A n m e r k u n g e n :
Die hier dokumentierten Analysen bestätigen aus unterschiedlichen Perspektiven, dass die EU-Regierungschefs in Nizza eigenhändig zerstört haben oder eigentlich zerstört haben sollten, was auch bei fortschrittlichen Menschen an restlichen Illusionen noch herumgeistern mag, dass nämlich diese "Europäische Konstruktion" noch in irgend einer Weise im Interesse der Mehrheit der europäischen Bürger zu verbessern und zu nutzen sein könnte. Und dennoch wird diese Illusion zum Beispiel von solchen Kräften in den Gewerkschaften gepflegt, die der rechten Sozialdemokratie verbunden sind, die auch zum NATO-Krieg Ja gesagt haben und die Vernichtung des sozialen Rentensystems geschehen lassen. Als Tummelplatz dient diesen gewerkschaftlichen EU-Schönrednern gegenwärtig unter anderem die Diskussion über die in Nizza verabschiedete Grundrechte-Charta der EU. Den aus Deutschland angereisten gewerkschaftlichen Demonstranten in Nizza sollte gerade die Forderung nach "sozialen" Verbesserungen in der Charta von oben eingeimpft werden. Dabei gibt es an dieser Charta rein gar nichts herumzudoktern. Dieses Papier bleibt vorerst rechtlich völlig, zielt zunächst nur auf Propaganda ab und stellt langfristig die Weichen für eine reaktionäre Entwicklung auf der ganzen Linie. Dass die Charta hinter die politischen und rechtlichen Errungenschaften zurückfällt, die im Zusammenhang von nationaler Verfassung, Europäischer Menschenrechtskonvention und allgemeiner Erklärung der Menschenrechte gegeben sind, könnten sich diese EU-Reformer, wenn sie denn hören möchten, auch von der FAZ (!) durch einen an der Uni Bonn lehrenden ordentlichen Professor der Philosophie (!) bestätigen lassen. (siehe Anlage 3) Wer die europäische Charta nachschlägt, schreibt Prof. Thomas Sören Hoffmann, "findet sich auf frappierend niedrigem Niveau wieder. Der Text atmet den Geist der freiheitsgezeugten Rechtsidee nicht mehr - und zwar gerade am wenigsten dort, wo er auf die 'Freiheiten' zu sprechen kommt."
Zur Vorschau auf Nizza habe ich in meiner Mail vom 5. 12. 2000 einen von der Partei der Arbeit Belgiens (PTB) vorgeschlagenen Enwurf einer gemeinsamen kommunistischen Plattform zum europäischen Gipfel in Nizza "NEIN ZUM EUROPÄISCHEN STAAT" verbreitet. Darin wird die These aufgestellt, dass "es sich in Wirklichkeit um die Schaffung der Grundlagen eines europäischen Staates" handelt, der wie folgt charakterisiert wird:
"Dieser Staat ist eine Schöpfung der europäischen Unternehmer. Die Gruppe, die auf die europäischen Entscheidungsträger den grössten Einfluss ausübt, ist der Runde Tisch Europäischer Industrieller. Dabei handelt es sich um eine Vereinigung von 48 Vorstandsvorsitzenden der großen transnationalen Konzerne des alten Kontinents: Alcatel, Bayer, Bertelsmann, BP Amoco, DaimlerChrysler, Fiat, Krupp, Philips, Renault, Shell, Siemens, Suez-Lyonnaise, TotalFina Elf, Unilever, Veba etc. Gegründet 1983 mit Hilfe der Europäischen Kommission, gab sie den Impuls für die Einrichtung des europäischen Binnenmarktes, den Vertrag von Maastricht, die Schaffung des Euro , die Erweiterung nach Osten und die Unterwerfung dieser Länder unter den westlichen Kapitalismus. Nunmehr streben diese Unternehmer nach einem staatsähnlichen Gebilde auf europäischer Ebene.
Ein solcher Staat ist und bleibt anti-demokratisch. Das Parlament hat nur sehr wenig Befugnisse. Alle Macht ist bei der Kommission sowie bei den Ministerräten und dem Europäischen Rat konzentriert. Jede dieser Institutionen steht unter dem Einfluss von Unternehmergruppen wie dem Runden Tisch. Reflexionsgruppen wie das European Policy Centre, wo Politiker und Geschäftsleute sich zusammensetzen, erarbeiten die Orientierungen für die Debatte über Europa. All dies geschieht in Unkenntnis und gegen die Interessen der Arbeiter.
Dieser Staat ist ferner auch anti-sozial. In beinahe völliger Einmütigkeit wollen die europäischen Verantwortlichen aus Europa eine superwettbewerbsfähige Einheit machen, damit die Unternehmen in der Lage sind, ihre amerikanischen und japanischen Rivalen zu schlagen. Dafür haben die Beschäftigten die Folgen hinzunehmen: Verfügbarkeit für den Unternehmer nach dessen Bedingungen, extreme Flexibilität, Senkung der Löhne und Sozialleistungen, Abbau der sozialen Sicherungssysteme, Nacht- und Wochenendarbeit, Verallgemeinerung von befristeter Beschäftigung, Leiharbeit und Teilzeitarbeit etc. Die Sozialcharta, die in Nizza ratifiziert werden soll, ist ein weiteres Beispiel sozialen Rückschritts: Kein Recht auf Beschäftigung, kein Recht auf Wohnung, kein Recht auf Einkommen.
