Außenminister Fischers öffentlich
geäußerte "Vision" des zukünftigen Europa hat zu heftiger
Kritik v.a. in Frankreich (Chirac: "eitles Unterfangen", NZZ 31.5.00) und
Großbritannien geführt, die zum Ausdruck bringt, wie groß
noch immer das Mißtrauen ist, wenn ein deutscher Politiker vom Auflösen
bestehender Grenzen und Staaten zur Schaffung eines geeinten Kerneuropas
fabuliert.
In seiner Rede vom 12. Mai bewertete
Fischer die bisherigen Stufen der "europäischen Einigung" und sann
über weiterreichende Schritte nach. Die Erweiterung der EU, und hier
werden die Interessen benannt, von denen Journalisten und Politiker später
behaupten werden, sie seien nie und nimmer die Triebkraft der deutschen
Politik gewesen, liege "gerade für Deutschland im obersten nationalen
Interesse". Auch "Deutschlands Dimension und Mittellage" wird einmal mehr
bemüht. "Gerade die deutsche Wirtschaft wird von der Erweiterung einen
hohen Gewinn für Unternehmen und Beschäftigung davontragen."
Fischers Vision sieht deutschen Gewinn vor, woraus im Umkehrschluß
zu folgern ist: Für andere wird das Betriebsergebnis nicht ganz so
sonnig ausfallen.
Die kommenden EU-Strukturen seien
in die Richtung zu reformieren, die die Einführung der Mehrheitsentscheidung
in den Gremien weist: zunehmende Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen
an EU-Gremien, die durchaus über den Willen des Nationalstaats hinweg
entscheiden können. Ist diese Struktur einmal durchgesetzt, steht
nur noch die Frage im Raum, wer die Entscheidungen der Gremien zu bestimmen
vermag. Da wird klar, was mit der häufig bemühten Phrase gemeint
ist, es komme "ganz entscheidend auf Frankreich und Deutschland" an.
Jetzt bereits gehöre zu den
europäischen Kernfragen die "Stimmgewichtung im Rat" (der EU) und
die "Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen". Was letztlich heißt,
daß sich der deutsch-französische Block immer mehr Kompetenzen
anderer Staaten anzueignen gedenkt. Das aber genüge nicht, auf die
europäischen Probleme Europas gebe es "eine ganz einfache Antwort...:
den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung
in einer Europäischen Föderation ... ein europäisches Parlament
und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und
die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben".
Diese Konzeption geht deutlich weiter,
als die Vorgaben von Maastricht, in denen es in der Präambel heißt,
man sei "entschlossen, den Prozeß der Schaffung einer immer engeren
Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem
Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden,
weiterzuführen". Von einer de facto Abschaffung der Nationalstaaten
ist hier indes keine Rede. Auch deshalb meint Fischer, der Einigungsprozeß
Europas sei mit "Maastricht" an seinen Endpunkt gelangt (NZZ 31.5.00).
Wie aber da nun hinkommen? Entweder
machen die meisten Staaten freiwillig mit, oder "eine kleine Gruppe von
Mitgliedstaaten als Avantgarde (wird) diesen Weg vorausgehen, d.h. ein
Gravitationszentrum aus einigen Staaten bilden..." Auch an dieser Stelle
taucht die "engste deutsch-französische Zusammenarbeit" auf. Das Gravitationszentrum
(oder der "Gravitationskern") würde dann "einen neuen europäischen
Grundvertrag schließen, den Nukleus einer Verfassung der Föderation".
Diese "Avantgarde" wäre "die Lokomotive der politischen Integration",
die – und das sagt Fischer natürlich nicht – die unwilligen Staaten
in die Gemeinschaft zwingt oder sie ins Abseits stellt.
Fischer sagt auch nicht – selbstverständlich
nicht –, daß dieser Prozeß auch nur das geringste mit Gewalt
zu tun haben könnte. Und dennoch fühlten sich offenbar zahlreiche
Politiker Frankreichs und Großbritanniens daran erinnert, daß
Deutschland dieses Konzept eines um einen Kern geschmiedeten Europas schon
einmal, hier aber äußerst gewaltsam verfocht: Die Rede ist von
der anvisierten Großraumwirtschaft der Nationalsozialisten, die im
folgenden kurz in Erinnerung gerufen werden soll.
