Pressespiegel ESF 17.11

Breites Nein zur EU-Verfassung

Europäisches Sozialforum (ESF) in Paris lehnt Entwurf des EU-Konvents ab, weil dieser eine zu liberalisierte Wirtschaftspolitik festschreibt. Attac denkt über die Gründung "neuer politischer Kräfte" nach. Verhältnismäßig wenig Teilnehmer aus Frankreich
aus Paris DOROTHEA HAHN

So umworben waren die "Altermondialistes" - die GlobalisierungskritikerInnen - noch nie: Auf ihrem zweiten "Europäischen Sozialforum" (ESF) in Paris diskutierten jetzt auch sämtliche größeren Religionsgemeinschaften mit. Zahlreiche Gewerkschaften schickten Entsandte. Und fast alle Parteien, Konservative, Sozialdemokraten, Kommunisten und auch die Trotzkisten, nahmen teil. In zahlreichen Veranstaltungen kritisierten die TeilnehmerInnen die europäische "Verfassung" sowie die Angriffe auf die Renten- und Gesundheitsversorgung in allen Ländern und legten alternative Wirtschaftsmodelle für Europa und für die Europäische Zentralbank vor. Alle gemeinsam wollen Anfang nächsten Jahres einen europaweiten Aktionstag gegen Sozialkahlschlag organisieren. Zwar stehen Ort und Termin noch nicht fest, aber Deutschlands Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di wird auf jeden Fall mit dabei sein, versprach Ver.di-Chef Frank Bsirske.

In der maßgeblich an den Vorbereitungen beteiligten französischen Gruppe Attac fragt man sich, wie es nach dieem großen Erfolg weitergeht. Attac-Ehrenpräsident Bernard Cassen denkt bereits laut über die Gründung von "einer oder mehreren" neuen politischen Kräften nach. Dass derweil die Organisatoren darüber grübeln, warum im Verhältnis zu den über tausende von Kilometern angereisten Gästen eher wenige FranzösInnen an den Veranstaltungen des ESF teilnahmen, fällt da kaum ins Gewicht.

Wesentliches Thema zahlreicher ESF-Veranstaltungen war die "Europäische Verfassung". Das vom ehemaligen französischen Präsidenten François Giscard dEstaing entwickelte Papier lehnen sie einmütig ab, da es den Wirtschaftsliberalismus für die EU langfristig festschreibe. Eine andere Wirtschaftspolitik, darunter die Einführung der Tobin-Steuer auf Währungsspekulation, aber auch die Rückkehr zu verstärkter staatlicher Investitionspolitik, wäre damit unvereinbar. Linke Gruppen sorgten am Rande des ESF für diverse Sonderaktionen: Das Sozialministerium der Republik wurde kurz besetzt, um gegen die Kürzungen der französischen Sozialversicherung für Theaterbeschäftigte zu protestieren. Ein leer stehendes Haus wurde übernommen, das fürderhin als Kontaktstelle für linke Kollektive dienen soll. Und 200 DemonstrantInnen blockierten die Büros der halbstaatlichen Fluggesellschaft Air France auf dem Prachtboulevard, wo sie "Des papiers pour tous" - Papiere für alle - skandierten, um auf die Situation untergetauchter Asylbewerber aufmerksam zu machen und gegen die herrschende Abschiebepraxis zu protestieren.

Die mehr als 300 Veranstaltungen des ESF hatten allerdings höchst unterschiedliche Qualität. Manche fielen mangels Interesse schlicht aus. Andere mussten wegen Überfüllung geschlossen werden, darunter eine Diskussion mit dem italienischen Staatsrechtler und Vordenker der radikalen Linken, Antonio Negri, der nach seiner Rückkehr aus dem franzöischen Exil 1997 in Italien vorübergehend inhaftiert war, sowie eine Veranstaltung mit dem aus Genf angereisten Philosophen Tarek Ramadan, Star vieler verschleierter und religiös gewordener junger MuslimInnen in Europa.

