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Security forces patrol off Nice, French Riviera, Friday Dec. 8, 2000
junge Welt Titel
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08.12.2000
Tränengaswolken ziehen über Nizza
Polizei ging beim EU-Gipfel massiv gegen Proteste vor. jW- Bericht
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Nichts zu lachen hatten am Donnerstag auf dem EU-Gipfel in Nizza der französische Staatspräsident und EU- Ratsvorsitzende, Jacques Chirac, und sein Premierminister Lionel Jospin. Grund dafür waren nicht nur die spannungsgeladenen Diskussionen um die institutionelle Reform der Europäischen Union, insbesondere um die Verteilung der Stimmen zwischen großen und kleinen EU- Staaten im Ministerrat, dem eigentlichen Entscheidungsgremium der Gemeinschaft. Vielmehr waren die beiden Politiker vor dem Kongreßzentrum »Acropolis« in eine Wolke von Tränengas geraten, das die französische Sicherheitskräfte in die Menge der Demonstranten gegen die unsoziale EU-Politik gefeuert hatten.
Bereits zu Beginn des mehrtägigen Gipfeltreffens, an dem nicht nur die Staats- und Regierungschefs der 15 EU- Mitglieder, sondern auch die Vertreter von 13 Beitrittsländern teilnahmen, war es zu schweren Straßenschlachten gekommen. Demonstranten hatten in der Nähe des Konferenzzentrums eine Bankfiliale in Brand gesetzt, Schaufenster zerschlagen und Autos umgestürzt. Zuvor hatten Teilnehmer der Protestaktion versucht, Polizeiabsperrungen zu durchbrechen, wurden jedoch mit einem massiven Polizeieinsatz zurückgedrängt. Zahlreiche Polizisten und Demonstranten erlitten nach Polizeiangaben Verletzungen, ein Beamter wurde schwer verletzt.
Die teilweise vermummten Demonstranten hatten sich unter eine Kundgebung von Globalisierungsgegnern gemischt. Sie riefen Slogans mit Forderungen nach Unabhängigkeit für das Baskenland und Korsika. Die Zusammenstöße setzten sich anschließend abseits des Konferenzzentrums fort. Die französische Polizei hatte das Tagungsgebäude weiträumig abgesperrt. Ein Teil der Demonstranten war bereits weit vor Nizza aufgehalten worden, vor allem an der italienischen Grenze. Dabei kam es am Grenzort Ventimiglia ebenfalls zu schweren Zusammenstößen.
Schon am Mittwoch hatten rund 50 000 Gewerkschaftler aus ganz Europa friedlich für eine sozialere Politik in Europa demonstriert; am Donnerstag sprach die Polizei von mehreren tausend Demonstranten. Die Proteste richteten sich vor allem gegen die Folgen der Globalisierung, den politischen und sozialen Kurs der EU-Politik sowie die Unverbindlichkeit der europäischen Grundrechtecharta. Diese war am Donnerstag in Nizza feierlich die unterzeichnet worden. Die von einem Konvent unter Vorsitz von Ex-Bundespräsident Roman Herzog ausgearbeitete Charta umfaßt 54 Artikel, spart aber vor allem zentrale soziale und wirtschaftliche Grundrechte aus.
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