Das Konzept der Großraumwirtschaft
Die Planer einer Großraumwirtschaft
gingen von einem fest umrissenen Territorium aus – Kontinentaleuropa, von
dem Großbritannien stets und die Sowjetunion in den meisten Theorien
ausgeschlossen blieben –, auf das die wirtschaftlichen Abläufe beschränkt
werden sollten, das sich also gegen alle Staaten außerhalb dieses
"Raums" scharf abgrenzte. Solch ein geschlossener Wirtschaftsraum sollte,
so Reichswirtschaftsminister Walter Funk, Schutz vor den "internationale(n)
Finanzmächte(n)" bieten. Die "zentral-" oder "kerneuropäischen"
Staaten seien als "Schicksalsgemeinschaft" zur Zusammenarbeit gezwungen,
die außer-kontinentaleuropäischen Staaten sollten ausgeschlossen
werden und eine "überspitzte() internationale() Arbeitsteilung" müsse
abgelehnt werden. Arbeitsteilung sollte ausschließlich innerhalb
des Großwirtschaftsraums stattfinden. Darin müsse sich jede
Nation "auf die Produktionskraft ihrer näheren und weiteren europäischen
Nachbarn stützen", dies mache den "Großraumgedanke(n)" aus.
Für das Deutsche Reich gelte es mittels des Großraumes seinen
"Kampf um die nationale Nahrungs- und Rohstofffreiheit" zu bestehen.
Kontinentaleuropa wurde in fünf
Gebiete, sog. "Räume", unterteilt, folgendermaßen sah beispielsweise
das Modell des Leiters der Volkswirtschaftlichen Abteilung der I.G. Farben
Berlin, Anton Reithinger, aus: 1. die "zentraleuropäische Mitte",
die Deutschland, Österreich, den nordöstlichen Teil Frankreichs,
Tschechien und Teile Polens umfaßte, alles Industriegebiet, das sich
durch eine hohe Bevölkerungsdichte auszeichne. Dieser Raum sei wirtschaftlich
hochaktiv und Träger der europäischen Entwicklung. 2. Westeuropa
(weite Teile Frankreichs, Belgien, die Niederlande und die Schweiz) fände
lediglich in seinen nordöstlichen Teilen Anschluß an Zentraleuropa.
Das französische "Kernstück" sei überwiegend agrarisch geprägt,
wodurch dieser Raum sich als passiv erweise, Entwicklungsimpulse seien
von hier nicht zu erwarten. 3. Südosteuropa. Hierzu wurden die Slowakei,
Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und Rumänien gerechnet. Durch
eine hohe Geburtenrate habe dieser Raum einen "hochübervölkerten
Agrarstatus (mit) Drang zur Verstädterung und Industrialisierung".
4. Südeuropa mit Italien, Spanien, Portugal und Griechenland sei ganz
ähnlich wie Südosteuropa zu bewerten, von beiden Räumen
sei die Entwicklung industrieller Kräfte zu erwarten. 5. Nordeuropa
mit Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland entspreche mehr Westeuropa,
sei also kein Entwicklungsträger.
So oder ähnlich pflegten deutsche
Großraumwirtschaftler Europa einzuteilen. Die Unterschiede zwischen
einzelnen Autoren sind relativ gering. Andernorts wurde der "Südraum"
zum "italienischen Raum" bzw. wurden Spanien und Portugal dem "Westraum"
zugeschlagen. Zugleich tauchte auch mal ein "sowjetischer Raum" auf. Aber
immer war Deutschland das Zentrum, um das sich die anderen Wirtschaftsräume
zu gruppieren hatten. Die einzelnen Nationalökonomien sollten auf
die Bedürfnisse Deutschlands ausgerichtet werden. Eine gemeinsame
europäische Ordnung könne entweder durch "Unterwerfung unter
einen einheitlichen, einzigen staatlichen Willen" oder durch "freiwillige()
Zusammenarbeit selbständiger Nationen, freilich unter Anerkennung
der politischen Führung eines Volkes und Staates" entstehen, so Horst
Jecht, Professor an der Berliner Wirtschaftshochschule.
