Von der Weltbank zur Westbank: Über den Wert einer Bewegung, die nach dem 11.September bereits abgeschrieben wurde, und sich jetzt in Palästina engagiert

Von George Monbiot

Zwei Arten von menschlichen Schutzschilden sind in Palästina im Einsatz. Eine davon ist es gegen ihren Willen. Die israelische Armee hat sie, genau wie sie es mit einigen Terroristengruppen tat, als Geiseln genommen. Israelische Soldaten haben palästinensische Zivilisten durch die Türen verdächtiger Gebäude vor sich her getrieben. Bewaffnete Männer, die darin vermutet wurden, sollten im Falle ihrer Verteidigung zuerst die Zivilisten töten müssen.

Die zweite Art menschlicher Schutzschilde haben sich freiwillig in die Schußlinie begeben. Seit Beginn der Armee-Offensive in der West Bank haben hunderte von israelischen und ausländischen Friedensaktivisten versucht, sich in den Weg zu stellen. Mit großem persönlichem Risiko haben Teilnehmer/innen der internationalen Solidaritätsbewegung sich selbst zu Geiseln gemacht um Zivilisten zu schützen. Dies ist ein Zeugnis von außergewöhnlichem Mut und Selbstaufopferung. Es handelt sich hierbei um die jüngste Verkörperung einer Bewegung, die erst vor ein paar Monaten gestorben zu sein schien.

Diese Bewegung, in der viele Friedensaktivisten ihr Leben in Ramallah und Bethlehem riskieren hat keinen Namen. Von einigen wird sie als Anti-Globalisierungsbewegung, Anti-kapitalistische Bewegung oder als Bewegung gegen Konzernherrschaft bezeichnet. Andere ziehen es vor ihre positiven Ziele zu betonen und nennen sie Bewegung für Demokratie oder internationale Bewegung. Aber da ihre Teilnehmer/innen an erster Stelle Wert auf politische Praxis und erst an zweiter Stelle Wert auf Theorie legen ist es unmöglich sie zu kategorisieren. Wann immer es für Außenstehende so scheint, als hätte sie eine bestimmte Identität angenommen, verwandelt sie sich bereits wieder. Die Bewegung läßt sich von einer neuen aufgeschlossenen politischen Handlungsweise leiten. Sie wird nicht durch Ideologien sondern von Notwendigkeiten bestimmt.

Nach dem 11. September schien es, als würde diese namenlose Gestalt wieder ebenso schnell verschwinden, wie sie erschienen war. Aus den riesigen Demonstrationen, die für Ende September in Washington gegen die Weltbank und den IWF geplant waren, wurde ein kleiner und eher zaghafter Friedensmarsch. Die meisten US-Aktivisten waren durch den neuen 'McCatherismus', der den amerikanischen Diskurs seit dem 11.September bestimmte, eingeschüchtert und ließen den Kopf hängen. Die Kommentatoren verabschiedeten die Bewegung wie eine vorübergehende Marotte, die die Jugend der Welt kurzfristig mitgemacht hatte, so weitverbreitet und substanzlos wie Diät-Cola und Nike-Klamotten.

Aber diejenigen, die die Bewegung verabschiedeten, hatten die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten und die Breite ihrer Unterstützung nicht verstanden. Die Fernsehkameras hatte sich stets auf ein paar hundert schwarz gekleideter junger Männer gerichtet, die umherzogen und randalierten, gelegentlich unterbrochen von Bildern eines allgemeinen Protestkarnevals. Selten erlaubten sie den Teilnehmern eine Erklärung über den Sinn und Zweck ihres Protests. Auf diese Weise konnten die meisten Außenstehenden nicht die innere Verpflichtung, mit der sich viele Menschen in diesem Protest engagierten nicht erkennen und auch nicht, daß sie über diese innere Verpflichtung nicht verhandeln würden. Das Verschwinden dieser Bewegung ist ebenso unwahrscheinlich wie das Verschwinden der Regierungen oder der internationalen Konzerne. Ihr Überleben ist schon dadurch gesichert, daß sie sich den politischen Erfordernissen entsprechend verwandeln kann.

Im letzten Monat reisten 250.000 Demonstranten nach Barcelona um gegen den Angriff auf die Arbeitsschutzgesetze und gegen die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu kämpfen. Einer Politik, die von Tony Blair, Silvio Berlusconi und Jose Maria Aznar angeführt wird. Diesen Monat reisten einige dieser Demonstranten nach Palästina. Unter den britischen Palästina-Reisenden finden wir diejenigen wieder, die die Protestaktionen gegen Konzernherrschaft, Gentechnik und Klimaveränderung durchführten. In Palästina trafen sie in dieser Woche mit den Teilnehmer/innen des italienischen Netzwerks 'Ya Basta' zusammen, welche die Protestaktion in Genua koordiniert hatten. Für die Bewegung, die in Seattle (1999) geboren wurde, gehören die Weltbank und die West Bank zum gleichen politischen Territorium.

