Der Tod eines 19jährigen
mutmaßlichen Drogendealers bei der Zwangseinflößung von
Brechmitteln hat, neben juristischen und politischen Fragen, auch wieder
die ärztliche Ethik, das Selbstverständnis eines Berufsstandes,
auf die Tagesordnung gesetzt. Wem, so ist zu fragen, hat ein Mediziner
zu dienen: dem Individuum, seinem Patienten, oder einer abstrakten Allgemeinheit
mit ihren Ansprüchen, in diesem Fall an die Beweissicherung zum Zwecke
der Strafverfolgung?
Als bindend, zumindest
im moralischen Sinne, gilt nach wie vor der Hippokratische Eid, der sich
bezüglich solcher Fragen ausgesprochen unmißverständlich
ausnimmt: Sein medizinisches Wissen, so schwor Hippokrates von Kos um 400
v.u.Z., werde er "nach Kräften und gemäß meinem Urteil
zum Nutzen der Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen."
Eine Debatte um die
ärztliche Ethik gab es in Westdeutschland nach der Befreiung vom Faschismus,
als die ungeheure Zahl und Brutalität ärztlicher Verbrechen durch
den Nürnberger Ärzteprozeß in die Öffentlichkeit gebracht
worden waren. Ärzte hatten in den KZ Menschenversuche durchgeführt,
sie hatten in den Vernichtungslagern bei der Selektion von Häftlingen
über Leben und Tod entschieden, sie hatten selbst zahllose Menschen
mittels Giftspritzen ermordet. Das größte ärztliche Verbrechen
aber war der unter dem Euphemismus "Euthanasie" begangene Massenmord an
behinderten und psychisch kranken Menschen. Jede ethische Grundlage
ärztlichen Handelns schien zerschlagen und mußte neu fundiert
werden. Darum kreisten 1947/48 Debatten in verschiedenen Zeitschriften.
Die Wandlung der Medizin
hin zu einer am Kollektiven, am Staat, am Volk oder an der Menschheit,
aber nicht mehr in erster Linie an dem einzelnen Patienten orientierten
Wissenschaft, schrieb Thure von Uexküll in der "Zeit", führe
dazu, daß der einzelne nicht mehr "Maßstab ärztlicher
Verantwortung" sei und "durch den Begriff eines Kollektivs abgelöst
wird", das "das Opfer des einzelnen zugunsten des Kollektivs verlangen"
könne. Ähnlich sah Fred Mielke, zusammen mit Alexander
Mitscherlich hatte er Dokumente zum Ärzteprozeß veröffentlicht,
in dem schleichenden Prozeß des "Eindringen(s) allgemeiner, weltanschaulicher
Fragen" in die Ärzteschaft eine der wichtigsten Ursachen für
die Komplizenschaft zahlreicher Ärzte mit dem Nationalsozialismus.
Die Veränderungen im ärztlichen Selbstverständnis, weg von
der ausschließlichen Aufgabe, Helfer kranker Menschen zu sein, habe
nicht erst im Nationalsozialismus begonnen, so Friedrich Koch im "Bayerischen
Ärzteblatt". Kosten-Nutzen-Rechnungen seien u.a. von der Sozialversicherung
forciert worden. Es "entstand der Gedanke, daß die Tätigkeit
des Arztes ... einem Kollektivum als dem höheren übergeordneten
Gesichtspunkt sich unterordnen solle".
Die Konsequenz dieses
Denkens formulierte der Neurologe Viktor von Weizsäcker (in der Zeitschrift
"Psyche"): Leben wurde nach biologischen und Leistungskriterien bewertet.
"Man kann dies auch so ausdrücken, daß die Definition des Lebens,
welche seinen Sinn, Zweck oder Wert nicht transzendent versteht, keinen
inneren Schutz gegen den Begriff eines
unwerten Lebens im biologischen Sinne
besitzt." Die Schlußfolgerungen daraus lagen auf der Hand: Eine humane
Ethik müsse sich gegen das NS-Arztbild wenden. Ärzte entschieden
aufgrund einer angemaßten Superiorität wer zu "opfern" war.
Mediziner dürfen sich aber niemals derart über den Menschen stellen.