Der europäische Staat ist und bleibt eine Kriegsmaschine. Zuerst gegen die Arbeiter. Dann gegen die Länder im Osten, die mit Gewalt dem Netz der europäischen transnationalen Konzerne einverleibt worden sind. Schliesslich gegen die USA und Japan; denn das Interesse der europäischen Unternehmer an diesem Staat beruht auf der angestrebten Fähigkeit, der politischen und militärischen Hegemonie Washingtons entgegenzutreten, letztendlich die USA als beherrschende Weltmacht zu ersetzen. Es ist ein imperialistisches Vorhaben."
Der Entwurf der Plattform verteidigt:
Die Plattform vertritt schliesslich die "Auffassung, dass wir, um diesen Europäischen Staat zu zerstören, um die Globalisierung der Märkte und des Kapitals zu stoppen, um die Wohlstandskluft in der Welt zu schließen, um eine Wirtschaft, wo der Mensch im Mittelpunkt steht, zu schaffen, die Gesellschaft verändern müssen."
Zu dieser Plattform schrieb mir der mir befreundete Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Schulz: "Warum ist das nicht ein Entwurf für eine gemeinsame Plattform aller Gegner der unsozialen und antidemokratischen Entwicklung der EU, unabhängig vom 'Glaubensbekenntnis' ."
Ja, warum nicht?
Mit internationalistischen Grüssen
Klaus von Raussendorff
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War er nun ein « Fortschritt » oder eine mühsam kaschierte Pleite, der « Gipfel » von Nizza — der bisher längste Gipfel in der Geschichte der EU (7.—11.12.2000)?
Das Urteil darüber hängt in erster Linie davon ab, welcher Massstab zugrundegelegt wird. Geht man von den Forderungen der 80 000 Demonstranten aus den Reihen der europäischen Gewerkschaften und zahlreicher anderer gesellschaftlicher Initiativen aus, die in Nizza ein Europa mit mehr sozialen und demokratischen Rechten forderten, ist die Bilanz von Nizza wohl eindeutig negativ.
Da wurde zwar eine « Grundrechtecharta » der EU proklamiert. Aber die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer hatten bisher kaum eine Chance, ihren Inhalt kennenzulernen, geschweige denn darüber mitzureden oder gar in einer Volksabstimmung über sie zu entscheiden.
Der Text dieser « Grundrechtecharta » war auf den letzten Drücker etwas verbessert worden, nach heftiger Kritik aus Gewerkschaften und auch von linken Abgeordneten des EU-Parlaments. So wurde das in früheren Entwürfen sorgfältig ausgelassene Recht von « Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern » auf « kollektive Massnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen einschliesslich Streik » doch noch aufgenommen — allerdings eingeschränkt durch den Verweis auf « einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten », die dabei einzuhalten sind. Es fehlen aber weiterhin entscheidende soziale und demokratische Grundrechte, beispielsweise das Recht auf Wohnung, das Recht auf ein existenzsicherndes Mindesteinkommen, das Recht auf Mitentscheidung am Arbeitsplatz und in den Unternehmen, das Wahlrecht für alle in der EU lebenden Menschen unabhängig von ihrer Herkunft. In Artikel 15 heisst es jetzt zwar nach langen Debatten: « Jede Person hat das Recht, zu arbeiten... » Aber das ist offenkundig nicht gleichbedeutend mit einem verbrieften « Recht auf Arbeit ».
Abgesehen vom Inhalt, ist der völlig unverbindliche Charakter dieser « Grundrechtecharta » festzuhalten. Sie ist eine blosse politische Absichtserklärung ohne Rechtswirkung für die Mitgliedstaaten. Ob sie später irgendwann einmal zum Bestandteil eines neu abgefassten EU-Vertrags oder einer EU-Verfassung wird, steht frühestens im Jahr 2004 zur Entscheidung.
Ähnliches gilt für die ebenfalls in Nizza verabschiedete « Sozialagenda », die auf Drängen der französischen Regierung angenommen wurde. Darin wird für « Europa » zwar das hehre Ziel einer « Rückkehr zur Vollbeschäftigung » verkündet. Aber zugleich wird dies von der reichlich hochgesteckten Voraussetzung abhängig gemacht, dass die EU « zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt » wird. Von Arbeitszeitverkürzung ist an keiner Stelle die Rede. Was dabei unter « Vollbeschäftigung » zu verstehen ist, geht daraus hervor, dass als « Endziel » verkündet wird, « die Beschäftigungsquote bis 2010 möglichst nahe an 70 % heranzuführen und die Beschäftigungsquote der Frauen bis 2010 auf über 60 % anzuheben ». Alles soll vorwiegend auf dem Weg der « offenen Koordinierung » und per Vereinbarung der « Sozialpartner » erreicht werden, ohne verbindliche vertragliche Verpflichtungen. Als wichtigste Massnahmen werden die Verbesserung der « Qualifikation » und « Anpassungsfähigkeit » der Beschäftigten genannt. Einzige konkrete Neuerung: künftig soll die Umsetzung der « Sozialagenda » jährlich auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rates « geprüft » werden.
