Das Märchen von der „Sozialen Marktwirtschaft“
hat zuletzt auch in der „Festung Europa“ ausgedient. Der Traum ist ausgeträumt
von der Versöhnung von Massenwohlstand durch Wirtschaftswachstum,
von florierenden Unternehmen und gleichzeitiger Vollbeschäftigung,
vom Happy-End der Klassengesellschaft im Wohlfahrtsstaat für alle.
Die Traumhochzeit von Kapital und abhängigBeschäftigten vor dem
Traualtar des Sozialstaates endet gegenwärtig im Fiasko.
Kein Tag vergeht, ohne daß die Medien
für „mehr Mut zu Reformen“ agitieren. Und BILD überbietet sich
abwechselnd in Hetze gegen angebliche Sozial-Schmarotzer und gegen „untätige“
Politiker. Die Politik läßt sich nicht lumpen. Schröders
angekündigte Maßnahmen lassen sogar die neoliberale F.D.P. farblos
erscheinen. Etwaige Abweichler mit „sozialem Gewissen“ sind kaltgestellt.
Welche Maßnahmen gegen die Leute ergriffen werden, die von sozialstaatlichen
Leistungen bitter abhängig sind, entscheidet der Vermittlungsausschuß.
Real herrscht in Deutschland eine große Koalition. Eine Opposition
ist nicht in Sicht.
Der DGB hält still. Man jammert,
daß die Deutschland-AG-Partei keine „Arbeitnehmer-Interessen“ mehr
vertritt. Und man lamentiert, daß die SPD, ihr „sozialpolitisches
Profil“ verliert - als ob die Gewerkschaft der Wahlkampf-Berater Schröders
wäre. Parallel zu ihren erbärmlichen Appellen an die Politiker
hat die DGB-Führung nicht etwa den Unmut gegen die „Agenda 2010“,
der zumindest in Teilen seiner Basis herrscht, organisiert. Als wollte
man von der „Agenda 2010“ ablenken, hat sie im Sommer Kampfmaßnahmen
für die nationale Gerechtigkeit mit ostdeutschen Kollegen angeleiert.
Sie haben im „Standort Deutschland“, dem diese Gewerkschaft niemals schaden
würde, auch weiter die Rolle als Billiglöhner zu spielen. Daher
wurde die Niederlage von der Mehrheit der IGMetall-Führung gegenüber
der ostdeutschen Basis in Kauf genommen. Das von der IG-Metall-Führung
beschlossene Scheitern dient als weiterer „Beweis“ für die Lüge
von der Machtlosigkeit der organisierten ArbeiterInnen.
Nein, von den vorhandenen Organisationen
und Parteien, die mitdem Markenzeichen „sozial“ ihre Erfolge gefeiert haben,
ist nichts zu erwarten. Eine radikale Opposition gegen „unseren Staat“
und seine staatstragenden Organisationen ist überfällig.
Dabei ist doch jedem klar, was passieren
wird, wenn die große Koalition ihre „Reformvorhaben“ ungehindert
durchzieht.
• Die Unternehmen werden weiter hunderttausende
von Arbeitsplätzen wegrationalisieren. Ein Wrtschaftswachstum, das
diese tatsächliche Ursache des Dilemmas der Arbeitslosen kompensieren
könnte, ist absolut utopisch. So wie der Sozialstaat konstruiert ist,
werden immer weniger Beschäftigte mit immer niedrigerem Gesamteinkommen
immer mehr Sozialfälle finanzieren müssen.
• Mit einer „gerechten“ Besteuerung der
Unternehmen ist daran auch nichts zu ändern. Die gesamte deutsche
Marktwirtschaft wäre ohne ihre Konkurrenzfähigkeit gegen ausländische
Unternehmen schon lange am Ende. Hätte der Exportweltmeister Deutschland
nicht jahrelang fremde Märkte erobert und dortige Unternehmen ruiniert,
wäre hier der „Wohlstand“ schon längst auf osteuropäischem
Niveau. Mit ihrer Effizienz und Rentabilitäthaben die Unternehmer
Maßstäbe gesetzt, an die sie sich selber halten müssen.
Ein halbwegs menschenwürdiges Leben für die Millionen, die sie
im Lauf der Jahre außer Lohn und Brot gesetzt haben, kann eine konkurrenzfähige
Wirtschaft tatsächlich nicht finanzieren.