Leider setzte sich auch beim ESF der Kongresswahn durch: Zu viele SprecherInnen auf den Podien und zu lange Einzelberichte aus ihren Ländern und Organisationen ließen für Debatten mit dem Publikum und für die Planung konkreter Aktionen oft keine Zeit.

Konstruktiver präsentierte sich beispielsweise die Arbeitslosenbewegung: "Das ist ein Kampfseminar", eröffnete einer ihrer französischen Sprecher eine Runde. Bei der folgenden dreistündigen Debatte standen gemeinsame europäische Vorhaben im Raum: Forderungen nach einem "Existenzminimum" für alle - auch für jene 20 Millionen EuropäerInnen, die gegenwärtig unterhalb der Armutsgrenze leben, sowie die Organisation eines Sternmarschs auf Rom, der für den 9. Mai 2004 geplant ist.

taz Nr. 7210 vom 17.11.2003, Seite 9, 133 Zeilen (TAZ-Bericht), DOROTHEA HAHN

Wohlfühlbecken der Gleichgesinnten

Auf dem Pariser Sozialforum verhandelt die Attac-Bewegung Abnutzungserscheinungen, die aus ihrem Erfolg resultieren
VON MARTINA MEISTER

Demo für sozial gerechtes Europa (ap)

Ivry-sur-Seine liegt an diesem Morgen im Novembernebel, der alles noch etwas trister aussehen lässt als es ohnehin schon ist. Wer hier aufwacht, hat von einer anderen Welt geträumt oder diesen Traum lange schon verloren. Auf der Avenue de Verdun, die aus Paris hinaus führt, wechseln sich die Ruinen der Industrialisierung mit den Insignien der Globalisierung ab. Neben einer verfallenen Fabrik liegt einer der größten chinesischen Supermärkte Europas: Tang Frères, Verkauf "en gros" und "en detail". Die Straßen heißen Rue de solidarité und Rue Lenin". Ein Schild am Ortseingang sagt "Partnerstadt von Meißen".

Am anderen Ende der Vorstadt steht eine Wellblechsporthalle, in der der Schweißgeruch von 30 Jahren hängt. Es ist Samstagmorgen, neun Uhr. Die Globalisierungskritiker laden parallel in fünf Vorstädten von Paris zur letzten Plenarrunde des zweiten Europäischen Sozialforums. Die Halle in Ivry ist gut gefüllt. Müde Aktivisten haben sich eingefunden, die sich in der benachbarten Sporthalle gerade erst aus ihren Schlafsäcken gepellt haben. Viele Franzosen arabischer Herkunft sind da, verschleierte Frauen, Fernsehteams und Journalisten. Eine Fotografin richtet ihr Objektiv gezielt auf die Reihen junger Mädchen mit Kopftuch.

Die Massen kommen, um Tariq Ramadan zu sehen, zu hören. Er macht selbst José Bové den Rang streitig, dem Altstar der Globalisierungskritiker, der, vor ein paar Monaten erst aus dem Gefängnis entlassen, vielleicht nicht mehr dieselbe Aura hat wie zuvor, weil manch einer den "gallischen Gandhi" zu oft im Fernsehen gesehen hat. Ramadan ist der neue Medienliebling. Hier vermuten die Journalisten den Eklat. Das große Ereignis des Sozialforums. Die Schlagzeile. Aber der Schweizer Theologe ist viel zu intelligent, um sein Bekanntheitskapital so schnell zu verspielen. Er sei kein Antisemit, sagt er und weist damit alle Vorwürfe zurück, die Raum im standen, seit er einen Text publiziert hatte, in dem er bekannte jüdische Intellektuelle Frankreichs des Sektierertums bezichtigte. Tatsächlich wirft der Artikel, den wichtige Zeitungen abgelehnt hatten, ein völlig neues Licht auf ihn. Etliche Stimmen hatten seinen Ausschluss vom Sozialforum gefordert. Aber Ramadan darf reden. Und die Kontakte zu einem Al Quaeda-Mitglied, wie Schweizer Zeitungen berichtet hatten? Alles Verleumdungen: "Wenn wir uns nicht gegenseitig vertrauen, wird keine andere Welt möglich sein."