Bezeichnenderweise haben Grundrechtecharta, Sozialagenda und ähnliche « bürgernahe » Themen auf dem viertägigen Nizza-Gipfel selbst praktisch keine Rolle mehr gespielt. Sie wurden nur noch abgesegnet. Der heftige Streit, der in den Medien tagelang zelebriert wurde, ging um anderes: um die « Stimmengewichtung », um die Verteilung von Macht, um die Frage, wer in der EU letztlich das Sagen hat.
Zweifellos waren die Differenzen, die hierbei in Nizza auftraten, Ausdruck von realen Interessengegensätzen und auch von einem tiefsitzenden gegenseitigen Misstrauen. Sie hatten zeitweise bis an den Rand des Scheiterns geführt. Und sie sind mit dem mühselig erreichten « Kompromiss » von Nizza auch keineswegs überwunden. Aber kann das bei einer Europa-Konstruktion, die auf kapitalistischer Grundlage, als Instrument zur Durchsetzung der Interessen der transnationalen Konzerne und des europäischen Finanzkapitals nach innen gegen die eigene Bevölkerung und als Einrichtung des Konkurrenzkampfs nach aussen gegen die übrigen Zentren der « globalisierten » Welt geschaffen wurde, überhaupt anders sein?
Dass der Streit diesmal besonders scharf war, hatte vor allem zwei Ursachen. Zum einen hielt die Schröder-Fischer-Regierung in bester Übereinstimmung mit den deutschen Unternehmerverbänden die Zeit offenbar für gekommen, um im Hochgefühl großdeutscher Weltmachtambitionen die Vormachtstellung Deutschlands in der EU auch formal in der Stimmenverteilung sichtbar zu machen. Deshalb forderte sie, die bisherige Gleichstellung in der Stimmenzahl mit Frankreich, Großbritannien und Italien abzuschaffen und den « Deutschen » die absolut grösste Stimmenzahl in der EU zuzuerkennen. Zum anderen sollte unter Verweis auf die beabsichtigte « Osterweiterung » der EU von 15 auf 27 Mitgliedstaaten die Struktur eines supranationalen EU-Staates weiter ausgebaut und dabei die Vorherrschaft der « Großen » gegenüber der Vielzahl der kleineren Mitgliedstaaten institutionell abgesichert werden.
Mindestens in zwei Bereichen, nämlich bei der Stimmenzahl und bei der verlangten Verkleinerung der EU-Kommission, mussten die « deutschen » Vertreter schliesslich zurückstecken. Es blieb bei der Stimmengleichheit Deutschlands mit den anderen « Großmächten » und bei der Festlegung, dass auch bei der künftigen Erweiterung jeder EU-Mitgliedsstaat einen Sitz in der Kommission als zentraler EU-Exekutive hat. Erst wenn mehr als 27 Staaten in die EU aufgenommen werden, soll ein « Rotationssystem » eingeführt werden — das liegt derzeit noch in ziemlicher Ferne.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass der schliesslich erreichte « Kompromiss von Nizza » den weiteren Ausbau der EU in der Richtung fortschreibt, die von den führenden imperialistischen Staaten gewollt wurde. Die « Europa-Konstruktion » im Dienst des großen Geldes und der transnationalen Konzerne ist trotz allen Streits ein weiteres Stück vorangekommen. Vielleicht nicht ganz so weit, wie die Hauptakteure es gern gehabt hätten, aber doch unübersehbar.
Das wird u.a. sichtbar in der weitestgehenden Einschränkung des bisherigen Vetorechts der einzelnen Mitgliedsstaaten gegen « Gemeinschaftsbeschlüsse », die ihren Interessen oder nationalen Sonderregelungen (etwa in Sachen Sozialgesetze, Umwelt, öffentliche Dienste, Kultur usw.) zuwiderlaufen. Die schliesslich akzeptierte Stimmenverteilung sichert den großen Staaten mindestens eine Sperrminorität gegen Mehrheitsentscheidungen der übrigen Mitgliedsländer. Dies wurde zudem dadurch absichert, dass Beschlüsse nur gelten, wenn die Staaten, die ihnen zustimmen, mindestens 62 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen (« demographischer Faktor »).
Gleichzeitig wurde innerhalb der demnächst auf 27 Sitze vergrösserten EU-Kommission die Stellung des Kommissionspräsidenten gestärkt. Er bekommt eine Art von politischer Richtlinienkompetenz gegenüber den übrigen Kommissaren. Er kann Vizepräsidenten nominieren, die die Arbeitsbereiche mehrerer Kommissare koordinieren, also eine Art kleinere « Über-Kommission » bilden, und auch die Entlassung von Kommissaren veranlassen. Ferner wurde die Möglichkeit einer « verstärkten Zusammenarbeit » von kleineren Staatengruppen innerhalb der EU erleichtert. Das bedeutet, dass sich ein « harter Kern », ein « Gravitationszentrum » oder eine « Pioniergruppe » von Staaten herausbilden kann, die untereinander Regeln der Zusammenarbeit und « Integration » festlegen, für die eine Mehrheit in der EU insgesamt nicht erreichbar ist. Das schafft praktisch vollendete Tatsachen. Die übrigen Mitgliedsstaaten müssen sich faktisch diesen Regelungen früher oder später notgedrungen anschließen. Durch ausgeklügelte Prozedurbestimmungen wurde also die Vormachtstellung der imperialistischen Hauptmächte abgesichert.
