"Unser Kampf ist ein weltweiter Kampf"

Interview mit Rodrigo Chaves, nationaler Koordinator der Bolivarianischen Zirkel, einer Massenorganisation zur Unterstützung der bolivarianischen Revolution in Venezuela.

Von Dario Azzellini, Dezember 2002

Obwohl der Streik der Opposition bereits am ersten Tag offensichtlich gescheitert war, beschlossen Unternehmerverband und CTV ihn fortzusetzen. Was steckt dahinter?

Zunächst einmal ist es wichtig zu sehen, wer sich dem bolivarianischen Prozess entgegenstellt. Venezuela hat eine sehr hohe Marginalisierungsrate, denn obwohl es ein sehr reiches Land ist, wurde es von sehr kleinen wirtschaftlichen und politischen Gruppen verwaltet, daran waren auch die Kirche und einige an die Parteien gebundene Gewerkschaften beteiligt. Sie haben die Institutionen und Organisationen in Beschlag benommen und das Bild eines - aus der Sicht der Mittel- und Oberschichten - wohlhabenden Landes gezeichnet. Dahinter versteckte sich eine völlig verarmte Bevölkerung in einer Situation in der selbst Rechte zur Ware verkommen waren. Es lässt sich auch statistisch nachweisen, wie sich in den letzten 15 Jahren das Gesundheits- und Bildungssystem, die Wohnsituation, die Reallöhne, die sozialen Rechte usw. stets verschlechtert haben. Es begann dann ein Bewusstseinsprozess der Ausgeschlossenen, der schließlich Hugo Chavez Frias ins Präsidentenamt brachte.

Daraufhin begann der Wiederaufbau eines völlig ausgeplünderten und verelendeten Staates, der Prozess der Wiedererlangung des Selbstbewußtseins der Bevölkerung, der Achtung des "Bürger sein", der Aufbau eines Rechtsstaates und sozialer Gerechtigkeit, die Verteilung der staatlichen Ressourcen zu Gunsten der gesamten Bevölkerung und nicht nur zu Gunsten sozialer Eliten. Das hat denjenigen natürlich nicht geschmeckt die während ihrer Demokratie über 400 Milliarden Dollar aus dem Land gesaugt hatten, die den Großteil der staatlichen Betriebe zu Grunde richteten und privatisierten, die alles für den Neoliberalismus und die kapitalistische Globalisierung vorbereiteten. Denn es kam zu einer Unterbrechung dieses Verlaufs, als der Prozess der bolivarianischen Revolution einsetzte. Das auch noch mittels ihrer Spielregeln, den Wahlen, Spielregeln, die diese Stellvertreter des Imperialismus jetzt selbst nicht mehr achten. Der Aufbau eines neuen Staates hat den bewußten und selbstbewußten Menschen als Grundlage und der kann nicht mehr manipuliert werden und das passt der Oligarchie nicht. Deshalb beginnt sie den bolivarianischen Prozess anzugreifen und tut gerade so. als hätte es vorher keine Klassen und keine Armut gegeben, als wäre vorher alles schön und gut gewesen, ein blühendes Venezuela hat sich in ihrer Darstellung ganz plötzlich in eine Desaster verwandelt.

Es war völlig logisch, dass diese ehemaligen Herren des Landes nicht mit dem Venezuela, das aufgebaut werden soll, einverstanden sein konnten. So begann ein wirklicher medialer Terror, 24 Stunden am Tag, über alle Fernseh- und Radiosender, alle Tageszeitungen bis auf eine, in denen dem Land und der Welt ein Venezuela gezeigt wird, das ihrer Ansicht nach vorher nicht existiert hat. Dahinter steckt ein bloßer Machtanspruch um den Prozess der Privatisierung des Staates zu ihren Gunsten wieder anzutreiben. Es ist kein Zufall, dass der Vorsitzende des staatlichen Erdölkonzerns bevor Chavez an die Macht kam, heute Berater von Bush under US-amerikanischen Erdölkonzerne ist. Vorher hat er für eine ständige Überproduktion gesorgt, um den Barrel-Preis auf sieben Dollar zu drücken. Nun ist die Überproduktion wieder gedrosselt worden.