Der Rausch ist verpufft

Dafür bekommt er Applaus. Eine andere Welt, natürlich, davon träumen sie, die Altermondialisten, wie sie sich in Frankreich nennen. Eine gerechte Welt. Aber am Fall Ramadan lässt sich das Dilemma der Bewegung ablesen. Vier Jahre nach den Massendemonstrationen in Seattle, zwei Jahre nach Genua ist der erste Enthusiasmus, der Rausch der grenzüberschreitenden Verbrüderung ein wenig verpufft. Die Altermondialisten sind zum großen Meltingpot geworden, zum warmen Wohlfühlbecken der Gleichgesinnten, deren Treffen wie dieses zweite Europäische Sozialforum zu politischen Wellnesswochenenden geraten, bei denen jeder auf seine Kosten kommt: Alt-Trotzkisten und Antieuropäer, Kriegsgegner, Yogafreunde und Biobauern. Über 300 Plenarsitzungen, Seminare und Workshops standen auf dem Programm; doch kontroverse Diskussionen waren Mangelware. Auf den Podien wie im Publikum. Die Moderatoren bezeichneten die Redner regelmäßig als "ami" und in der Regel wurde beklatscht, was der Freund zu sagen hatte.

Ein anderes Europa

Die Idee von einer gerechteren Welt ist somit längst zu einem so großen Dach geworden, das jeder Idee Obdach bietet. Somit auch den Widersprüchen. Man vermisst die Verbindung, die übergreifende Theorie oder Strategie, die beispielsweise erklärt, wie sich Bovés Kampf für eine geschützte Agrarwirtschaft in Europa mit den Forderungen nach gerechten Preisen für Produkte von indischen Reisbauern vereinbaren ließe. Und warum fordert Sven Giegold, notre ami von Attac Deutschland, nachdem er den Schröderschen Raubbau am Sozialstaat beschrieben hat, dass "Besteuerungen von Einkünften und soziale Rechte international geregelt werden müssen", während sich das ganze Forum die Kritik am europäischen Verfassungsprojekt zum Refrain gemacht hat? Ein "anderes Europa" wird gefordert. Aber auch das lässt sich nicht aus dem anti-neoliberalen Hut zaubern. Und: Muss man deshalb die europäische Konstruktion, die man im Einzelnen kritisieren kann, als neoliberale Maschinerie abtun, die ihre Bürger ausschließlich entmündigt hat?

Noch etwas markiert eine Wende innerhalb der Bewegung: Die Tatsache, dass sie ernst genommen wird, dass ihre Macht erkannt wurde. Die Grundforderung von Attac nach einer Kapitalbesteuerung, die Tobinsteuer, ist längst von der etablierten Politik übernommen worden.

Kurz vor der Eröffnung des Forums hat sie noch Frankreichs Staatspräsident Jaques Chirac eingeklagt. Die etablierten Parteien in Frankreich buhlen mehr oder minder geschickt um die Gunst der Antimondialisten. Die Bewegung steht vor der Frage, ob sie von einer Protestbewegung zu einer politischen werden soll. All das ist ein Erfolg. Aber auch eine Gefahr. Denn die Kraft und Dynamik einer Bewegung kann schnell versickern in etablierten Strukturen, die dann in wohlwollenden Beilagen der Wirtschaftspresse von Financial Times bis Les Echos analysiert werden. Bernard Pinaud, einer der Organisatoren des Sozialforums, formuliert das Dilemma so: "Wir wollen lieber eine starke Bewegung ohne politische Erfolge als politische Erfolge ohne starke Bewegung".

Für die Abschlusskundgebung am Samstagnachmittag haben die Altmondialisten den klassischen Parcours der französischen Linken gewählt: Von der Place de la République über Bastille zur Place de la Nation. Zwischen 40 000 und 100 000 Menschen sollen es gewesen sein. Anfang August, als José Bové aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatten sich 150 000 in der tiefsten französischen Provinz versammelt. Er versprach damals einen "brennend heißen Herbst" des sozialen Unfriedens. Das Klima am Samstag war feuchtkalt.

