Von Heroen-Sagen zu Alltagsfragen
Die globalisierungskritische Bewegung braucht anti-patriarchale Perspektiven
(Ariane Brenssell, iz3w-Sonderheft, Nov. 2002)
Von Heroen-Sagen zu Alltagsfragen (2002)
Die globalisierungskritische Bewegung braucht antipatriarchale Perspektiven
Nicht nur Institutionen wie IWF und WTO sind "geschlechtsblind". Auch die Kritik linker Bewegungen hält an den herkömmlichen androzentrischen Kategorien fest. Die aber sind, wie eine Einbeziehung der Geschlechterverhältnisse zeigt, Grundlage der neoliberalen Globalisierung. Erst eine Kritik, die darüber hinausgeht und die bis in den Alltag reicht, könnte Räume für alternatives Denken und Handeln eröffnen.
von Ariane Brenssell
Angesichts der Zustände auf unserem Globus sind radikale soziale Veränderungen notwendig - dieser Satz fände sicher uneingeschränkte Zustimmung in weiten Teilen der globalisierungskritischen Bewegung. Dass dies auch radikale Veränderungen in den Fragestellungen dieser Bewegung selbst, ihren Sichtweisen auf Herrschaft, sowie in den eigenen Verhältnissen erfordert und somit auch Veränderungen in der linken und großteils patriarchalen Theorie- und Politikpraxis, wird dagegen sicher auf weniger Begeisterung stoßen.
Zumindest zeigt sich, was die Geschlechterverhältnisse betrifft, in der globalisierungskritischen Bewegung nach wie vor wenig Bewegung.(1) Bei der jüngsten Großdemonstration von Gewerkschaftsjugend, Friedenskooperative und ATTAC - unter dem Motto "Her mit dem schönen Leben" - in Köln fiel die männliche Dominanz so ins Auge, dass eine Journalistin nachfragte, ob die Programme der versammelten Organisationen ebenso männlich seien wie ihre Sprecher. Sie bekam nur eine ausweichende Antwort. Auch der ATTAC-Kongress in Berlin im Herbst 2001 zeigt hier eine erschreckende Bilanz: Von ca. 75 Veranstaltungen bezogen gerade mal drei oder vier die Geschlechterverhältnisse mit ein.
Diese Stille ist kein Zufall, sie ist ein Symptom. In der feministischen Ökonomie wurde es auch als "strategisches Schweigen" (Bakker 1994) bezeichnet und gezeigt, wie dieses Schweigen in den ökonomischen Konzepten verankert und angelegt ist. Es lässt die Bereiche der Reproduktion, in denen nach wie vor hauptsächlich Frauen tätig sind und die einen großen Teil der weltweiten Arbeit und des Reichtums ausmachen, immer wieder aus dem Denken und aus den Theorien herausfallen - entgegen allen Beteuerungen, dass es notwendig sei, sie einzubeziehen. Das wird jedoch solange nicht geschehen, solange die herkömmlichen Konzepte, Kategorien, Begriffe nicht grundlegend verändert werden.(2) Ein Beispiel: Produktivität ist kein geschlechtsneutraler, sondern ein patriarchaler oder androzentrischer Begriff. Die allgemeine Definition von 'Produktivität' schliesst unbezahlte Arbeit, die keinen Gewinn auf dem Markt bringt aus. Produktivität ist dabei ein sehr praxisrelevanter Begriff, weil er die Basis des UN-Systems der Volkswirtschaftlichen Rechnung (UNSNA) bildet, welches wiederum Grundlagen für die ökonomische und politische Planung überall in der Welt entwickelt. So werden hier über einen geschlechtsblinden Blick, der die Berechnung unbezahlter Arbeit schlicht ausblendet, die geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen in das Weltwirtschaftssystem eingeschrieben (Eichler 1994).