Daher hat sich die Opposition gegen die Chavez-Regierung immer weiter radikalisiert, bis es am 11. April 2002 zu einem Staatsstreich kam. Und obwohl der Präsident gefangen genommen wurde und außer Landes geschafft werden sollte, war es nach Ansicht der Justiz, die sich in den Händen der Opposition befindet, kein Staatsstreich. Dabei gab es 50 Tote und über 4000 Verhaftungen, es wurde das eingeleitet, was in Chile als "Karawane des Todes" bezeichnet wurde. Doch nach nicht einmal 48 Stunden wurde dieser Staatsstreich von der Bevölkerung, die ein gerechteres Land will, wieder rückgängig gemacht. Damit sind aber auch viele Oppositionelle wieder in ihre Ämter zurück gekehrt. Aber das ist eben ein Rechtsstaat.

Doch die Opposition ist nach diesem Rückschlag weiter auf ihrer putschistischen Linie geblieben und die Streiks sind ein Ausdruck davon. Es sind die Reaktionen eines verletzten Tieres. Obwohl die Opposition eine subtile Manipulation mittels der Medien betreibt, hat sie es nicht geschafft das Land davon zu überzeugen das Chavez gehen muss. Also rufen sie zum Streik auf. Der Streik ist gescheitert, weil sie es nicht geschafft haben das Land zu paralysieren, nicht einmal der Erdölsektor, wie sie dachten. Daher haben sie den Streik sogar noch verlängert, und wie am vergangenen 11. April beschlossen sie auf die Straße zu mobilisieren, als sie sahen, dass der Streik scheitert. Sie haben massiv zum Erdölunternehmen mobilisiert, wo sich die korrupteste aller Eliten befindet. WO eine Elite von etwa 1000 Personen es geschafft hat die PDVSA zu unproduktivsten Erdölunternehmen der Welt zu machen. Es gibt kein Erdölunternehmen der Welt das für seiner Anteilhaber - in diesem Fall die venezolanische Bevölkerung - so wenig abwirft. Diese Eliten stützen sich auf einen kleinen Kreis korrupter Reicher, auf die katholische Kirchenhierarchie und werden natürlich auch von verschiedenen transnationalen Unternehmen und verschiedenen Regierung unterstützt. Nicht umsonst haben Bush und der spanische Regierungschef Aznar den Putsch begrüßt, während die US-Marine schon vor der Küste Venezuelas ihre Runden drehte. Die verschiedenen internationalen Finanzinstitute, IWF und Weltbank verkündeten bereits am nächsten Tag Venezuela könne alle Kredite bekommen, die es brauche und wolle.

Wir kämpfen in Venezuela den gleichen Kampf wie in den vergangenen 500 Jahren: Eine Bevölkerungsmehrheit kämpft gegen eine extrem ungerechte und ungleiche Welt und für die Gleichheit von Rechten, die sich nicht nach Klassenzugehörigkeit oder Hautfarbe richten. Das ist auch nicht der Kampf von Venezuela oder Lateinamerika allein, das ist ein weltweiter Kampf und als solcher muss er auch gesehen werden. Das sollten auch alle linken Parteien und Bewegung weltweit und auch in Europa verstehen. Auch wenn sie Kritik uns haben. Wir haben sicher auch Fehler gemacht, aber unser politische und ideologische Ausrichtung ist sehr klar. Wir stehen für eine andere Gesellschaft, eine die auf Rechten und auf Gleichheit beruht. Eine Gesellschaft in der jeder von Geburt an gleich ist und Zugang zu Bildung, Ernährung, Wohnung, Gesundheit usw. hat.

Zugleich besteht aber in Venezuela auch das Problem der sogenannten doppelten Macht, also das viele Ämter und Institutionen von Leuten besetzt sind, die den Prozess nicht unterstützen, zur Opposition gehören... oft scheint es als würde die Basis den Prozess viel stärker radikalisieren wollen, als es die Regierung tut und kann...

