen wieder verkohlt.
- Habt Ihr zu Hause Vorkehrungen getroffen?
- Ja, meine Tochter. Wir haben vor dem Streik eingekauft. Man lebt hier ständig unter Stress und kauft nur Essen ein. Als Armer hat man wirklich kein Glück. Wir wollen, dass das endlich aufhört. Dein Vater kann bei dem ganzen Krach nicht schlafen und wird noch kränker, als er schon ist. Ich habe Angst und sage meinen Kindern, dass sie aufpassen sollen. Sie gehen jetzt schon zur Demo.
- Gut, Mama. Ich muss jetzt aufhören. Pass auf Dich auf. Ich melde mich dann wieder.
- Gott segne Dich und achte auch auf das Kind.
(1) In den Barrios und von Chávez als Schimpfwort für die "Reichen" verwendet. Soll etwa "abstoßende und schwächliche Person" bedeuten, kann auch als "haifischartig" übersetzt werden.
(2) Präsident der großen Gewerkschaft CTV, dessen Wahl wegen Betrugs gerichtlich angefochten wird.
(3) Ex-Präsident Venezuelas, ließ 1989 einen Volksaufstand blutig niederschlagen, musste wegen Verwendung illegaler Gelder zurücktreten.
(4) Ex-Präsident Venezuelas.
(5) War bis zur Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten 1998 eine der zwei großen Parteien Venezuelas.
(6) Organisation der amerikanischen Staaten, versucht in Venezuela zwischen Opposition und Regierung zu vermitteln.
(7) Amtssitz des Präsidenten.