Geschlechterverhältnisse sind Teil der Globalisierung - das Schweigen darüber auch
Im folgenden sollen ein paar Gedanken zur Bedeutung einer feministisch-antipatriarchalen Perspektive für eine globalisierungskritische Bewegung skizziert werden. Es soll gezeigt werden, dass sich eine solche Perspektive nicht in der Interessenspolitik für eine spezifische Gruppe "Frau" erschöpft. Es geht nicht um Frauenfragen, etwa um die Auswirkungen der Globalisierung auf Frauen oder um Frauen als Verliererinnen oder Gewinnerinnnen der Globalisierung (3). Es geht vielmehr darum, die Geschlechterverhältnisse als grundlegende Vergesellschaftungsform systematisch in die Analyse und Kritik der Gesellschaftsordnung einzubeziehen. Denn gesellschaftliche Strukturen und Institutionen, die Bereiche des Kulturellen, Alltäglichen und Persönlichen - all das vollzieht sich geschlechtsspezifisch. Unter anderem auf dieser Struktur baut Herrschaft auf, ganz besonders auch der globale Neoliberalismus. Dies zu ignorieren reproduziert herrschende Denkstrukturen. Es aber aufzugreifen bedeutet mehr als nur eine Korrektur oder Ergänzung innerhalb des bestehenden (Denk- )Rahmens - es hieße, diesen selbst zu verändern.
Frauenunterdrückung und -diskriminierung sowie die Aufrechterhaltung der Geschlechterpolaritäten in all ihren Formen und Schattierungen sind keine Nebenwirkungen oder zufällige Begleiterscheinungen neoliberaler Globalisierung. Sie sind zentraler Bestandteil einer globalen Herrschaftsform, in der Konzernstandpunkte und Profitinteressen strukturell und systematisch privilegiert werden. Alles, was diesen nicht unmittelbar nützlich ist, wird so noch ein Stückchen mehr "ins Hinterland" abgedrängt.
Ein Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen zeigt das: Globale Akteure/Konzerne gewinnen an Macht über die lokalen Verhältnisse, die sie so umgestalten, dass alles marginalisiert wird, was in ihrem Sinne unprofitabel ist. Begleitet vom Umbau der staatlichen und überstaatlichen Institutionen und Arrangements - Abbau des Sozialstaats, Privatisierung der öffentlichen Aufgaben und Zuständigkeiten - kommt es zu nachhaltigen Verschiebungen zwischen öffentlich und privat sowie zwischen profit- und non-profit-Bereichen, die das Soziale ökonomisieren und es Effizienzkriterien unterwerfen. Was diesen Kriterien nicht unterworfen werden kann, wird noch weiter ins gesellschaftliche Abseits katapultiert. Damit sind diese Tätigkeiten aber noch lange nicht überflüssig.
Sie werden vielmehr nebenbei und unbezahlt doch gemacht, jenseits der Kriterienkataloge, in geringer werdenden Zeitlücken. Und zwar oftmals von Frauen. Daher ist ein "Hinterland", das nicht unmittelbar nach Kapitalgesetzen reguliert ist und nicht den Gesetzen von Profiten und Produktivitätssteigerungen gehorcht, eine zentrale Bedingung, eine Art Untergrund neoliberaler Globalisierung.(4) Die auf diese Weise in den Arbeitsteilungen, den Wertigkeiten, den Selbstverständnissen und (subjektiven Gefühlen von) Zuständigkeiten erfolgende Herstellung der Geschlechterverhältnisse ist eine Voraussetzung neoliberaler Globalisierung.
Dies sind keine Fragen, die nur Frauen (als Mütter) angehen. Über die Geschlechterverhältnisse ist das spezifische Verhältnis von Produktion und Reproduktion bestimmt, werden gesellschaftliche Aufgaben und Tätigkeiten geregelt und bewertet. Damit wird das Schweigen über die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse zu einem wichtigen Moment von Herrschaft. Feministinnen haben den Globalisierungsdiskurs - auch den der Linken - daher als "narratives of eviction" bezeichnet, als Erzählungen, die etwas zum Verschwinden bringen (Sassen 1998). Mit der Ausblendung der Geschlechterverhältnisse werden so auch Ansatzpunkte für Veränderungen und Alternativen aufgegeben.
