Venezuela: Das Entstehen einer neuen sozialen Bewegung aus der "Kultur des Notstands" (Interview)

Interview: Birgit Mazinka / Nils Brock, npl | 23.08.2005
http://www.jungewelt.de/2005/08-23/020.php

»Chávez hat den Armen eine Stimme gegeben«

Soziale Bewegungen sind wichtig für Venezuela. Noch keine Diskussion über »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«

Ein Gespräch mit Edgardo Lander, Professor für Soziologie an der Universität in Caracas

F: Die sozialen Bewegungen in Venezuela sind zu wichtigen gesellschaftlichen Akteuren geworden. War das schon immer so?

Sicher nicht. Verglichen mit anderen Ländern in Lateinamerika war die soziale Organisierung in Venezuela im 20. Jahrhundert sehr schwach. Die sehr unterschiedlichen sozialen Organisationen waren im großen Maße von den Parteien abhängig. Dies betraf sowohl Frauen- und Jugendorganisationen als auch die Gewerkschaften, die kaum Erfahrung mit Basisorganisation hatten.

F: Wann hat sich das geändert?

In den vergangenen 25 Jahren nahm die politische und wirtschaftliche Polarisierung zu. Sie hatte ihren Ursprung darin, daß erstens die Erdöleinnahmen seit den 70er Jahren zurückgingen und daß zweitens die damals vorherrschenden sozialdemokratischen Parteien in die Krise gerieten. Wirtschaftlich, aber auch in kultureller Hinsicht, vertiefte sich die Spaltung zwischen Mittel- und Unterschicht. Die Mittelschicht meinte, Venezuela sei ein reiches Land und sie selbst hätten das Recht, an der Konsumwelt der Länder des Nordens teilzuhaben. Die Ärmeren kamen im politischen System nicht vor und wurden durch niemanden mehr repräsentiert.

F: Wie entwickelte sich der Konflikt?

In den ärmeren Stadtteilen entstand eine eigene Kultur. Vielerorts wurde sie als »Kultur des Notstands« charakterisiert. Eine Kultur, zu der auch eine gewisse Bereitschaft zur Gewalt gehörte. Das gilt besonders für männliche Jugendliche aus den Barrios, die in den kleinkriminellen Drogenhandel verwickelt waren.

F: Das klingt nicht gerade politisch.

Das war durchaus politisch, wenn man die gesellschaftlichen Zusammenhänge betrachtet. In Venezuela herrschte lange die Illusion, eine gute Ausbildung bringe auch einen Arbeitsplatz und Wohlstand mit sich. Doch allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, daß man trotz Ausbildung oder gar Studium arbeitslos sein konnte. 1989 gab es den Caracazo, das war eine soziale Explosion mit Plünderungen. Dadurch wurde die brodelnde Unzufriedenheit deutlich - eine Unzufriedenheit, die weder eine klare politische Linie noch ein erkennbares Ziel hatte. Sie war Ausdruck der Ablehnung des Projekts der Eliten, Menschen aus gesellschaftlichen Zusammenhängen und aus der Politik auszuschließen.

F: Welche Haltung hat die Chávez-Regierung in Hinblick auf diese neue soziale Bewegung aus der Unterschicht?

Einer der Mythen der venezolanischen Mittelschicht ist die Vorstellung, daß Chávez die Gesellschaft gespalten hat und die Polarisierung vorantreibt. Aber in Wirklichkeit waren in diesem Prozeß die Menschen entscheidend, die vorher keine öffentliche Stimme hatten. In gewisser Weise hat Chávez sie ihnen gegeben.

F: Kann man den von Chávez eingeleiteten Prozeß der bolivarianischen Bewegung als Projekt für die Marginalisierten bezeichnen?

In vielerlei Hinsicht schon. Ein Beispiel ist die Übertragung von Eigentumsrechten nach Landbesetzungen in den armen Stadtteilen von Caracas. In der Mehrheit handelt es sich hierbei um staatliche oder private Grundstücke, die bereits seit langer Zeit besetzt sind. Die Anerkennung des Grundstückseigentums ist dementsprechend kompliziert. Die städtischen Grundstückkomitees, die sich in den letzten Jahres in allen Städten des Landes gegründet haben, stellen sich der basisdemokratischen Lösung dieses sozialen Problems.

F: Hat man sich unter solchen Prozessen den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« vorzustellen, von dem Chávez in letzter Zeit wiederholt gesprochen hat?

Wenn heute in Venezuela vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« gesprochen wird, wird eigentlich die Tür zu einer neuen Debatte geöffnet. Darüber, ob er ein Modell der Demokratisierung des Eigentums ist - was mehr der europäischen Sozialdemokratie in ihren guten Zeiten nahe kommt. Oder ob er auf eine durchgreifende Veränderung der Besitzverhältnisse abzielt. Das wird im Moment leider noch nicht diskutiert.


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