Dossier: Grenzen der Globalisierung

Copyright © Frankfurter Rundschau online 2003
Dokument erstellt am 16.11.2003 um 16:52:07 Uhr
Erscheinungsdatum 17.11.2003

Kommentar: Europäisches Sozialforum

Eine andere Welt ist weit
Von Stephan Hebel

Manch einer mag das Gefühl gehabt haben, sie sei schon da: die "andere Welt", die nach dem berühmten attac-Slogan "möglich", also zukünftig ist. Zehntausende haben sich beim Europäischen Sozialforum ihrer Einigkeit vergewissert, trotz aller Unterschiede. Ihrer Einigkeit darüber, dass nicht der Markt und seine Ökonomie die Welt beherrschen sollen, sondern eine Politik, die sich an der Freiheit und sozialen Sicherheit aller orientiert.

Solche Einigkeit macht stark - jedenfalls nach innen. Was aber die Außenwirkung der globalisierungskritischen Bewegung betrifft, steht sie vor einer der schwierigsten Situationen ihrer noch jungen Geschichte. Es ist das alte Lied, das zum Beispiel deutsche Grüne in vielen Strophen singen können: Wer die Welt der etablierten, am "Kapital" orientierten Polit-Strukturen verändern will, muss sich ihr nähern - und gerät in die Gefahr, den eigenen Charakter zu verlieren. Allzu oft haben, nicht nur in Deutschland, politische Eliten ihre Fähigkeit bewiesen, soziale Bewegungen zu kooptieren oder gar zu korrumpieren, indem sie dem Widerstand durch Übernahme einiger Forderungen die Spitze nahmen.

Man muss das nicht schulterzuckend oder gar zynisch hinnehmen. Man wird sich aber, auch bei attac, der Frage stellen müssen, wie weit man sich etwa auf punktuelle Wahlbündnisse einlässt - oder ob sich nicht doch ein Weg findet, jenseits von Demonstrations-Ritualen aus der Gesellschaft heraus Politik zu verändern. Diese Diskussion hat unter den Globalisierungskritikern gerade erst begonnen.

Copyright © Frankfurter Rundschau online 2003
Dokument erstellt am 16.11.2003 um 17:28:19 Uhr
Erscheinungsdatum 17.11.2003

Eine fröhliche Demo und offene Fragen

Sozialforum endete am Samstag mit buntem Marsch
Von Ralf Klingsieck, Paris

Eine machtvolle und zugleich fröhliche Demonstration durch die Straßen von Paris bildete am Wochenende den abschließenden Höhepunkt des zweiten Europäischen Sozialforums.

Etwa 100000 Menschen zogen am Samstag in Paris zum Abschluss des Europäischen Sozialforums (ESF) mehr als drei Stunden lang die sechs Kilometer vom Platz der Republik über die Großen Boulevards und den Bastille-Platz zum Platz der Nation. Ein über die ganze Breite der Straße reichendes Spruchband an der Spitze des Zuges verkündete das Motto, das alle Demonstranten einte: « Für ein Europa der Gerechtigkeit in einer Welt ohne Krieg ».

So ernst die Forderung lautete, so optimistisch-fröhlich war der Charakter der Demonstration. Im Zug fuhren Lastwagen mit Bands, deren rhythmische Klänge viele Demonstranten mit Singen, Klatschen und einigen Tanzschritten aufgriffen. Besonders lautstark machten sich die vielen Teilnehmer aus Italien, Spanien, Portugal und Belgien bemerkbar. Sprechchöre und Spruchbänder richteten sich unter anderem gegen den Krieg der USA in Irak. Und Losungen wie « Unsere Werte sind nicht zu verkaufen » und « Ohne Gerechtigkeit kein Frieden » brachten die Themen der zahlreichen Diskussionsveranstaltungen des Sozialforums auch am Abschlusstag auf die Straße.

Über den Demonstrationszug verteilt zeigten sich auch die verschiedenen Teilnehmergruppen aus Deutschland - etwa eine Abordnung der IG Metall des VW-Werks in Wolfsburg oder die Antifaschistische Linke Berlin. Unter den vielen in- und ausländischen Teilnehmern, die bei dieser Gelegenheit auch gegen den Nahostkonflikt und für die Sicherung der Rechte der Palästinenser demonstrierten, waren zahlreiche jungen Franzosen nordafrikanischer Herkunft aus den Arbeitervorstädten von Paris.