Ausserdem wurde auf deutsches Drängen festgelegt, dass die Arbeit an der « EU-Reform » nach Nizza weitergeführt wird. Neben anderem soll es dabei um eine « präzisere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der EU und den einzelnen Mitgliedsstaaten » und um die « Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen Architektur », also um das Verhältnis von nationalstaatlichen und supranationalen Entscheidungsbefugnissen gehen. Die Vorhaben, mit denen die deutsche Delegation diesmal nicht durchgedrungen ist, stehen somit weiter auf der Tagesordnung. Spätestens im Jahr 2004 soll eine neue Regierungskonferenz stattfinden, auf der die EU-Verträge in diesem Sinn weiter « präzisiert » und « zusammengefasst » werden.
Schliesslich ist auf ein Thema zu verweisen, das in der umfangreichen Berichterstattung der Medien über den Nizza-Gipfel so gut wie keine Rolle gespielt hat. Auf der Tagung von Nizza wurde der « Bericht des Vorsitzes über die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik » abgesegnet. Er enthält nicht nur die Bestätigung aller bisherigen Beschlüsse und Planungen zum Ausbau der eigenständigen EU-Militärstreitmacht (s. Marxistische Blätter 6-2000). Seit Nizza verfügt die EU nun auch über die neuen ständigen Leitungsstrukturen auf diesem Gebiet: ein « Politisches Sicherheits-Komitee » (PSK), einen « Militärausschuss », bestehend aus den Stabschefs der Mitgliedsstaaten, und einen « Militärstab » der EU als ständig arbeitenden Generalstab. Der « Aufwuchs für das Funktionieren dieser Gremien, insbesondere des Militärstabs », müsse nun beschleunigt vorangetrieben werden, heisst es in dem entsprechenden Text. Über das PSK wurde ein ganzer neuer Abschnitt in den EU-Vertrag eingefügt. Darin ist u. a. festgelegt, dass diese Instanz « die politische Kontrolle und die strategische Leitung der Operationen zur Krisenbewältigung ausübt » und vom Rat im Krisenfall die Befugnis übertragen bekommen kann, eigenständig und unter Beiseiteschieben der normalen Entscheidungsstrukturen der EU Beschlüsse zur « Koordinierung » der « militärischen und nichtmilitärischen Instrumente » der EU zu fassen.
Verlauf und Ergebnisse des EU-Gipfels von Nizza haben also deutlich gemacht: Illusionen über einen Ausbau der EU in Richtung Soziales und Demokratie sind fehl am Platz. Die EU präsentierte sich in Nizza als eine Arena erbitterter imperialistischer Machtkämpfe um die Vorherrschaft und um die Unterordnung des übrigen Europa unter die « Führungsstaaten ». Vorangekommen ist, trotz aller inneren Widersprüche, der Ausbau der EU zu einem supranationalen Staatswesen mit antisozialer, den Doktrinen des « Neoliberalismus » unterworfener Stossrichtung und mit dem Ziel, gleichrangig neben den USA in aller Welt als global player und eigenständig « handlungsfähiger » Machtfaktor « mitzuspielen ». Die negativen Auswirkungen und Gefahren dieser Entwicklung sind nicht zu unterschätzen. Der Nizza-Gipfel kann uns nur in der Feststellung bestärken, dass auf dieser Grundlage ein soziales und demokratisches Europa, in dem die Interessen der Völker zum entscheidende Dreh- und Angelpunkt der Politik werden, nicht möglich ist. Dafür braucht es völlig andere gesellschaftspolitische und vertragliche Grundlagen, und als Voraussetzung dazu ein völlig anderes soziales und politisches Kräfteverhältnis.