Dass die (neuen) Widersprüche ohne einen Paradigmenwechsel in der linken Theorie und Politik nicht zu erfassen sind, stellten 1995 zwei bekannte italienische Linke, Rossana Rossanda und Pietro Ingrao, erneut zur Diskussion.(5) Ausgehend von der These, dass sich die Linke durch die Art und Weise ihrer Theoriebildung die Erneuerung ihrer Handlungs- und Politikfähigkeit selbst verstellt, plädierten sie für einen grundlegenden Kurswechsel. Einen besonderen Stellenwert maßen sie dabei der vermeintlichen Geschlechtsneutralität der linken Debatten bei.
In ihrer Skizze der "neuen Widersprüche" zeigten sie, dass die Dimensionen sozialer Exklusion und ökologischer Zerstörung sowie die wachsende Anzahl sich ethnisch präsentierender Konflikte mit den herkömmlichen Kategorien linker Politik und Theorie nicht adäquat erfasst werden können. Die Orientierung am erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaftskonzept und an herkömmlichen Fortschrittskonzeptionen sei androzentrisch. Denn sie verallgemeinere "männliche" Vergesellschaftungsformen wie die Familienlohnform, das Normalarbeitsverhältnis oder technische Lösungen für soziale und ökologische Probleme. Alle wichtigen Fragen, die jenseits dieses Fokus liegen, blieben unsichtbar.
Vor diesem Hintergrund fordern Ingrao/Rossanda eine "Horizontverschiebung der Linken, weil dadurch andere menschliche Lebensbereiche" und andere politische Subjekte in den Blick kämen (1996: 116). Dazu sei die Abkehr von einer Sichtweise grundlegend, die sie als "männlich" bezeichnen, weil sie von "den körperlichen Befindlichkeiten, den Gefühlen und Zeiten der Reproduktion abstrahiert" (1995: 428) - eine Sichtweise, welche die Konstituierung von Herrschaft in unserer Lebensweise, in unserem Alltag und unseren persönlichen Verhältnissen systematisch ignoriert.(6)
Antipatriarchale Spurensuche - eine Erweiterung von Wirklichkeit
Um dem Verharrungsvermögen linker Theoretisierungen etwas Leichtigkeit entgegenzusetzen, unternehme ich einen kleinen Terrainwechsel. In der Literatur scheint sich der Zauber einer antipatriarchalen Sichtweise viel direkter entfalten zu können. Vielleicht lässt sich davon etwas hinüberretten in den standardisierten und formalisierten Kanon der Politik- und Theoriekultur.
Christa Wolf begibt sich in "Kassandra" auf die Spurensuche nach der "Kassandra", die sie war bevor sie durch männliche Dichteraugen betrachtet - und diskreditiert - wurde: "Wer war Kassandra, ehe irgendeiner über sie schrieb?" (127) Durch ein Dickicht patriarchaler Blicke und Deutungen hindurch entdeckt Christa Wolf eine Frau - die Seherin Kassandra - die aus herkömmlichen Denk- und Handlungsmustern ausgebrochen ist, die Widersprüche sehen und benennen konnte, weil sie sich weigerte, bestimmte Wirklichkeitsdimensionen auszublenden. Sie gewinnt bei dieser Spurensuche eine andere Sichtweise, in der nicht (patriarchale) "Heroengeschichten" im Mittelpunkt stehen.
Vielmehr geht es darum "Unauffälliges zu benennen..., den kostbaren Alltag, konkret" ins Zentrum zu stellen. Das lebendige subversive Wort, "es hätte sich in jedem Sinn ‚von unten' an sein Material heranzuarbeiten, das, wenn man es durch ein anderes Raster ansähe als bisher, doch noch bisher unerkannte Möglichkeiten offenbaren mag." (125) Auf diese Weise lässt sich neues entdecken: "Mit der Erweiterung des Blick-Winkels, der Neueinstellung der Tiefenschärfe hat mein Seh-Raster, durch das ich unsere Zeit, uns alle, dich, mich selber wahrnehme, sich entscheidend verändert... Wenn ich mir klarzumachen suche, was da geschieht und geschah, so ist es, auf den allgemeinsten Nenner gebracht, eine Erweiterung dessen, was für mich wirklich ist." (131)
Was lässt sich aus Christa Wolfs antipatriarchaler Spurensuche für eine aktuelle Globalisierungskritik gewinnen? Zunächst lässt sich Hoffnung darauf schöpfen, dass gerade die Auseinandersetzung mit den unauffälligen und alltäglichen Fragen, den Blick auf andere Wirklichkeiten oder gar bisher unerkannte Möglichkeiten freigeben könnten: Wie bestimmt neoliberale Globalisierung die eigene Lebensweise, den Alltag, die persönlichen Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungen? Wie gestalten wir unseren Alltag, wie gehen wir alltäglich mit Widersprüchen um, wie thematisieren wir sie, wie werden wir handlungsfähig im Kleinen?