Unter einem riesigen Ballon in Form eines Maiskolbens marschierten junge Landwirte aus ganz Europa. Angeführt von dem französischen Bauerngewerkschafter José Bové traten sie für den Schutz der natürlichen Landwirtschaft und für Nahrungsmittel ohne Genmanipulation und Hormone ein. Sie wurden besonders herzlich von den vielen Parisern beklatscht, die am Straßenrand standen und den Demonstrationszug verfolgten.

Wie soll es weitergehen?

« Das bunte Bild der verschiedenen Gruppen und ihrer Anliegen zeugt von der Vielfalt und vom Reichtum dieses Sozialforums, das ein großer Erfolg war », schätzte Sophie Saphira, eine der Organisatorinnen, gegenüber Journalisten ein. Der Ehrenpräsident von Attac Frankreich, Bernard Cassen, zog bei dieser Gelegenheit bereits erste Schlussfolgerungen: « Wir müssen unsere Basis verbreitern. Trotz der Erfolge, die wir jetzt schon haben, kommen wir nicht umhin, uns zu fragen, ob die bisherigen Formen des Kampfes die besten sind und wie es weitergehen soll mit unseren Bemühungen um die Einflussnahme auf die Öffentliche Meinung. Sind die bestehenden Parteien dazu noch in der Lage oder sollte man nicht besser eine oder mehrere neue politische Formationen bilden? Wir sind überzeugt, dass eine andere Welt möglich ist, aber wir wissen noch nicht, wie wir dorthin gelangen können. »

Die Veränderungen in der Bewegung kann man beispielsweise schon daran ablesen, dass die französischen Globalisierungskritiker, die sich früher « Antimondialistes » nannten jetzt « Altermondialistes » heißen - um zu unterstreichen, nicht nur gegen etwas zu sein, sondern auch Alternativen aufzeigen wollen. Wie ernst ihr Anliegen und ihr Einfluss heute schon sind, davon zeugte die Teilnahme von Abordnungen französischer Parteien und Gewerkschaften unter ihren eigenen Fahnen und Losungen im Demonstrationszug. Auf fröhlichen Empfang konnte die etablierte Politik dabei allerdings nicht bei allen setzen: Eine Abordnung der Sozialistischen Partei Frankreichs bekam gegen Ende der Demonstration den Unmut von linksradikalen Demo-Teilnehmern zu spüren. Mit Flaschen, Eiern und Joghurtbechern beworfen, musste die Gruppe der Sozialistischen Partei unter dem Schutz der zahlreich in den Seitenstraßen postierten Polizisten in Sicherheit gebracht werden.

(ND 17.11.03)

Global denken, global handeln

Versammlung sozialer Bewegungen beschließt europäischen Aktionstag
Von Susanne Götze, Paris

Ein Abschlussplenum des Europäischen Sozialforums widmete sich der Rolle Europas in einer globalisierten Welt. Dabei standen die Gefahren der neuen Verfassung Europas, der Verrat humanistischer Ideen und die Perspektiven einer multilateralen Weltordnung im Mittelpunkt.

Globalisierungsgegner sind nicht gegen die Globalisierung, sondern gegen den Neoliberalismus. Globalisierungsgegner machen die Globalisierung, indem sie sich weltweit gegen Neoliberalismus wehren und sich in Sozialforen zusammenfinden, um zu diskutieren und sich kennen zu lernen. Sie stammen aus verschiedenen Ländern, haben verschiedene Kulturen, andere Gewohnheiten, sprechen andere Sprachen - doch sie haben ein gemeinsames Anliegen. Das ist die Einheit in der Vielfalt, das einzigartige Moment dieser Bewegung.