Die EU-Militarisierung soll im Folgenden im Zusammenhang mit zwei weiteren Themen betrachtet werden: Zum einen die Entwicklung der Bundeswehr und zum zweiten die Entwicklung der NATO. Auf der sogenannten Geberkonferenz der Europäischen Union am 20. November wurde etwas ganz Spezielles geboten, nämlich Soldaten. Soldaten für eine zukünftige Interventionstruppe der Europäischen Union, die derzeit einen Umfang von 60.000 Mann und Frau hat (zur Aufteilung der Soldaten auf die einzelnen Länder siehe Tabelle). Dazu wurden über 100.000 Soldat/inn/en von den EU-Staaten und (osteuropäischen) EU-Beitrittskandidaten zur Verfügung gestellt. Von besonderem Interesse bei dieser EU-Truppe ist, dass es keine eigenständige Truppe ist, sondern das sie jedes mal für entsprechende Interventionen zusammengestellt werden wird. Der Anteil der Bundesrepublik an dieser EU-Interventionstruppe übersteigt die Kontingente von allen anderen Staaten: Mit ca. 18.000 Mann stellt die Bundesrepublik ca. 20% der gesamten Truppe. Der deutsche Einfluss auf diese Truppe drückt sich nicht nur durch den hohen Anteil aus, sondern auch durch die Nominierung des deutschen Generals Rainer Schuhwirth zum Befehlshaber dieser Interventionstruppe. Man kann also durchaus die Schlussfolgerung ziehen, das die zukünftige EU-Interventionstruppe eine Truppe ist, die unter massgeblichem deutschem Einfluss steht. Eine zweite Festlegung, die auf der genannten Geberkonferenz beschlossen wurde, ist der Aktionsradius für den Einsatz der künftigen EU-Truppe. Danach soll die Truppe in einem Radius von 4.000 km (!) rund um die Europäische Union eingesetzt werden. Die „Welt" schreibt hierzu, dass die Europäische Union sei "eine neue Superarmee für schwer bewaffnete Militäreinsätze in einem Radius von 4.000 km um Brüssel. Das schliesst weite Teile Afrikas, den Nahen Osten und den Kaukasus ein."
Im Verlauf des völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien im März 1999 ist deutlich geworden, dass bei militärischen Interventionen oder Kriegseinsätzen immer auf bestimmtes US-Equipment zurückgegriffen werden musste, so z. B. bei Satelliten. Um sich militärpolitisch selbständiger zu machen, wurde unter dem neuen Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, beschlossen ein eigenes deutsches Satellitenprogramm zu starten. Derartige Projekte müssen in Zusammenahng mit der allgemeinen Entwicklung betrachtet werden: Bundesaussenminister Joschka Fischer sprach einmal davon, dass nach der Wirtschafts- und Währungsunion der nächste große Schritt die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik sein müsste. Es findet ein grundlegender Paradigmenwechsel innerhalb der Europäischen Union statt, denn die Europäische Union war bisher eine Wirtschaftsgemeinschaft und zukünftig soll sie zunehmend eine Militärmacht werden. Diese Umorientierung stellt eine Militarisierung Europas dar, eine Militarisierung, die unter Führung der Bundesrepublik stattfindet. Joschka Fischer hat diesen Prozess in seiner Rede an der Berliner Humboldt-Universität als eine Entwicklung vom Staatenverbund zur Föderation beschrieben. Für ihn ist es notwendig, dass es dabei ein "Gravitationszentrum" innerhalb der Europäischen Union gibt, welches die Avantgarde, "die Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration", darstellt und "bereits alle Elemente der späteren Föderation" umfasst. Letztendlich ist dies nichts anderes als das 1994 von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers formulierte Kerneuropa - quasi ein Kerneuropa in grün nur deutlich militärischer.
Zunehmende Militarisierung der Europäischen Union steht im Einklang mit der Umrüstung bzw. der Neuausrichtung der Bundeswehr. Auf der einen Seite sind die Entwicklungen bei der Bundeswehr durch eine quantitative Abrüstung gekennzeichnet, die sich vor allem durch die Reduzierung des Personalumfangs ergibt. Doch dies ist keine richtige Abrüstung, denn de facto findet eine gewaltige Umstrukturierung innerhalb der Bundeswehr statt. Die früheren Krisenreaktionskräfte, die damals etwa 53.600 Mann umfassten, nach dem grundgesetzwidrigen Krieg gegen Jugoslawien auf ca. 60.000 aufgestockt wurden, sollen nach der Grobausplanung des Bundesverteidigungsministeriums auf eine Gesamtgrösse von etwa 150.000 Mann und Frau anwachsen. Damit werden genau jene Kräfte, mit denen künftige Kriege geführt werden können, auf das Dreifache aufgestockt. Es findet also eine qualitative Aufrüstung der Bundeswehr statt, die eine Neuausrichtung auf Angriffs- und Interventionskriege, wie es das Beispiel gegen Jugoslawien gezeigt hat, impliziert. Dies ist auch die Kernfrage der zukünftigen deutschen Militärpolitik und nicht die Wehrpflicht. Obwohl meines Erachtens die Wehrpflicht ein wesentlicher Aspekt bei der Frage nach dem Einfluss der Bundeswehr innerhalb der EU-Truppe darstellt. Mein Verdacht ist, dass mit der Masse an Armee auch ganz bewusst Politik gemacht wird, auf diesem Weg "untermauert den Anspruch der Bundesrepublik, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu prägen" (FAZ).