Die Unterordnung unter deutsche
Wirtschaftsinteressen wurde wie selbstverständlich erwartet. Der "großdeutsche()
Raum (steht) im Zentrum der Kraftlinien", behauptete z.B. Alfred Oesterheld.
Deutschland befände sich "inmitten einer großzügigen Industrieplanung,
die den einzelnen Räumen des Kontinents Aufgaben zur gemeinschaftlichen
Versorgung zuweist". "In konzentrischen Kreisen sind Westen, Norden und
Südosten die Vorfelder der großdeutschen Wirtschaftspolitik,
der sich nach Süden die Achse zum italienischen Raum bietet." Der
"Periphere" sollte die Aufgabe zukommen, Deutschland mit Nahrungsmitteln
und Rohstoffen zu versorgen, während das Deutsche Reich v.a. die Industrieproduktion
zu übernehmen gedachte.
Der Einfluß germanentümelnder Ideologie
Auffallend an den geschilderten Großraumkonzeptionen
ist das weitgehende Fehlen irgendwelcher Bezüge zur "gemeinsamen Abstammung",
"Rasse" etc. In der Tat richteten sich die Beurteilungen der einzubeziehenden
nationalen Wirtschaften v.a. nach ihrer ökonomischen Struktur und
ihren Ressourcen, wobei insbesondere Wert auf in Deutschland nicht oder
kaum vorhandene Rohstoffe und Nahrungsmittel gelegt wurde. Hierbei fällt
allenfalls auf, daß Staaten, die mit Deutschland verbündet waren,
positiver beurteilt wurden, als es ihrem tatsächlichen wirtschaftlichen
Potential zukam und die vergleichsweise industrialisierteren Staaten Nord-
und Westeuropas negativ eingeschätzt wurden. Insofern sind die "Raumbeschreibungen"
zwar ideologisch geprägt, jedoch stärker an den aktuellen bündnispolitischen
Notwendigkeiten und weniger an sog. "Rasse"-Kriterien orientiert. Demgegenüber
zeigten die Unterschiede der deutschen Besatzungspolitik in den verschiedenen
Ländern und gegenüber deren Bevölkerungen stark ideologische
Prägung. Die Überlegungen zum "Lebensraum im Osten", d.h. Eroberung
weiter Teile Osteuropas, deren Besiedlung durch Deutsche und die Vernichtung,
Vertreibung oder Versklavung der dortigen Bevölkerung, stellen ein
anderes Konzept als das der Großraumwirtschaft dar. Es bestand ein
"Konzeptionen-Pluralismus" (Wolfgang Michalka), d.h. ein Nebeneinander
verschiedener Vorstellungen über die Zukunft unter deutscher Herrschaft
statt einheitlicher Planung.
Ganz anders als die bislang zitierten
Wirtschaftsplaner argumentierten NS-Ideologen einer überlegenen "germanischen
Rasse", Alfred Rosenberg sah Deutschland im Zentrum aller wirtschaftlichen
Entwicklung Europas, da es der Verbindungspunkt Skandinaviens und des Ostseeraumes
mit Südosteuropa sei. Er referierte allerdings weniger vom ökonomischen
Nutzen, sondern v.a. von der germanisch-völkischen Ideologie aus.
Das "gemeinsame Kulturerbe der artverwandten Völker" Deutschlands
und Skandinaviens verlange die "große() germanische() Schicksalsgemeinschaft".
Diese originär nationalsozialistische
Ideologie spielte in den Überlegungen zur Großraumwirtschaft
nach dem – wie vorausgesetzt wurde – gewonnenen Krieg überhaupt keine
Rolle. Großraumwirtschaft war eine Frage nüchterner Kalkulation
zur Erlangung eines maximalen ökonomischen Vorteils. Die Rosenbergsche
Konzeption konnte sich bei wesentlichen Teilen der wirtschaftlichen, aber
auch der politischen Entscheidungsträger nie durchsetzen.
Für die Wirtschaftsstrategen
ergab sich Skandinaviens Beitrag zur Großraumwirtschaft aus dessen
natürlichen Ressourcen, insbesondere Erze, Wasserenergien und Holz.