Damit verändern sich die Handlungsperspektiven: Räume könnten geschaffen und so gestaltet werden, dass jene Standpunkte und Sichtweisen und auch jene alltäglichen und persönlichen Problematiken zur Sprache kommen und in Austausch gebracht werden können, die in der Regel ausgeblendet, individualisiert und ohne Bezug zum "großen Ganzen" bleiben.
Eine andere Bewegung - Ausgangspunkte für Alternativen
Eine Globalisierungskritik aber, die geschlechtspezifische Ungleichheiten oder Polarisierungen nicht benennt, läuft Gefahr, bestehende Machtverhältnisse zu reproduzieren, weil sie sich innerhalb fundamentaler Denkformen von Herrschaft und innerhalb der hegemonialen Relevanzstrukturen bewegt. Es braucht Standpunkte und Perspektiven, mit denen es gelingt, aus den Nahelegungen der herrschenden Denkformen auszubrechen und andere Anfangspunkte zu setzen. Ansätze hierzu kann eine feministisch-antipatriarchale Perspektive bieten, die nicht auf Essentialismen basiert, die Geschlechterverhältnisse nicht auf Identitätsfragen verkürzt, sondern diese als Praxis der Aufrechterhaltung von Herrschaft erkennt.
Zum Beispiel als Kritikstandpunkt: Unterdrückung, Diskriminierung und Marginalisierung von Frauen, die Ausblendung ganzer Bereiche von Arbeit, das Abwerten all dessen, was "un-ökonomisch" ist - all dies ist nicht umstandslos gleichsetzbar mit der empirischen Gruppe "Frauen". Aber von hier aus kann sich der Blick öffnen auf die systematische und zunehmende Marginalisierung und Entwertung von Bereichen und Praxen, für die in den real-existierenden Verhältnissen neoliberaler Globalisierung oftmals - aber eben nicht nur - Frauen zuständig bleiben. Ein "Frauenstandpunkt" wird so zu einem wichtigen Kritikstandpunkt (Hennessy 1993), von dem aus der Marginalisierung von bestimmten Subjektpositionen - einem Spezifikum des Neoliberalismus - begegnet werden kann: Den Gewichtungen, Nahelegungen und (Entnennungs-) Diskursen der herrschenden Verhältnisse, können andere Fragen, Wertigkeiten, Wirklichkeiten und Möglichkeiten entgegengestellt werden, die allein nur denken zu können der globale Neoliberalismus schon versperrt.(7)
Zum Beispiel als Anregung für eine andere Bewegungspraxis, die Räume schafft für Entwicklungen und Bewegungen, auch miteinander und untereinander: Herrschaft dort und wir hier? Smash Capitalism? Macht und Hegemonie reproduzieren sich nicht fernab des eigenen Handelns, sondern eben auch darin. Alltag nicht abgetrennt von Herrschaft zu sehen, sondern die Frage zu stellen "wie Herrschaft sich alltäglich reproduziert" (Haug 1994), macht andere Themen, Zugänge und Zusammenhänge und damit auch andere Ansatzpunkte für Veränderungen sichtbar und lebbar. So korrespondiert zum Beispiel die Durchsetzung der neoliberalen Verwertungs- und Effizienzlogik auf individueller Ebene eng mit dem Umgang mit persönlichen Spielräumen und der Zeiteinteilung: Wie teilen wir unsere Zeit auf? Wofür wenden wir Zeit auf, wofür wollen wir unsere Zeit aufwenden? Der Blick aus dem eigenen Leben zeigt: Zeit ist keine quantitative Grösse, sondern Zeit entscheidet über Entwicklungsräume und -möglichkeiten.