Die rot-grüne Bundesregierung hat, entsprechend der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998, eine Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker eingesetzt. Eine Grundvoraussetzung um in diese Kommission zu kommen war die grundsätzliche Akzeptanz der neuen Bundeswehr und der neuen NATO. Es war also unmöglich für diejenigen, die militärkritische oder antimilitaristische Positionen vertreten, in die Kommission zu kommen. Darüber hinaus war diese Kommission keine Parlamentskommission sondern eine Regierungskommission, d. h. es war auch nicht möglich, dass auf parlamentarischem Weg, z. B. über die PDS, kritische Positionen in die Kommission gelangen konnten. Wenn man sich dann noch die Liste der Gäste, die von der Kommission angehört wurden, anschaut, wird klar, dass hier nur auf ein ganz bestimmtes Spektrum zurückgegriffen wurde. Parallel zu der Kommission wurde innerhalb des Militärs ein Papier erarbeitet, das Kirchbach-Papier, versehen mit der Vorgabe, es muss bei der Wehrpflicht bleiben und gleichzeitig eine Ausrichtung in Richtung Interventionsarmee vorgenommen werden. Als die das Krichbach-Papiere und der Kommissionsbericht vorlagen sollte eigentlich eine öffentliche Debatte über die Bundeswehr geführt werden. Doch bereits nach eineinhalb Wochen hat Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping das verbindliche Eckpunkte-Papier vorgelegt und verkürzte die Auseinandersetzung über die zukünftigen Aufgaben und die Ausrichtung der Bundeswehr auf sage und schreibe eineinhalb Wochen.
In dem Bericht der Weizsäcker-Kommission heisst es: „Die Aufgaben der Bundeswehr haben sich völlig geändert. Die Bundeswehr wird vornehmlich ausserhalb Deutschlands eingesetzt werden, entweder zur kollektiven Verteidigung eines Bündnispartners, oder was wahrscheinlicher ist, zu regional begrenzten Einsätzen der Krisenvorsorge und Krisenbewältigung."
In den Schlussfolderungen ist dann unter anderem zu lesen: „Die Kommission empfiehlt Fähigkeiten, Strukturen und Umfänge der Bundeswehr primär aus der Eignung zu Kriseneinsätzen abzuleiten. Die Orientierung auf Kriseneinsätze erfordert eine grundsätzlich neue Bundeswehr." Diese Formulierungen machen deutlich, der Mythos einer Armee zur Landesverteidigung hat sich erledigt, es geht hauptsächlich um Interventionseinsätze oder Besatzungseinsätze in anderen Ländern. Ein Bruch des bestehenden Grundgesetzes, welches einen defensiven Charakter vorschreibt, wird dabei in Kauf genommen. Die militärische Neuausrichtung wird im Kirchbach-Papier auf den Punkt gebracht, dort heisst es: « Streitkräfte werden sich in Zukunft auf ihre militärischen Kernfunktionen konzentrieren." Was sind militärische Kernfunktionen, was kann nur Militär?
Bundespräsident Johannes Rau hat auf der Kommandeurstagung bemängelt, dass die Bundeswehr im Einsatz zu viele zivile Aufgaben übernimmt. Auf der anderen Seite werden gerade die nichtmilitärischen Aufgaben der Bundeswehr immer wieder gerühmt, so z. B. von dem ehemaligen KFOR-Kommandanten Klaus Reinhardt. Wie soll in Zukunft die Bundeswehr "verkauft" werden, wenn sie sich auf ihre militärischen Kernfunktionen konzentriert? Wenn nichtmilitärische Aufgaben wegfallen, fallen gleichzeitig die Akzeptanzbereiche weg, die bisher immer eine Legitimation für die Bundeswehr waren. Die militärischen Kernfunktionen heissen dann: Kämpfen, Krieg führen, Töten.
Die Neuausrichtung der Bundeswehr steht in einem engen Kontext mit den Entwicklungsprozessen innerhalb der NATO. Die NATO hat am 24. April letzten Jahres eine neue Strategie verabschiedet, wonach sich die NATO für zukünftige Militäreinsätze selbst ein Mandat gibt, die sogenannte Selbstmandatierung. In dem NATO-Strategiepapier heisst es hierzu: „In diesem Zusammenhang erinnert das Bündnis an seine späteren Beschlüsse in bezug auf Krisenreaktionseinsätze auf dem Balkan." Diese Formulierung beinhaltet einen Vorratsbeschluss und gibt gleichzeitig einen Hinweis darauf, das der Krieg gegen Jugoslawien ein Muster für zukünftige Kriege darstellt. In Jugoslawien hat man einen Testlauf durchgeführt, man hat dort die zukünftige NATO-Strategie vor deren Verabschiedung getestet. Daher muss man mit dem Mythos aufräumen, dass der Krieg gegen Jugoslawien eine einmalige Ausnahme war. Nein, er war der erste Krieg eines neuen Kriegstypus, nämlich des Kriegstypus der neuen NATO.
Ein weiterer wesentlicher Punkt an der neuen NATO-Strategie ist die Festlegung auf sogenannte nicht Artikel 5 Krisenreaktionseinsätze. Artikel 5 bezoeht sich auf das NATO-Statut und besagt, dass ein Angriff auf ein Land der NATO als ein Angriff auf das gesamte NATO-Bündnis verstanden wird. Wenn nun nicht Artikel 5 Krisenreaktionseinsätze geplant werden, so heisst dies nichts anderes als Angiffskriege.
Der dritte Punkt ist die Herausbildung kleiner, kampforientierter Truppen, Vorboten in Deutschland sind die Elitekampftruppe Kommando Spezialkräfte (KSK) und die neue Divion Spezialoperationen (DSO).
