International Herald Tribune, Freitag, 14. Juni 2002, S. 9
Desmond Tutu
Eine Internationale Kampagne
Washington. Das Ende der Apartheid ragt als eine der krönenden Errungenschaften des letzten Jahrhunderts heraus, aber dies wäre uns nicht ohne die Hilfe des internationalen Druckes gelungen. Es gibt keinen grösseren Beweis für die Würde einfacher Menschen auf der ganzen Welt, als die Anti-Apartheidbewegung der 80er Jahre. Eine ähnliche Bewegung hat sich neuerdings gebildet, dieses Mal mit dem Ziel, die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete zu beenden. Es ist zu hoffen, dass sich der Normalbürger erneut dafür einsetzen wird, da die Hindernisse, die sich einer erneuerten Bewegung in den Weg stellen, nur durch ihre moralische Dringlichkeit überwunden werden. Die Kampf für ein Investitionsboykott Südafrikas während des Apartheidregimes wurde an der Basis geführt. Religiöse Führer informierten ihre Anhänger, Gewerkschaftsmitglieder setzten ihre Aktionäre unter Druck und Verbraucher ihre Ladenbesitzer. Studenten spielten eine besonders wichtige Rolle, indem sie die Universitäten dazu brachten ihre Einkaufspolitik zu ändern. Schliesslich traten die Institutionen auf die finanzielle Bremse, und die Regierung Südafrikas bekam Zweifel über ihre Politik.
Moralischer und finanzieller Druck ist erneut von jedem Einzelnen gefordet. In den Vereinigten Staaten fordern Studenten von mehr als 40 Universitäten ein Überdenen der Einkaufspolitik der Universitäten. In Europa gibt es Bemühungen, die von Verbraucherboykotts bis zu Waffenembargos reichen. Diese Taktiken sind nicht die einzige Parallele zum Kampf gegen die Apartheid in Südafrika.
Die Bewohner der Townships von gestern können ihnen etwas über das heutige Leben in den besetzten Gebieten erzählen. Um nur einige Blocks von seinem eigenen Homeland weit zu reisen, war ein älterer Großvater von der Laune eines Soldaten im Teenageralter abhängig. Ein Notfall reicht nicht aus, um in ein Krankenhaus zu gelangen; weniger als ein Verbrechen braucht es für eine Reise ins Gefängnis. Die Glücklichen haben eine Erlaubnis ihre Misere zu verlassen, um in den Städten zu arbeiten. Aber das Glück endet, wenn die Sicherheitskräfte alle Kontrollpunkte schließen und ein ganzes Volk paralysiert. Die Demütigungen, die Abhängigkeit und die Wut scheinen nur allzu vertraut. Ich bin nicht der erste Südafrikaner, der sich auf entsetzliche Weise an das, was wir gerade erst hinter uns gelassen haben, erinnert fühlt. Ronnie Kasrils und Max Ozinsky, zwei jüdische Helden im Kampf gegen die Apartheid veröffentlichten vor kurzem einen Brief mit dem Titel "Nicht in Meinem Namen." Unterzeichnet von mehreren Hundert anderen prominenten jüdischen Südafrikanern, zog der Brief explizit eine Analogie zwischen der Apartheid und der derzeitigen israelischen Politik. Auch der Schriftsteller Mark Mathabane und der ehemalige Präsident Nelson Mandela haben auf die Relevanz der südafrikanischen Erfahrung für den gegenwärtigen Konflikt hingewiesen.
Die Besetzung zu kritisieren bedeutet nicht, Israels einzigartige Stärken zu übersehen, ähnlich wie der Protest gegen den Vietnamkrieg nicht bedeutete, die eindeutigen Freiheiten und humanitäre Errungenschaften der Vereinigten Staaten zu ignorieren. In einer Region, in der repressive Regierungen und ungerechte Politik die Norm sind, ist Israel sicher demokratischer als die meisten seiner Nachbarn. Doch dadurch verliert die Notwendigkeit der Auflösung der Siedlungen nicht an Priorität. Ähnlich wie ein Investitionsboykott gegen das Apartheid-Regime Südafrika nicht dadurch weniger gerechtfertigt war, dass auch anderswo auf dem afrikanischem Kontinent Unterdrückung herrschte. Aggression ist auch in den Händen einer demokratischen Macht nicht angenehmer.
Territoriale Ambitionen sind gleichermaßen illegal, ob sie in Zeitlupe geschehen, wie im Fall der israelischen Siedler in den besetzten Gebieten, oder in Blitzkriegs-Manier, wie die irakischen Panzer in Kuwait. Fast instinktiv hat das jüdische Volk immer zu den Schwachen gehalten. In ihrer Geschichte gibt es die schmerzliche Erinnerung der Massendeportationen, der Hauszerstörungen und der kollektiven Bestrafung. Ihre Heilige Schrift offenbart akutes Mitgefühl für die Entrechteten. Die Besetzung stellt eine gefährliche und selektive Amnesie der Verfolgung dar, aus der diese Traditionen geboren wurden. Nicht alle haben dies vergessen, einschliesslich einiger Militärs. Die wachsende israelische "Refusenik- Bewegung erinnert an die kleine Bewegung zur Kriegsdienstverweigerung hervor, die dazu beitrug, die Lage in Südafrika unter der Apartheid zu kippen. Mehrere Hundert dekorierte israelische Offiziere haben sich geweigert, in den besetzten Gebieten Militärdienst zu leisten. Jene, die nicht bereits inhaftiert waren, haben ihre Botschaft zu Synagogen und Universitäten der USA getragen, mit dem richtigen Argument, dass Israel Sicherheit braucht, diese aber als eine Besatzermacht niemals haben wird. Mehr als 35 neue Siedlungen wurden dieses Jahr errichtet. Jede von ihnen ist ein weiterer Schritt weg von jener Sicherheit, die die Israelis verdienen, und zwei Schritte weg von der Gerechtigkeit, die den Palästinenser zusteht.
Wenn es m,öglich war, die Apartheid zu beenden, so muss das auch mit der Besetzung möglich sein, aber die moralische Kraft und der internationale Druck werden ebenso entschlossen sein müssen. Die derzeitigen Bemühungen sind die ersten, aber sicher nicht die einzige, notwendige Bewegung in diese Richtung.
Erzbischof Desmond Tutu, wurde in 1984 für seine Arbeit gegen die Apartheid mit dem Friedensnobelpreises ausgezeichnet. Dieser Beitrag für die International Herald Tribune entstand in Zusammenarbeit mit Ian Urbina, Mitherausgeber des Middle East Report, Washington.
*** Übersetzung von Dana