Als wir beschlossen haben uns zu Wahlen aufzustellen und die Macht gemäß der Regeln der Eliten, der Privilegierten zu übernehmen, haben wir die Macht gewonnen und nun gehört die Regierung uns. Aber die Struktur der Institutionen entspricht natürlich anderen Interessen als denen eines revolutionären Prozesses mit bolivarianischen Charakteristiken. Doch mit der neuen bolivarianischen Verfassung haben wir auch beschlossen die Rechte der Arbeitnehmer zu achten. Viele von diesen sind über das alte klientelistische System und ihre Anbindung an gewisse Parteien in die Stellen gekommen. Das führt dazu, dass die sozialen Organisationen eine extrem wichtige Rolle in unserem Prozess spielen, sie sind es, die Druck auf die Institutionen ausüben müssen, damit diese ihre Gelder breiter streuen, ihre Politiken dezentralisieren. Es kann einen Minister geben, der mit allem einverstanden ist, aber wenn die Institutionen nicht funktionieren, dann ist das schwer durchzusetzen. Es gibt die Macht des Obstruktionismus, also des behindern und blockieren des Prozesses und da haben die sozialen Organisationen eine fundamentale Rolle. Genau deswegen sind die zwei grundlegenden Ziele der Opposition Hugo Chavez zu beseitigen und die sozialen Organisationen zu zerschlagen. Und da haben die bolivarianischen Zirkel ein besonderes Gewicht, in ihnen sind neun Prozent der gesamten Bevölkerung organisiert. Darauf zielte auch die Karawane des Todes der Putschisten. Deswegen stellen die sozialen Organisationen die Speerspitze der bolivarianischen Revolution dar. Die Politiker können die Räume öffnen, aber diese zu Füllen, das muss die Bevölkerung tun, die soziale Organisierung.

Bezüglich der Bolivarianischen Zirkeln ist es daher wichtig zu betonen, dass wir nicht eine nur quantitative Arbeit machen, also soviel Leute wie möglich organisieren, sondern eine qualitative Arbeit. D.h. die Menschen sollen Akteuere in einem Prozess sein, ihn mitgestalten, sich beteiligen an Entscheidungsprozessen bezüglich der Organisation des Staates und diese Gemeindeentscheidungen sind dann bindend für die Institutionen. Das steht klar und deutlich in der bolivarianischen Verfassung, in der sich 80 Artikel mit der sozialen Organisierung und ihrem Recht auf Beteiligung beschäftigen. Dort sind die Regeln festgesetzt, die die Beteiligung am Gemeinwesen und der öffentlichen Verwaltung des einzelnen Bürgers und der organisierten Gemeinschaft garantieren, sowohl in der Entscheidungsfindung des Staates als auch in der öffentlichen Kontrolle der Gelder.

Es gibt Ereignisse in Venezuela, die selbst die Basis in vielen Fällen nicht versteht und ein Eingreifen des Staates fordert. Wie etwa dass sich eine Gruppe Militärs in Uniform auf einem Platz sammeln kann und wochenlang zum Sturz der Regierung aufruft. Das mag ja für die "Freiheiten" in Venezuela sprechen, aber das gibt es in keinem Staat der Welt. Warum greift der Staat nicht ein?

Das muss im internationalen Kontext betrachtet werden. Die USA haben ein großes Gewicht und es ist für niemanden ein Geheimnis wem die Organisation Amerikanischer Staaten OEA oder die UNO dienen. Es stimmt wohl das es nirgendwo auf der Welt erlaubt werden würde, dass sich Militärs die aufgrund ihrer Beteiligung an einem Putsch ins Gefängnis müssten, sich auf einem öffentlichen Platz wochenlang hinter Frauen und Kindern verstecken können. In den USA würde Bush bestimmt nicht erlauben, dass sich ein General auf einen Platz setzt, ihn als "Irre" beschimpft und fordert ihn zu stürzen. Aber wir wissen genau, dass wenn wir dort eingreifen es sofort für alle möglichen Staaten, die us-amerikanischen Interessen folgen, ein Grund wäre, um irgendwelche Massnahmen gegen Venezuela zu ergreifen. Es wird ständig versucht irgendwelche vermeintlichen Gründe für ein Vorgehen gegen Venezuela zu konstruieren. Venezuela ist wahrscheinlich das Land mit der weitgehendsten Pressefreiheit in der Welt und dennoch sind wir bei der Internationalen Presse Gesellschaft unter Beobachtung. Stell dir vor was wohl passieren würde, wenn wir eine Zeitung anrühren oder auch nur einem Journalisten etwas tun würden! Und das in einem Land in dem es vorher durchaus üblich war Zeitungen zu schließen, Journalisten zu verhaften, die sich gegen die Regierung äußerten. Und heute wo es das nicht mehr gibt, wird behauptet es gäbe keine Pressefreiheit. Das ist Folge des Medienzirkus, der das Land auch vieler Möglichkeiten beraubt dem Gesetz nach vorzugehen. Aber das sind Etappen des Prozesses.