Die Friedensbewegung muss dieser zunehmenden Militarisierung entschieden entgegen treten. Unser Nein muss dem weiteren Ausbau der Kriegsführungsfähigkeit gelten und beinhaltet eine klare Absage an den Ausbau der Interventionsfähigkeit. Denn wenn die militärischen Instrumentarien einmal vorhanden sind, dann ist es nur eine Frage der Zeit wann sie eingesetzt werden.
Die hier skizzierte Militarisierung und der damit verbundene Paradigmenwechsel wird in der Bevölkerung nur marginal wahrgenommen. Die Aufgabe der Friedensbewegung muss daher sein, immer wieder auf diese Sachverhalte aufmerksam zu machen und sie in die öffentliche Debatte zu bringen.
Ich schlage folgendes Vorgehen vor:Wir müssen sowohl erste nachvollziehbare Schritte, als auch unsere Ziele klar formulieren. Mit diesem Schritt/Ziel-Vorgehen erreichen wir viele Menschen, können Bündnispartner gewinnen und sagen zugleichwohin unser Weg schlussendlich gehen soll. Konkret bedeutet dies, dass wir zuerst die Ablehnung der neuen NATO-Strategie fordern könnten, Zielforderung ist hier die Auflösung des "Unsicherheitsbündnisses" NATO. Bzgl. Bundeswehr könnte der erste Schritt die Auflösung der (kriegsfähigen) Einsatzkäfte sein. Ziel ist hier die Auflösung der Bundeswehr. Unser NEIN gilt zunächst der weiteren Militarisierung, dazu zählt die völkerrechtswidrige NATO-Strategie,genauso wie der Aufbau der EU-Interventionstruppe und die Umwandlung der Bundeswehr zur Interventionsarmee. Uns muss es darumgehen, dass wir die öffentliche Auseinandersetzung über die zukünftige Militärpolitik wach halten. Ein Ansatz dazu könnte hierzu der von IMI initiierte Aufruf "Kriege verhindern, deshalb jetzt Einsatzkräfte auflösen" sein.
Bundesrepublik | 18.000 |
Großbritannien | 12.500 |
Frankreich | 12.000 |
Belgien | 1.000 |
Griechenland | 3.500 |
Irland | 1.000 |
Italien | 6.000 |
Niederlande | 5.000 |
Portugal | 1.000 |
Schweden | 1.500 |
Österreich | 3.500 |
Dies ist der Vortrag von Tobias Pflüger auf dem bundesweiten Friedensratschlag in Kassel in der von Bernd Guss (Friedens- und Zukunftswerkstatt Frankfurt a.M.) bearbeiteten Version. Der Artikel wurde abgedruckt in der "Friedenspolitischen Korrespondenz" Nummer 4, Dezember 2000.
Die 'Völker Europas' erleben soeben das denkwürdige Schauspiel, erstmals kollektiv und ohne Ansehen der Person als Urheber eines verfassungsähnlichen Normenwerks - der Grundrechte-Charta der Europäischen Union - in Anspruch genommen zu werden. Vielleicht können sich die 'Völker Europas' nicht genau erinnern, dergleichen ausdrücklich in Auftrag gegeben oder gar aktiv mitgestaltet zu haben.
(...)
Dass alles Recht nichts anderes als die konkret existierende äussere Freiheit eines jeden zur Freiheit bestimmten Wesens in seinem Zusammenleben mit anderen Freiheitswesen ist, gehört zu den unverlierbaren Einsichten der europäischen Rechtsphilosophie. Kant hat gezeigt, dass die Freiheit der Grundlagenbegriff des Rechts schlechthin und der oberste Rechtssatz das Kompatibilitätsgebot für die Freiheit des einen mit der des anderen ist. Daraus folgt nicht nur, dass selbst die Gleichheit abgeleitet ist - die Rechtsgenossen sind nur im Blick auf ihre gemeinsame Freiheitlichkeit, nie schon empirisch gleich - , sondern auch, dass alle Rechtsnormen maximal freiheitserhaltend zu sein haben. Das Grundgesetz hat in seinen Artikeln 1 und insbesonder 2 diese Einsicht in kassischer Weise in eine oberste Rechtsnorm verwandelt. Wer zu diesem Thema die europäische Charta nachschlägt, findet sich auf frappierend niedrigem Niveau wieder.
Der Text atmet den Geist der freiheitsgezeugten Rechtsidee nicht mehr - und zwar gerade am wenigsten dort, wo er auf die 'Freiheiten' zu sprechen kommt. Statt dessen regiert die Vorstellung, das Recht könne umgekehrt Freiheit setzen: Artikel 6 der Charta spricht 'jeder Person' 'das Recht auf Freiheit und Sicherheit' zu.
(...)
Der Partizipationsgedanke, der nicht das geringste Resultat des aufklärerischen und idealistischen Rechtsdenkens war, wird durch einen Begriff von Recht als 'von aussen' - und das heisst immer: durch die blosse Macht - installierter sozialer Norm ersetzt; dass unter diesen Umständen ein Widerstandsrecht im Sinne von Artikel 20 des Grundgesetzes nicht mehr vorgesehen sein kann, versteht sich von selbst.
(...)