All das macht allerdings andere Bewegungen nötig. Was es heißt, nicht bei der Kritik stehen zu bleiben, sondern sie umzusetzen und etwas anderes lebbar zu machen, war und ist u.a. Thema in der Frauenbewegung, in lokalen Antikriegs- oder antirassistischen Projekten. Hier werden andere Zugänge zu Themen vorgeschlagen, Positionen und Methoden erarbeitet, die die eigene Verstrickung in die Verhältnisse erfassen.(8) Zudem werden andere Diskussionskulturen und Dialogformen erprobt. So unterschiedlich die Vorschläge und Praxen auch sind, so haben sie doch eines gemeinsam: ‚Lösungen' werden nicht allein von einer Veränderung der anderen, in einem Kampf gegen ... erwartet, sondern beginnen mit der Entwicklung von Alternativen unter- und miteinander. Immer dann wenn nicht abstrakt (ohne Bezug auf Lebensweise, Alltag und eigene Erfahrungen) sondern ausgehend von unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen von Problemen gesprochen wird, kann die Verständigung darüber zum Ausgangspunkt für die Entwicklung einer gemeinsamen Politik werden.(9)
Räume für solche Erfahrungen sollten auch die globalisierungskritischen Bewegungen schaffen, um neue Formen der Kritik und Alternativen entwickeln zu können.
Diese Überlegungen sind lediglich Anregungen für eine etwas andere Denk- und Bewegungsrichtung, um andere Wege der Kritik und der Auseinandersetzungskultur zu wagen, die (eigenen) Perspektiven zu erweitern, die Rahmen zu sprengen, eine Suche zu beginnen. An sie knüpft sich die Hoffnung, dass mit einer Gesellschaftskritik, die das Verhältnis untereinander und zu sich selbst - die sogenannten kleinen Fragen - ebenso ernst nähme wie die Skandalisierung der IWF- oder WTO-Politik, die ersten Schritte zu den dringend anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen schon gegangen wären.
Fußnoten:
1 Und das liegt sicher nicht an einem Mangel an frauenspezifischen und feministischen globalisierungskritischen Analysen.
2 Ein Schwerpunkt feministischer Erkenntnistheorie und Wissenschaftskritik ist nicht zuletzt deshalb die
Auseinandersetzung mit den Implikationen vermeintlich geschlechtsneutraler Begriffe.
3 Dabei soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass der Nachweis geschlechtsspezifischer Ungleichheiten nicht wichtig wäre - er fördert immer wieder die gravierenden Ungleichheitsdimensionen zutage. Mehr noch sollte aber erkennbar sein, wie diese strukturell in den Verhältnissen begründet sind. So besteht eine Problematik bei der Frage, ob Frauen Gewinnerinnen oder Verliererinnen der Globalisierung sind, darin, dass hier häufig ausgeblendet wird, was das für Verhältnisse sind, unter denen Frau zur Gewinnerin werden kann. Diese Verkürzung führt dann zu Diskussionen, in denen weibliche Führungskräfte aus der BRD beklagen, dass Amerikanerinnen privilegiert sind, weil diese ihre Dienstmädchen steuerlich absetzen können. Damit wird Gesellschaftskritik aufgegeben bzw. ein sehr verkürzter Blick auf GeschlechterVerhältnisse geworfen, die etwa auf die Frage der individuellen Möglichkeiten von Männern und Frauen als konkrete Personen reduziert werden.
4 Dieser Gedanke wurde von Rosa Luxemburg in "Die Akkumulation des Kapitals" entwickelt und von Frigga Haug (1996) feministisch ausgearbeitet.