Die Teilnehmer des Pariser Sozialforums sind auch nicht gegen eine europäische Union. Am Samstag trafen sich noch einmal Menschen aus aller Welt, um darüber zu beraten, wie das Europa der Konzerne und des Kapitals in Zukunft zu einem sozialen, gerechten und offenen Europa werden kann. Alle Redner waren sich in einem einig: Der Status quo ist nicht hinnehmbar. « Die europäische Idee von Frieden und Gerechtigkeit wurde verraten », konstatierte etwa Antonio Tricarico aus Italien, der in einer Kampagne zur Reform der Banken aktiv ist. Es gehe darum, die europäische Idee der Humanität und der Menschenrechte wieder einzufordern. Während die europäischen Staaten innenpolitisch ihren Bürgern die kalte Schulter zeigen würden, verstecken sie sich außenpolitisch hinter dem neoliberalen Vorreiter USA.

Die hehren Ziele der französischen Revolutionäre « Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit » existierten in der EU nicht mehr, schimpfte Tricarico, auch wenn man die drei magischen Worte in Paris noch an jeder zweiten Haustür lesen könne. Die soziale Bewegung hingegen, die sich auf Grund der Unfähigkeit von Europas linker Politik formiert habe, stehe dafür ein, dass in Europa wieder Regeln, Rechte und Verantwortung auf der Tagesordnung ständen, so der Italiener.

Die Spielregeln ändern

« Wir müssen die Spielregeln wieder ändern », meint auch Susan George von Attac Frankreich. In den USA sehen viele Menschen das größte politische Übel - doch die EU folge schon an zweiter Stelle. Nicht zuletzt, weil die europäischen Staaten nicht Willens und fähig seien, ein Gegengewicht zur nordamerikanischen Hegemonialkraft zu bilden, so George. Stattdessen fahre die EU im Schatten des großen Bruders in die gleiche Richtung.

George betonte die Notwendigkeit, sich gerade jetzt für ein alternatives europäisches Modell zu engagieren: « Wir haben eine Chance, unsere Vorstellungen einer besseren Welt durchzusetzen, auch wenn die Hoffnung noch sehr dünn ist. »

Die aktuell diskutierte europäische Verfassung ist für viele Kritiker ein Beweis dafür, dass die EU endgültig vom Pfad der sozialen Gerechtigkeit abgekommen ist. « Wenn wir für eine bessere Welt kämpfen, dürfen wir diese Verfassung nicht akzeptieren », machte Eric Decarro aus der Schweiz klar, der in einem Zusammenschluss für öffentliche Güter aktiv ist. Auch wenn sein Land nicht in der EU sei, liege es doch im Herzen Europas. Die neoliberale Logik der Konkurrenz und des Marktprinzips weiche die sozialen Rechte der Bürger auf. In der Verfassung würden diese Ungerechtigkeiten jetzt rechtlich verankert werden, so Decarro.

An der Unabhängigkeit der Politik zweifeln auch in Europa immer mehr Menschen. Dementsprechend geht auch das Politikvertrauen stetig zurück. Für Oliver Hoedemann von der Corporate Europe Obercatory-Pays-Bas stehen nicht nur bei der Ausarbeitung der Verfassung, sondern auch in der Außenpolitik der EU eindeutig die Interessen von Lobbyisten im Vordergrund. Das Scheitern des WTO-Gipfels in Cancún sei ein Beispiel dafür, dass die Wirtschaftslobby, die hinter den Forderungen nach der Liberalisierung der Investitionen steht, nicht zu Kompromissen bereit sei. Dadurch sei es zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der neoliberalen Elite gekommen, da diese mit dem neuen Selbstbewusstsein der Länder im Süden noch nicht umgehen könne. Dieser politische Raum, so Hoedemann, müsse von der sozialen Bewegung genutzt werden, um Alternativen zu etablieren. Auch, weil die europäische Kommission nichts aus Cancún gelernt habe.