Eugen Kogon berief sich in den "Frankfurter Heften" auf den Hippokratischen
Eid. Als ehemaliger Arztschreiber im Konzentrationslager Buchenwald und
Autor des "SS-Staates" war er einer der prominentesten Zeugen im Ärzteprozeß.
Auch für ihn galt es, die ärztliche Verantwortung neu zu fundieren,
nach der ein Arzt zu heilen habe und, wie es der ärztliche Eid verlange,
einem Patienten niemals schaden dürfe.
Einigkeit bestand unter
den zitierten Autoren in Diagnose und Therapie. Auffällig ist, wie
vehement betont wurde, daß die einzige Sicherung vor solchen Menschheitsverbrechen,
wie Ärzte sie zwischen 1933 und 1945 begangen hatten, die ist, den
Patienten als Absolutum anzusehen, auf dessen Wohl ein Arzt ausschließlich
verpflichtet sei, und daß jede Anforderung aus der Gesellschaft,
aus Politik oder Justiz, die die Konzentration auf das Patientenwohl auch
nur relativieren will, abgelehnt wurde.
Diese Erkenntnisse
scheinen wie so viele andere im Zuge des gesellschaftspolitischen Roll
Backs, der deutschen Großmachtpolitik spätestens seit
Ende der DDR, vergessen zu sein. Wenn humanistische Konsequenzen aus dem
deutschen Faschismus wie die, Deutschland dürfe nie wieder Krieg führen,
wie die, der Nationalsozialismus sei mit der Wurzel auszurotten, oder wie
die, einen Überwachungsstaat abzulehnen und Geheimdienst und Polizei
strikt voneinander trennen zu wollen, über den Haufen geworfen werden,
kann es da verwundern, daß dieser Prozeß sich auch der medizinischen
Ethik bemächtigt?
Nun war auch nach 1945
natürlich nicht jeder Arzt eine Zierde seiner Zunft. Im Gegenteil
kamen viele Mediziner, die im "3. Reich" Verbrechen begangen hatten, mit
Wissen ihrer Kollegen wieder als Ärzte unter, z.T. getarnt, wie das
Beispiel Dr. Heyde/Sawade zeigt: Werner Heyde war in wichtiger Position
an der „Euthanasie" beteiligt. Trotz eines Haftbefehls gegen ihn konnte
er als Dr. Sawade bis 1959 in Flensburg u.a. als Gerichtsgutachter arbeiten.
Das erschreckende dabei: zahlreichen seiner Kollegen war seine wahre Identität
sehr wohl bekannt.Dennoch hat es den Anschein, daß das was jetzt
in Sachen Brechmitteleinsatz geschieht, eine neue Dimension erreicht hat.
Heute wird politisch damit geworben, Brechmittel zwangsweise verabreichen
zu lassen. Diese Methode wird in Hamburg zum Routineeinsatz — in den Tagen
nach dem Tod Achidi J.s wurden ostentativ weitere Zwangsverabreichungen
durchgeführt.
Ohne die Mitwirkung
von Ärzten wäre die Zwangseinflößung von Brechmitteln
kaum durchführbar. Ärzte haben sich dafür entschieden, das
Wohl des Einzelnen zu mißachten, weil der Staat das von ihnen verlangt.
Der Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts, Prof. Klaus Püschel,
hat das in aller Offenheit zugegeben. Trotz des ersten Todesfalles werde
er weitermachen, weil er den Senat "nicht im Regen stehen" lassen wolle.
Die Verschiebung des ärztlich-ethischen Paradigmas kann deutlicher
kaum sein.
Erfreulich immerhin,
daß Anästhesisten des UKE erklärten, sich dem Brechmitteleinsatz
verweigern zu wollen. Auch die Hamburger Ärztekammer sprach sich gegen
die Vergabe von Brechmitteln aus. V.a. eine Oppositionsgruppe innerhalb
des Verbandes ist sehr deutlich geworden: "Eine Todesstrafe durch die Hintertür
darf es nicht geben." Sie forderte von der Ärztekammer, gegen jeden
Arzt zu ermitteln, der sich an solchen polizeilichen Zwangsmaßnahmen
beteiligt.