Die industrielle Verarbeitung sollte sich auf Vorprodukte beschränken,
Leichtmetallhütten und Stickstoffabriken seien das den wirtschaftlichen
Gegebenheiten angemessene (Oesterheld). "Vor allem verdient der besonders
große Erzreichtum Skandinaviens, namentlich Schwedens, in eine europäische
Gesamtwirtschaft einbezogen zu werden ..." (Ferdinand Friedensburg)
Die ausschließliche Erwähnung
des Rohstoffpotentials bei gleichzeitiger Nichtbeachtung der entwickelten
Industrie z.B. Schwedens, läßt Rückschlüsse auf den
Platz zu, den Schweden in der Nachkriegswirtschaft einnehmen sollte: Rohstofflieferant
mit allenfalls industrieller Vorverarbeitung von Rohstoffen. Das "germanische"
Schweden sollte nicht nur keine weitere Industrialisierung erfahren, sondern
es war eine De-industrialisierung vorgesehen, wie sich aus etlichen Äußerungen
über die industrielle Planung des "deutschen Großraums" ergibt.
Funk erwartete von den sog. rückständigen Staaten Europas, "daß
jeder Staat sich die Industrie aufbaut, die sowohl seinen natürlichen
Produktionsbedingungen als auch den Bedürfnissen des europäischen
Marktes am besten entspricht". Und Oesterheld kündigte an: "Die Zeiten,
in denen industrieschwache Staaten aus rein politischen Motiven künstlich
eine Großindustrie zu züchten versuchten, sind vorüber."
Die verlangte "Absage an jeden übersteigerten Sonderegoismus" bedeute,
daß die "Gemeinwirtschaft des Kontinents … vorgehen (muß) wie
eine Flurbereinigung einer ländlichen Gemeinde ... Eine wirtschaftliche
Neuordnung Europas kann unmöglich den in einem Zustand der bisherigen
Zersplitterung vielfach unorganisch und unzweckmäßig gewordenen
Einzelwirtschaften auf alle Zeiten Unvergänglichkeit versprechen."
(Friedensburg)
Die Großraumkonzeption sah
ein Zuschneiden aller Nationalökonomien auf das Deutsche Reich vor.
Es wären jeweils nur einzelne, vorgeblich naturgegebene Wirtschaftszweige
entwickelt und so errichtet worden, wie es der deutsche Markt brauchte.
Die Folge wäre die Abhängigkeit jedes einzelnen Staates vom ökonomischen
Zentrum Deutschland gewesen. Umgekehrt wäre dies nicht der Fall, denn
Deutschland hätte Verbindungen zu allen Staaten des Großraums
gehabt, und diese wären auf die deutschen Lieferungen v.a. von Industrieprodukten
angewiesen gewesen.
Was hat das nun mit J. Fischer zu
tun? Werner Daitz, Mitglied des Außenpolitischen Amtes, formulierte
1940 in einer Denkschrift: "Wir müssen grundsätzlich immer nur
von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von
selbst aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen
Schwergewicht Deutschlands und seiner geografischen Lage."
Literatur und Quellen:
Klaus Wittmann: Schwedens Wirtschaftsbeziehungen
zum Dritten Reich 1933-1945, Diss., München 1978.
Wolfgang Michalka: Deutsche Geschichte
1933-1945. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Frankfurt a.M.
1993.
Vertrag über die Europäische
Union (EU) vom 7.2.1992.
Joschka Fischer: Vom Staatenverbund zur
Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen
Integration, Rede am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität Berlin.
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft,
hrsg. vom Verein Berliner Kaufleute und Industrieller und von der Wirtschafts-Hochschule
Berlin, Berlin 1942.
Alfred Oesterheld: Wirtschaftsraum Europa,
Oldenburg/Berlin 1943 (2).
Alfred Rosenberg: Tradition und Gegenwart.
Reden und Aufsätze 1936-1940, Blut und Ehre IV. Bd., München
1941.
Ferdinand Friedensburg: Die Rohstoffe
und Energiequellen im neuen Europa, Oldenburg/Berlin 1943.