Gemeinsam aus der Krise

Ziel der Globalisierungskritiker müsse es sein, internationale Einrichtungen wie die WTO so zu ändern, dass schwache Staaten mehr Mitspracherechte erhielten. Hoedemann sprach sich an dieser Stelle für einen progressiven Multilateralismus aus. Diese Argumentationslinie verfolgte der französische Schriftsteller George Monbiont weiter, der die alte Formel « Global denken, lokal handeln » in « global denken, global handeln » umformulierte. Alle existenziellen Probleme, die sich heute stellten - von der Klimaerwärmung über Staatsverschuldung bis zu Kriegen - benötigten globale Lösungsansätze. Nur in Zusammenarbeit aller Staaten könnten wirkungsvolle Wege aus der Krise gefunden werden. « Ohne eine globale Demokratie ist eine lokale Demokratie heutzutage nicht möglich », so Monbiont.

Die Sozialforen, die weltweit stattfinden, dürften ein Vorreiter dieser Idee bleiben. Das nächste Weltsozialforum, das im kommenden Januar im indischen Delhi stattfinden wird, soll in diesem Sinne die Ideen des europäischen Sozialforums mit den Vorschlägen anderer kontinentaler Foren zusammenführen. Die Versammlung der Sozialen Bewegungen Europas, die im Anschluss an das Sozialforum in Paris getagt hat, hat gemeinsame Aktionen gegen Sozialabbau, Krieg und die Europäische Verfassung beschlossen. So soll es im Frühjahr einen Aktionstag gegen Neoliberalismus und Sozialabbau geben, zu dem soziale Bewegungen und Gewerkschaften gemeinsam aufrufen. Aus Deutschland sicherten Frank Bsirkse (ver.di) und Horst Schmitthenner (IG Metall) in Paris die Unterstützung für einen solchen Aktionstag zu.

(ND 17.11.03)

Ein Mammutprogramm und ziemlich viel Frust

Europäisches Sozialforum tagte drei Tage lang in Paris - Globalisierungsgegner aus aller Welt trafen sich
Von unserem Korrespondenten Hans Bartsch

Paris. Eine heiter farbenfreudige Demo wie sie Paris schon lange nicht mehr erlebt hat: von Portugal bis Skandinavien, von Griechenland bis Deutschland, von der IG Metall bis zur DKP - zum großen Abschlusslauf des Europäischen Sozialforums auf der klassischen Pariser Protestroute Republique-Bastille-Nation hatten sich Menschen von überall eingefunden. An die 100000 dürften es gewesen sein, kräftig angereichert durch alles, was Frankreich selbst an Globalisierungskritikern aufzubieten hatte, von Trotzkisten über alternative Landwirte bis zur katholischen Caritas. 1500 Organisationen aus aller Welt hatten drei Tage lang dieses Forum genutzt, um Kritik an der Globalisierung vorzubringen, um "ein anderes Europa, eine andere Welt zu bauen". Ein Mammutprogramm war zu bewältigen, 55 große Debatten, 250 Seminare und noch mehr Workshops, über Paris und drei Vorstädte. Für persönliche Treffen und Gedankenaustausch sicherlich eine gute Plattform, für fruchtbare Debatten aber nicht unbedingt. Etwa in der großen Runde, die mit 2000 Teilnehmern sich des Themas "Europa in der weltweiten Liberalisierung" annehmen wollte. Was ist von dem Entwurf der neuen europäischen Verfassung zu halten? Für Tom Jenkins vom europäischen Gewerkschaftsverband ein alles in allem brauchbarer Ansatz. Für die meisten anderen dagegen unakzeptabel, weil auf die Unterwerfung unter das "US-Imperium" hinauslaufend, wie Susan George von Attac-France unter großem Beifall ausrief. Ein Attac-Mitglied aus Leipzig, das nach langem Warten das Mikrofon erhielt, musste schnell resignieren. Bevor er seine Botschaft formuliert hatte, musste er aufhören. "Wir Ostdeutschen kommen nie voll zu Wort", war sein bitterer Kommentar. Einen "antikapitalistischen Turmbau zu Babel" glaubte der konservative Pariser "Figaro" zu erkennen. Die linksliberale "Liberation" befand bei aller Sympathie für die Globalisierungskritiker, dass "antiliberale Schlagworte und bloßes Kontern" auf die Dauer nicht ausreiche.

17. November 2003 11:15 Bremer Nachrichten


esf paris | www.agp.org (archives) | www.all4all.org