• Tatsächlich ist der „Reformbedarf“
mit der „Agenda 2010“ nie und nimmer beendet. Die Unternehmen, denen es
naturgemäß um ihre Rentabilität, und nicht um die Versorgung
der Bevölkerung mit Arbeitsplätzen oder gar „Wohlstand“ geht,
wird dafür sorgen, daß bald selbst die jämmerlichsten sozialstaatlichen
Almosen tatsächlich nicht mehr finanzierbar sind.
Die Marktwirtschaft wird sicher für
die nötigen Sachzwänge dafür sorgen, daß Schröder
und seine Nachfolger immer mehr „Reformbedarf“ entdecken. Wohin die Reise
geht, läßt sich an den „neoliberalen Erfolgen“ von Bush und
Blair ablesen.
Diesen Sachzwängen, denen deutsche
Politiker im Interesse eines gesunden Staatshaushaltes gerne nachkommen,
stehen keine Hindernisse gegenüber, die ihnen ihr (Wahl)-Volk in den
Weg legen könnte. Im Gegenteil: kein Tag vergeht, an dem sie ihre
Sauereien nicht als „Rettung des Sozialstaates“ verkaufen, die doch im
Interesse ihrer Opfer liegen müsse!
Warum eigentlich?
1. Weil die lohnabhängige Klasse
in der Marktwirtschaft immer schon abhängig von sozialstaatlichen
Leistungen wie Krankenkasse und Rente war, glauben viele, der Sozialstaat
würde ausgerechnet für sie „gerettet“. Dieser Glaube ist so tief
verwurzelt, daß sich Leute, die vor privaten Geldsorgen nachts nicht
mehr schlafen können, sich tatsächlich Sorgen um den Staatshaushalt
machen. Aber jede Rücksicht auf die „öffentlichen Kassen“ ist
völlig unangebracht. Die Politik nimmt keine Rücksicht auf die
privaten Haushalte. Also brauchen wir auch keine Rücksicht auf die
Kassen der Politiker zu nehmen, wenn es darum geht, ihre Pläne scheitern
zu lassen.
2. Weil viele BezieherInnen von Lohn-
und Sozialleistungen sich in ihrer Abhängigkeit privat bislang noch
einigermaßen einrichten konnten, glauben sie, es könne und müsse
doch so weiter gehen. Sie ähneln einem Menschen, der aus dem Fenster
eines Hochhauses gefallen ist und sich bei jedem Stockwerk darüber
freut, daß bisher ja noch alles gut gegangen ist. „Mich wird es schon
nicht treffen“ ist ein weiterer Irrglaube, der dazu paßt. Dagegen
steht die unmißverständliche Ankündigung der großen
Koalition der Staatskassen-Sanierer: „Alle müssen Opfer bringen“,
zugunsten von Staat Kapital.
3. Daß es keinen organisierten Widerstand
gegen die Politiker gibt, für die der Sozialstaat längst nur
noch ein Werkzeug für unternehmer-freundliche Arbeitsmarkt-Politik
ist, das liegt an den genannten Illusionen. Solange wir nicht in der Lage
sind, diesen „Reformern“ ernsthafte Probleme zu bereiten, und das massenhaft
deutlich zum Ausdruck bringen, bleibt ihr "Reformeifer“ genauso unersättlich
wie die Rationalisierungswut der Kapitalisten-Wirtschaft.
Die Teilnahme an der Demonstration am
1. November wird sicher nicht massenhaft genug sein. Aber es wäre
ein Fehler, nicht daran teil zu nehmen. Es nehmen zwar auch Vereine teil,
die nach wie vor (sozial)-staatsfromme Forderungen stellen. Aber es wäre
falsch, sie und die restliche Republik nicht damit zu konfrontieren, daß
wenigstens ein paar begriffen haben, daß das gesamte System weg gehört.
Wir gehen davon aus, daß die Demo dazu beiträgt, daß ein
paar Leute mehr bereit sind, organisierten Widerstand zu leisten.
Für uns ist die Demonstration am
1. November nur der Anfang eines überfälligen Prozesses. Er ist
ein Kristallisationskeim für die Selbstorganisation aller Menschen,
gegen die sich Schröders Politik richtet. Am Ende dieses Prozesses
muß es zumindest erfolgreichen Widerstand dagegen geben, daß
das bankrotte System weiter auf Kosten der Arbeiterklasse saniert wird.
Anarchistische Gruppe / Rätekommunisten
(www.nadir.org/nadir/initiativ/agr/)
Gruppe Kritik und Diskussion