Bei diesem letzten Streik z.B. wurde mit Tränengas verhindert, dass sich die Putschisten in den Anlagen der PDVSA sammeln, um das gleiche zu tun wie am letzten 11. April, eine Mobilisierung zu organisieren um Tote herbeizuführen und dann mit der gleichen Geschichte wir letztes mal zu kommen.

Es ist wichtig auf internationaler Ebene die falsche Medienmacht zu durchbrechen. Auf dem XI. Foro de Sao Paulo wurde z.B. im Andenforum von allen anwesenden linken Organisationen und Parteien beschlossen Venezuela auf seinem Weg zu begleiten und zu unterstützen.

Das ist sehr wichtig, denn die Putschisten sind sehr mächtig, hinter ihnen steht z.B. der Ex-Präsident Carlos Andres Perez, der ein Mörder ist. Er ist verantwortlich für Tausende Tote bei der Niederschlagung von Protesten, sogar ein Anwalt der gegen ihn geklagt, wurde beseitigt. Dann ist da Gustavo Cisneros ein internationales Multimilliardär, Hauptaktionär mehrerer TV-Sender in Venezuela, einer Mobiltelefongesellschaft ... das ist die Macht des Geldes, die die Politik gefügig macht, Bush mit eingeschlossen.

Warum wird dann nicht stärker am Aufbau eigener großer Medien und Kommunikationsstrukturen gearbeitet?

Wir haben viele wirtschaftliche Einschränkungen. Wir haben eine Situation geerbt in der 40% der staatlichen Einnahmen an die Zahlung der Auslandschuld gehen. Die korrupte Elite in der Erdölgesellschaft steckt weiterhin einen Großteil der Einnahmen ein. Selbst wenn der Barrel Öl bei 22-23 Dollar liegt, kommen beim Staat nur etwa 5 Dollar davon an.

Daher haben wir vor allem auf die Förderung alternativer Medien gesetzt: Lokales Fernsehen und Radios, Zeitungen, Flugblätter, Telefonketten, Internet ... so kommunizieren wir in Venezuela. Denn wenn du deinen Fernseher anschaltest, dann siehst du ein Venezuela, das mit der Wirklichkeit um dich herum nichts zu tun hat. Aber es stimmt, in der internationalen Kommunikation haben wir große Schwächen, es wurde auch schlecht gehandhabt. Aber wir versuchen jetzt auch mehr zu Reisen und von der Wirklichkeit Venezuelas zu berichten, denn wir haben keinen Zugang zu den Hebeln der Welt und müssen daher direkt mit den Menschen sprechen. Ein Resultat ist dass es am 5. Februar einen großen Kongress der linken Organisationen aus den fünf Andenstaaten in Venezuela geben wird und dort mit der venezolanischen linken Organisationen diskutiert wird.

In Lateinamerika wird oft die negative Rolle der USA betont und dabei stark auf Europa gehofft...

Klar wird die Rolle der USA unterstrichen, sie behandeln uns wie ihren Hinterhof. Aber wir unterschätzen auch Europa nicht. Spanien hat in Venezuela 300 Jahre lang gewütet und auch die Putschisten unterstützt. Wir sind uns dessen durchaus bewusst. Aber es gibt Regeln in dieser Welt, die wir nicht ändern können. Daher müssen wir mit verschiedenen Ländern in Beziehungen treten ohne dabei zu vergessen, dass auch alle Interessen in Venezuela haben.

Wie sind die Perspektiven der bolivarianischen Revolution?

Wir wissen, dass es ein sehr lange Prozess ist. Aber wir werden alles tun um eine gerechtere Gesellschaft auzubauen, die Reichtümer gerecht zu verteilen und die Gegenseite, das hat uns auch Kuba gezeigt, wird alles tun um ihr Ziel zu erreichen. Aber ich vertraue darin, dass die Zeit auf unserer Seite ist.

Vielen Dank für das Gespräch


Venezuela | www.agp.org