aus: ak 468 vom 20.12.2002
ak - analyse & kritik
Zeitung für linke Debatte und Praxis
http://web.utanet.at/labournet.austria/beweg20.htm
Bei aller Freude über die massenhafte Mobilisierung zum ESF in Florenz und die eindrucksvolle Demonstration gegen den drohenden Irak-Krieg - das organisatorische Chaos und vor allem das Niveau der Diskussion geben auch Anlass zur Kritik. Das findet zumindest der Moskauer Theaterwissenschaftler und Marxist Boris Kagarlitzky (Jahrgang 1958), von dessen Diskussionsbeitrag "Autumn Reflections" wir eine Kurzfassung dokumentieren.
Auf den Podien drückten reihenweise SprecherInnen ihr Entzücken darüber aus, dass wir so viele waren und wie jung und gut aussehend wir alle waren. In den Hallen mit Tausenden von Menschen, die durch die Massenversammlungsrhetorik aufgeheizt waren, war es unmöglich, eine ernsthafte Debatte zu beginnen.
A propos die Jugend. Das Durchschnittsalter der TeilnehmerInnen der Bewegung ist in der Tat nicht höher als 22 oder 23. Diese Generation wuchs nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf und reifte unter neoliberalen Regimes. Das sagt einiges über diese Regimes. Die Jugendlichkeit der Bewegung ist aber keineswegs immer ihre starke Seite. Den TeilnehmerInnen fehlen oft elementare Reife und Erfahrung. Ihnen fehlen Traditionen und historische Erinnerung, sie haben nur eine sehr vage Vorstellung von der 1968er Revolte, mit der ihre Aktionen ständig verglichen werden. In den frühen 1990er Jahren machten sich viele Linke Sorgen, weil sie nicht in der Lage waren, junge Leute auf ihre Seite zu ziehen. Nun gibt es junge Leute mehr als genug, aber die Verluste des vergangenen Jahrzehnts lassen sich nicht so leicht wettmachen.
Die geringe Zahl geschulter und erfahrener Leute ist aber nicht das Hauptproblem. Die Bewegung steht ernsten politischen Problemen gegenüber, die auf dem Forum praktisch nicht diskutiert wurden. Die Demonstrationen werden immer größer, aber das ist keineswegs gleichbedeutend mit politischem Erfolg. Das Anwachsen der Bewegung wird von einem Niedergang ihrer Effektivität begleitet. Seattle und Prag waren für die Bewegung wirkliche Siege, was sogar ihre Gegner zugeben mussten. Eine neue Runde von Gesprächen über die Liberalisierung des Welthandels wurden wegen des gewaltigen Protests in Seattle um Jahre verschoben. Politiker und Geschäftsleute versuchten sich zu entschuldigen und zu rechtfertigen. Aber die andere Seite lernt ebenfalls dazu.
Die Mächtigen reagieren immer weniger auf die Proteste. Während das Forum tobte, unterstützte der UN-Sicherheitsrat einstimmig die amerikanische Resolution zum Irak. Nicht nur Russland, auch Syrien stellte sich auf die Seite der USA. Für die Friedensbewegung war das zweifellos eine schwere Niederlage - wenn wir unseren Anspruch ernst nehmen, dass wir den Krieg nicht nur kritisieren, sondern verhindern wollen. Diese Entwicklung wurde jedoch auf dem Forum einfach nicht zur Kenntnis genommen; vielmehr trübte es die Stimmung der PazifistInnen kein bisschen.
Die Reden waren voller Zweideutigkeiten. Wenn wir mit unserer Einschätzung richtig liegen, dass die Führer der USA verantwortungslose Abenteurer sind, dass ihnen das Schicksal der Menschen und demokratische Werte gleichgültig sind, dann können wir kaum darauf hoffen, dass Protestmärsche den Krieg stoppen können. Auch nicht riesige Protestmärsche. Die Antikriegsbewegung verfügt über ein beträchtliches Arsenal an Aktionsformen zivilen Ungehorsams (darunter Blockaden von Straßen und Militärbasen und so weiter). All dies gab es in Westeuropa schon in den späten 1970ern. Diese Erfahrungen sind aber noch nicht ins Spiel gebracht worden.
Auch die Freude über die Wahl Lulas zum Präsidenten Brasiliens ist, gelinde gesagt, verfrüht. Die Sympathie des neuen brasilianischen Präsidenten und seiner Partei für globalisierungskritische Ideen ist das eine, die praktische Politik, die sie machen werden, ist das andere. Auf dem Forum sprach darüber niemand auch nur ein Wort. Während die Bewegung sich Lulas Sieg in Brasilien gutschreiben kann, ist die Lage in Europa viel weniger beeindruckend. In den meisten Ländern sind Rechte an der Macht oder die Art von Sozialdemokraten, die in ihrer Ergebenheit gegenüber Kapitalismus und Neoliberalismus vielleicht sogar weiter gehen als die Rechten. Mehr noch, die Rechten in Frankreich und Italien siegten, nachdem die massenhaften Aktionen gegen die Globalisierung begonnen hatten. Existieren die Bewegung und die "große Politik" isoliert voneinander? Wie können wir das ändern? Was können die Bewegungen erreichen, und was gibt es, das Parteien erfordert? Wie können wir diese Parteien und Bewegungen aufbauen, ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen? Um darüber zu diskutieren war auf dem Forum weder Zeit noch Raum.
Tatsächlich können massenhafte Straßenproteste nur dann eine entscheidende Rolle spielen, wenn die Mächtigen schon wanken. Die Institutionen haben eine Immunität gegenüber dem "Druck der Straße" entwickelt, es sei denn, wie in Buenos Aires im Dezember 2001, die Geschehnisse auf den Straßen bedrohen unmittelbar die Stabilität der Institutionen.Wie Russlands neueste Geschichte zeigt, können die Mächtigen jahrelang die öffentliche Meinung ignorieren und trotzdem den Anschein demokratischer "Legitimität" aufrecht erhalten. Natürlich ist der Westen nicht Russland. Westliche Politiker müssen mehr auf das achten, was ihre Bevölkerungen zu sagen haben. Aber seit den letzten beiden Jahren sieht der Westen dem Osten sehr viel ähnlicher. Das politische Establishment spürt seine Unabhängigkeit und Unverwundbarkeit.
Hier ist eine eiserne Logik am Werk: je mehr Krieg, desto weniger Demokratie. Die Antikriegsbewegung in Russland und im Westen hat kaum eine Wahl: Sie muss auch das Banner der Bürgerrechte und Freiheiten erheben. Es wäre aber naiv zu glauben, dass Fragen dieser Tragweite durch Straßenparaden in einigen europäischen Städten entschieden werden könnten. Die Antikriegsbewegung muss sich auf einen langen, harten Kampf vorbereiten. Sie muss lernen, mit verschiedenen Organisationen, politischen Parteien und der Presse zusammen zu arbeiten. Sie muss nicht nur die Unterstützung einer unorganisierten Öffentlichkeit gewinnen, sondern den Rückhalt der Mehrheit - Menschen, die bemerken, dass ihre eigene Freiheit auf dem Spiel steht.
Boris Kagarlitzky
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