Würde es sich bei den Demonstranten nur um einen herumreisenden Mob handeln, wären ihr Einsatz völlig nutzlos. Diese ständig lernende Bewegung hat sehr schnell begriffen, daß Protest nur dann effektiv ist, wenn er auf die Arbeit von Experten aufbaut. Wie die meisten Menschen auf dieser Erde erst sichtbar werden wenn sie bluten, wurden auch die Ausländer in der West Bank erst sichtbar, als sie verletzt wurden. (Fünf britische Aktivisten wurden letzte Woche von den illegalen Splitterbomben der israelischen Armee verletzt) Doch einige Outsider haben dort schon seit Jahrzehnten gearbeitet, und die Neuankömmlinge schließen sich bei ihrer Arbeit mit diesen lange aufgebauten Netzwerken zusammen und richten sich nach deren Anweisungen. Zwischen Geschossen und Panzern baut sich diese Bewegung ihren Mut auf, einen Mut auf den man bislang lange warten konnte.

Die Aktivisten zogen in die Häuser der Menschen, die von der Bombardierung durch die israelische Armee bedroht waren. Dadurch konnten die Soldaten diese Palästinenser nicht angreifen, ohne daß sie nicht auch die ausländischen Aktivisten getroffen hätte. Sie saßen als Begleiter in den Krankenwagen um Kranke und Verletzte ins Hospital zu fahren in der Hoffnung, daß sie dadurch schneller durch die israelischen Checkpoints kamen und die Soldaten davon abhalten konnten, die Insassen zu schlagen. Sie versuchten, Nahrungsmittel- und Medizintransporte in die Ortschaften zu organisieren, in denen es keinerlei Vorräte mehr gab. Sie versuchten, beide Seiten zu ermutigen ihre Waffen niederzulegen und gewaltfreie Lösungen zu finden. Mit anderen Worten, sie sind im Moment eine Art Graswurzel-UN, und mit ihren spärlichen Ressourcen versuchen sie die Versprechen zu halten, die ihre Regierungen gebrochen haben.

Am Wichtigsten könnte vielleicht sein, daß die Friedensaktivisten an einigen Stellen die einzigen ausländischen Zeugen für begangene Greueltaten sind. Mittels alternativer Nachrichtennetzwerke wie beispielsweise Indymedia und Allsorts waren sie in der Lage, über Ereignisse zu berichten, über die die meisten Journalisten nichts wußten.

Sie haben gesehen, wie Palästinenser, nachdem ihnen von der israelischen Armee eine Feuerpause mitgeteilt wurde, erschossen wurden, wenn sie ins Freie traten, oder wie sie festgenommen und als menschliche Schutzschilde benutzt wurden. Sie waren Zeugen, als Häuser geplündert und die Nahrungsmittelvorräte der Menschen absichtlich vernichtet wurden. Sie waren dabei, als Krankenwagen und Lastwagen mit Hilfsgütern angehalten und zerstört wurden. Am 28.März sah ein Friedensaktivist, wie israelische Soldaten in ihren Jeeps Frauen und Kinder jagten, die außerhalb von Ramallah über die Felder flohen, und wie sie versuchten, sie kaltblütig zu erschießen. Diese ausländischen Aktivisten waren nicht nur Zeugen, sondern wurden selbst zur Geschichte. Erst dadurch, daß sie selbst geschlagen und beschossen wurden, konnten sie diese Geschichte den Menschen in ihren Heimatländern, die den Mord und die Verstümmelung von Zivilisten von sich weisen wollten, nahebringen.

Das Eintreffen dieser Bewegung auf der West Bank ist Teil eines organischen Entwicklungsprozesses und ihrer weit verbreiteten Aktivitäten. Seit Jahren kämpft sie gegen die destruktive Außenpolitik der mächtigsten Regierungen der Welt und gegen das Scheitern der multinationalen Institutionen, gegen diese Regierungen vorzugehen. Auf beiden Seiten des Atlantiks wiederholen die Kommentatoren mit viel Getöse aber völlig wirkungslos ihre Forderung, daß Yasser Arafat mit dem Terror im Mittleren Osten aufhören solle. (Yasser Arafat, der im Moment nicht einmal die Macht hat eine Toilette mit Wasserspülung benutzen zu dürfen) Anstatt sich diesen nutzlosen Forderungen anzuschließen, wenden sich die Friedensaktivisten wie immer an diejenigen, die tatsächlich die Macht haben: An Israel und an die Regierungen, die Israel mit Geld und Waffen ausstatten und die die Besetzung der West Bank ermöglichen. Die Bewegung ist von anfang an pragmatisch gewesen, genauso bereit gegen die Regierung von Burma und ihre Behandlung der indigenen Bevölkerung zu protestieren, wie gegen China's Enteignung der Tibeter oder gegen die Politik des IWF in Argentinien. In Palästina versucht sie sich genauso wie anderswo zwischen diejenigen zu stellen, die die Macht haben und die, die durch die Macht verletzt werden.

Alle fordern, daß gegen den Konflikt im Nahen Osten etwas getan werden muß. Die Friedensaktivisten tun etwas.

www.monbiot.com

Übersetzung aus dem Englischen: Regina Schwarz

Englische Originalfassung veröffentlicht in 'The Guardian of London', April 9, 2002

www.commondreams.org/view02/0409-02.htm

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