erschienen in «Antidot» Dezember 2006
Von Philipp Gerber
Schulen werden überfallen: Schwer bewaffnete Spezialeinheiten dringen in Kindergärten und Grundschulen ein und entführen die anwesenden LehrerInnen, denen die Teilnahme an der Volksbewegung APPO vorgeworfen wird. Gefangene, sogar Menschrechtler, werden gefoltert: Wir senden deine Glieder einzeln deinen Familienmitgliedern zu, wir werfen dich aus dem Helikopter, lauten die harmlosesten Drohungen. Kirchenmänner sprechen von Zuständen wie im Guatemala von Rios Montt und postwendend attackieren sie Paramilitärs. Internationale Menschrechtsorganisationen schreien auf, sie hätten geglaubt, Verschundene habe es nur in den Militärdiktaturen Südamerikas gegeben, nun hätten sie eine lange Liste solcher Namen in Oaxaca. Auf dem Land wird ein Militanter der sozialen Organisation CODEP niedergeschossen, er liegt mit fünf Kugeln im Leib in einem Spital und seine Compañeros fürchten, dass er noch in diesem Zustand von Polizeieinheiten verschleppt wird.
Das sind die düsteren Nachrichten aus dem Oaxaca von Anfang Dezember. Die "harte Hand" von Calderón bekommt als erstes die Volksbewegung APPO in Oaxaca zu spüren. Die APPO, eine bisher mit nicht-militärischen Mitteln kämpfende Koalition von Massenorganisationen, soll vernichtet werden. Oaxaca darf nicht Schule machen, denn die APPO steht für eine neue, radikal basisgenerierte Art der Politik, und für einen Aufstand gegen die neoliberale Privatisierungsmafia, mit welcher in Oaxaca auch Firmen wie ABB und Nestlé ihre Geschäfte machen. An diesem grossen Aufstand nahmen viele, fast alle teil, blieben sechs Monate lang auf den Barrikaden, auf den Demos, in den Radiostationen. Eine unvorstellbar lange, kräfteraubende Mobilsierung, AktivistInnen wie die berühmte Doctora Bertha von Radio Universidad - über die sogar die NZZ respektvoll als "Stimme des Widerstands" schrieb (bzw. aus El Pais abschrieb) - bestehen nur noch aus Haut und Knochen. Aber nie hat sich die Bewegung verlaufen, sie ist bloss angesichts der massiven militärischen Besetzung seit Ende Oktober abgetaucht.
Und das Grüpplein der Aufrechten um den kokainabhängigen Gouverneur Ulises Ruiz ist so klein, dass es nicht einmal gelang, im sogenannt befriedeten Stadtzentrum den Hauptplatz mit den vorweihnachtlichen Blumengaben der BürgerInnen zu beschmücken, wie das Tradition ist; so wurden zwei Drittel des Platzes noch schnell von der Regierung ausgeschmückt. Ruiz simuliert weiterhin Normalität, eine Normalität, in der Verfolgung und Folter, Korruption und Vetternwirtschaft eben die Norm ist, und die von der Bevölkerung in Oaxaca nach diesem halben Jahr der radikalen Politisierung und der gelebten Utopie nie mehr hingenommen werden wird.
Am Freitag, den 1. Dezember, übernahm Calderón mitten in einem medial inszenierten Tumult im Parlament die Macht, wo Abgeordnete der Regierungspartei PAN unter Anleitung der Präsidentengarde des Militärs die Tribüne mit Barrikaden aus Parlamentssesseln und Fausthieben verteidigten. Am Montag, dem ersten regulären Arbeitstag des Präsidenten, traf Calderón sich zuallererst mal mit der spanischen Unternehmerschaft. Für Dienstag waren dann Verhandlungen mit der APPO angekündigt, worauf sich einige Vertreter der APPO aus der Klandestinität an die Öffentlichkeit trauten, darunter Flavio Sosa. Und flugs wurden sie aus einer Pressekonferenz heraus verhaftet. Verhandlungen als Falle (wie 1995 in Chiapas, wie 1919 bei der Ermordung von Emiliano Zapata). Diesen Mittwoch das hehre und dennoch nicht selbstlose Angebot der sozialdemokratischen PRD and die Regierung Calderón, alle Streitigkeiten über dessen Amtsantritt und das Budget zu beenden, wenn er das Problem in Oaxaca p olitisch löse, die Gefangenen frei- und den Gouverneur entlasse.
Mexiko verspielte 2006 seinen schon vorher angezweifelten demokratischen Ruf komplett. Die politischen Spielräume wurden schnell immer enger und sind auf die vier ungleich abgeschrägten, grellweissen Wände der Hochsicherheitsgefängnisse zusammengeschrumpft, wo sich nicht nur Kommandanten der Guerillas gegen die weissen Folter zu wehren versuchen sondern immer mehr auch StudentInnen, Bauern von Atenco, LehrerInnen einsitzen. Der alte mexikanische Romancier Carlos Fuentes, der alles andere als ein linker Aktivist ist, mahnte vor zwei Jahren, als López Obrador durch einen konstruierten Prozess von der Kandidatur zur Präsidentschaftswahlen abgehalten werden sollte: Wenn man der mexikanischen Linken die parlamentarische Partizipation verweigere, dann bleibe ihr bloss der leidvolle Weg zurück in die Berge, in die Guerilla. Heute, nach 2006, nach Atenco, Wahlbetrug und Oaxaca, scheinen diese Worte leider fast schon prophetischen Charakter zu haben.
Doch ein Funken Hoffnung glüht weiter: Am Sonntag, dem Tag der Menschenrechte, findet die achte Megamarcha in Oaxaca statt, trotz militärischem Belagerungszustand werden wieder zigtausende Oaxaqueños/as den Rücktritt des verhassten Gouverneurs fordern, unterstützt von der parlamentarischen Linken. Doch für den Fall der Verlagerung auf die militärische Ebene sorgt die mexikanische Regierung schon mal vor - und bestellt in Stans weitere Pilatus Porter PC9. Dass sie dieses Kriegsmaterial als bevorzugter Handelspartner der Schweiz problemlos geliefert bekommt, versteht sich von selbst. Ausser, wir machen gehörig Lärm.
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