5 Im Feminismus ist diese Kritik sehr häufig formuliert worden.
6 Dass eine solche Horizontverschiebung auch die Entwicklung einer anderen Praxis erfordern würde, zeigt der Fortgang der Initiative: Der Vorschlag von Ingrao/Rossanda wurde auf deutsch im herkömmlichen Sinne diskutiert - d.h. im Blick auf politisch-ökonomische Institutionen und Arrangements, unter Ausschluss der alltäglichen Widersprüche und geschlechtsspezifischen Wirklichkeiten, subjektlos also und geschlechtsneutral (dokumentiert in dem Band "Verabredungen zum Jahrhundertende"). Die Frage nach einem Zugang zu politischen Fragen, der die Widersprüchlichkeiten der Verhältnisse ‚von unten' zum Ausgangspunkt macht, wurde ausgespart.
7 s. dazu Brenssel 2000
8 In feministischen und Projekten in Kriegsgebieten (z.B: Israel-Palästina) wird das Konzept der "Transversalen Politik" verwendet. Dabei geht es um die Entwicklung von Prozessen, die Spaltungen und Konflikten ´von unten´ entgegenwirken: Von zentraler Bedeutung für transversale Politik sind jene Prozesse, die italienische Feministinnen ... als ‚Verwurzeln' (rooting) und ‚Verändern' (shifting) bezeichneten: Jede Dialogteilnehmerin bringt ein, wo ihre eigene Zugehörigkeit und ihre eigene Identität verwurzelt sind. Gleichzeitig versucht sie aber, ihre Position zu verändern, um sich selbst in die Lage zu versetzen, sich mit Frauen unterschiedlicher Zugehörigkeiten und unterschiedlicher Identitäten auszutauschen. (vgl. z.B: Cynthia Cockburn: "The space between us", London 1998; Dan Bar-on: Die ‚Anderen in uns'. Dialog als Modell der interkulturellen Konflikbewältigung, Hamburg 2001 )
9 In der Regel bestimmen jedoch Meinungen über Erfahrungen die politischen Debatten. Dies hat dann die Konsequenz, dass sich eine bestimmte Wahrnehmungsweise der Probleme durchsetzt, verallgemeinert wird und so andere Erfahrungen ausblendet. Diese wird dann zum Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen über gesellschaftliche Veränderungen.
Literatur:
Bakker, Isabella (Hrsg.): The strategic silence. Gender and economic policy, London/Ottawa 1994
Brenssell, Ariane: Jenseits der Autonomie im Hinterland des Neoliberalismus, in: Psychologie und Gesellschaftskritik 24. Jg., Nr. 3-4/2000, S. 35-52
Eichler, Margrit 1994: Sieben Weisen, den Sexismus zu erkennen, in: Das Argument 207, Heft 6
Haug, Frigga 1994: Alltagsforschung als zivilgesellschaftliches Projekt, in: Das Argument 206 (1994), S. 639-658
Dies: Knabenspiele und Menschheitsarbeit. Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse, in: dies.: Frauen-Politiken, Hamburg 1996
Hennessy, Rosemary: Materialist Feminism and the Politics of Discourse, New York/London 1993
Ingrao, Pietro/ Rossanna Rossanda: Die neuen Widersprüche, in: Prokla 100 (1995), S. 409-430
Dies.: Verabredungen zum Jahrhundertende, Hamburg 1996
Madörin, Mascha: Finanzsektor und die Macht, Sachzwänge zu schaffen, in: Krondorfer/Mostböck (Hrsg.): Geld essen Kritik auf, Wien 2000
Sassen, Saskia: Überlegungen zu einer feministischen Analyse der globalen Wirtschaft, in: Prokla 111 (1998), S. 199-216
Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, Darmstadt 1984
Ariane Brenssell ist vernetzt im Antipatriarchalen Netz Berlin, arbeitet zu Alltag und Geschlechterverhältnissen im Neoliberalismus sowie zum Zusammenhang von Geschlechterverhältnissen und Krieg.
EK I: Was den Profitinteressen nicht direkt dient, wird abgedrängt ins neoliberale "Hinterland"
II: Auch die Globalisierungskritik orientiert sich an Familienlohnform und Normalarbeitsverhältnissen
III: Die Bewegung sollte Alltagsfragen so ernst nehmen wie die WTO- und IWF-Politik
iz3w Sonderheft 2002 zur Globalisierungskritik
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