Die Charta beansprucht, den 'Völkern Europas' ihre Grundrechte 'sichtbarer' zu machen. Das setzt voraus, dass es bislang 'Sichtbarkeitsdefizite' gibt und munter im Dunkeln gemunkelt wird. In scharfem Kontrast zu diesem 'kommunikativen' Anspruch steht freilich die Tatsache, dass das, was hier sichtbar wird, nicht selten weniger ist, als bislang bereits für den, der sehen konnte und wollte, im Zusammenhang von nationaler Verfassung, Europäischer Menschenrechtskonvention und allgemeiner Erklärung der Menschenrechte 'sichtbar' war. So ist beispielsweise nach dem Grundgesetz nicht nur die Forschung sondern die Lehre 'frei' (Artikel 5), nach der Charta (Artikel 13) nur noch die Forschung, während es im übrigen nebulös genug heisst, die 'akademische Freiheit' werde 'geachtet'.
Nebenbei bemerkt ist dieser Artikel ein Beispiel für die Neigung der Charta, das 'normative Ist', wie es Grundrechtsbestimmungen angemessen ist, durch Sätze zu ersetzen, in denen ein handelndes Subjekt (die EU) etwas tut und entscheidet; es ist aber nicht dasselbe, ob beispielsweise die akademische Lehre 'frei ist' oder die Union kraft Rechtsentscheids 'die akademische Freiheit achten' will.
(...)
Neben Verkürzungen dieser Art enthält die Charta indes auch eindeutige oder ansatzweise Verschiebungen in der Geltung oder dem Geltungsbereich der Grundrechte. Dass das Lebensrecht, die Gleichheit vor dem Gesetz und andere höchstrangige Grundrechte nur noch 'Personen', nicht mehr 'Menschen' zugesprochen werden, gehört dazu, während beispielsweise Artikel 25 von 'älteren Menschen', nicht 'Personen' spricht. .......Wenn man aber bedenkt, dass in Fragen der Abtreibung, der Euthanasie und der Würde geistig Behinderter derzeit nichts so sehr im Fluss ist wie der Angelpunkt für die ethische und juridische Urteilsbildung, erhält die Gewährung etwa des Lebensrechts für 'Personen' statt für Menschen einen beklemmenden Unterton. Denn die Dogmatisierung eines engen, auf das 'Vorliegen' von rationaler Bewusstheit beschränkten Personenbegriffs anstelle der Definition der Person als des wesentlich zur Freiheit bestimmten Individuums zieht jetzt unweigerlich die Aufhebung des Lebensrechtes, des Rechts auf Unversehrtheit sowie aller Gleichheitsrechte der Ungeborenen, Altersdementen oder geistig Kranken nach sich.
Nachdem Artikel 11 'jeder Person' das 'Recht auf freie Meinungsäusserung' gewährt hat, trägt Artikel 24 nach: 'Kinder können ihre Meinung frei äussern'. Darf man hier nicht vermuten, dass für die 'Väter und Mütter' des Entwurfs Kinder jedenfalls nicht ohne Umstände unter den zuvor berufenen Personen befasst waren?
(...)
Die Charta rechtfertigt sich selbst insbesondere damit, dass sie Lücken fülle, die durch den 'sozialen' sowie den 'wissenschaftlichen und technologischen' Fortschritt entstanden seien.....Die Charta enthält indes gerade bei ihren überschießenden Artikeln die zweifelhaftesten Kandidaten. Da sind zum einen Bestimmungen, die nicht frei von unfreiwilliger Komik sind, so das 'Recht auf eine gute Verwaltung', dessen ausdrückliche 'Gewährung' Zweifel daran aufkommen lassen, wie ernst es mit der schon in der Präambel aufgerufenen Rechtsstaatlichkeitsformel eigentlich gemeint war: Denn die ausführenden staatlichen Organe nur erst über 'Rechte' der Bürger in die Pflicht zu nehmen, kann nichts anderes heissen, als sie zuerst als grundsätzlich pflichtvergessen zu desavouieren.
Aber es gibt auch Neuerungen, bei denen aller Spass aufhört. Adorno hat sich den in seiner Scheinhumanität nur um so anzüglicheren Satz 'Juden sind auch Menschen' energisch verbeten - Artikel 25 beglückt Europas Senioren mit der Feststellung, dass "die Union...das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben' 'anerkennt und achtet'. Leider steht zu befürchten, dass man inzwischen kaum noch merkt, wo hier die Anzüglichkeit liegt. Der Skandal ist die Anmassung der Macht, ein eigenes Grundrecht mit der Aussage formuliert zu haben, gesellschaftlicher und technologischer Fortschritt würden es trotz allem, nämlich dank des erklärten Willens der Union, nicht hindern, dass reifere Semester weiterhin das Kaffeehaus frequentieren dürfen, dass man sich mit Rentnern im Konzert und Museum abzufinden habe.
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Wer einen besonderen Willens- und das heisst hier: Gnadenakt der Union daraus macht, Menschenwürde 'auch' den Alten, 'auch' den Kindern zuzusprechen, hat sie schon geteilt und angetastet. Dass er vielleicht noch nicht einmal weiss, was er tut, rettet ihn nicht davor, etwas ganz anderes 'sichtbar' gemacht zu haben als die Idee des Rechts.