AG/R oder die Kunst, auf die Revolution zu warten




Wenn heute von der AG/R die Rede ist denken die meisten Leute zunächst an unsere wohl bedeutendste Errungenschaft: Die Theorie der subversiven Ineffizienz. Sie ist heute zu einer so selbstverständlichen Grundlage linksradikaler Praxis geworden, dass sich die meisten jüngeren Genossen kaum vorstellen können, dass es eine Zeit der Irrungen und Wirrungen gab, in der die autonome Linke ohne dieses unverzichtbare Werkzeug revolutionären Handelns auskommen musste.
Doch wir greifen uns vor.
Es begann also alles vor zwanzig Jahren. Das Fernsehen hatte nur drei Programme und so beschäftigten sich junge Leute bisweilen mit den großen Problemen der Menschheit (Kapitalismus und so). Es bestand zu jener Zeit für alle Jugendlichen, die sich kein Gel in die Haare schmierten die staatliche Pflicht sich Anarchist zu nennen. Nun war aber schon damals die Torheit ein Privileg der Jugend, das sich in einer gewissen Anfälligkeit für Trends und Moden ausdrückt. Das hippste, coolste und trendigste was die Achtzigerjahre einem jungen Menschen zu bieten hatten war es nun aber bekanntlich ein Marxist zu sein.
Weil es unser glühendster Wunsch war Anarchismus und Marxismus auf fruchtbare Weise zu verbinden, griffen wir zwecks Anarchismusforschung zum stets verlässlichen Quell der Erkenntnis: dem marxistisch-leninistischen Wörterbuch der Philosophie. Da wir uns nunmehr voller Stolz als "utopisch-kleinbürgerliche, pseudorevolutionäre Bewegung die im Gegensatz zum wissenschaftlichen Sozialismus den organisierten politischen Klassenkampf wie überhaupt jede politische Organisation, Disziplin und Autorität ablehnt und die Realisierung der 'absoluten Freiheit', der Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Gesellschaft von der Abschaffung aller staatlichen Machtorgane und Zwangsmittel erwartet" (1) bezeichnen konnten löste sich alle ideologische Verwirrung schneller auf als eine Antifagruppe deren Mitglieder ins Szeneviertel ziehen. Disziplin und Autorität gingen uns ohnehin ab, der Staat war doof aber besonders hat uns das mit der absoluten Freiheit in jenen neckischen kleinen revisionistischen Anführungszeichen gefallen. Uns als guten Hegelianern (2) fiel es nun natürlich wie Schuppen von den Augen: Generationen von Revolutionären waren ständig am rummachen, auch an Sonn- und Feiertagen - selbst noch nach 22 Uhr - nur um schließlich die Freiheit zu erkämpfen. Und wenn es ihnen dann tatsächlich einmal gelungen war, war es dann auch die absolute Freiheit? Mitnichten! Ihr eigenes hektisches und ungeduldiges Treiben hatte sie hervorgebracht! Die Freiheit war also bedingt! Bedingt durch revolutionäre Praxis und somit per Definition nicht absolut!!! Intensive historisch-materialistische Studien bestätigten unseren schrecklichen Verdacht: War nicht schon für Lenin der Sozialismus der "Sieg über die eigene Trägheit, über die eigene Undiszipliniertheit" (3)? Sprach nicht der große Vorsitzende Mao die erschreckende Wahrheit mit aller Deutlichkeit aus wenn er sagte "Die Meinung unter den Kadern, man könne ohne eigenen harten Kampf, ohne Blut und Schweiß, lediglich durch Zufall und Glück siegen, muss hinweggefegt werden." (4)? War uns denn nicht die aus ihren Machenschaften resultierende Freiheit schon immer als eher relative erschienen? Wir konnten uns der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht länger verschließen: Hier war Ruhe die erste Kleinbürgerpflicht! Das erste Gebot des Pseudorevolutionärs lautete warten! Da wir schon damals den Anspruch verfochten aus der theoretischen Erkenntnis umgehend die direkte Aktion zu entwickeln begaben wir uns in eine nahegelegene Wirtschaft, bestellten ein Getränk und fingen sofort an zu warten. Heute mag uns unsere jugendliche Naivität rühren oder beschämen, damals aber mussten wir die Erfahrung erst noch machen, dass die strukturelle Gewalt des Systems, die Totalität des Amusements im Kapitalismus gnadenlos zurückschlägt wo auch immer sich eine revolutionäre Organisation auf das Wagnis subversiven Abwartens einlässt. Wir hatten alle Warnungen in den Wind geschlagen. Wir waren wahrlich nicht die ersten die erkennen mussten welch hohen Preis die revolutionäre Praxisentsagung verlangt: "So schlägt die Quantität des organisierten Amusements in die Qualität der organisierten Grausamkeit um." "Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile." (5)  Wir waren jung. Wir waren enthusiastisch. Unsere Geduld schwand rascher als die Mitgliedschaft der DKP nach dem Ende der DDR. Die Aussicht das der vielleicht monate- vielleicht sogar noch jahrelange Weg zur befreiten Gesellschaft über Fassbier und Fußballgespräche führen sollte erschien uns unerträglich! Wir dürsteten danach zwar nicht gleich unser Blut aber doch unseren Schweiß auf den Barrikaden des revolutionären Heroismus zu vergießen und doch wußten wir um die Gefahren einer zielgerichteten Praxis. Wir brauchten also ein Betätigungsfeld auf dem unsere Aktivitäten zu nichts und wieder nichts führen würden
Dies ist vielleicht der geeignete Moment die jüngeren unter den Lesern darüber aufzuklären, dass vor zwanzig Jahren das Geschäft des Revolutionärs ein anderes war als in diesen aufgeklärten Tagen. Man agitierte das Proletariat, wo immer man es traf. Man verwies die Reaktion in ihre Schranken. Die Revolution stand praktisch unmittelbar bevor. Eine verfahrene Situation!
Wir beschlossen mit etwas leichtem zu beginnen und stürzten uns in die Schulpolitik. Diese schien zunächst genau das richtige zu sein: Kaum hatten wir einen Schüler erfolgreich agitiert, verließ er auch schon die Schule. Eine Bewegung, die jedes Jahr verlässlich ihre erfahrensten Aktivisten verliert. Herrlich! Doch schließlich mussten auch wir trotz erbittertem Widerstand irgendwann die Schule verlassen und uns nach weiteren geeigneten Teilbereichskämpfen umsehen. Auch die antiimperialistische Bewegung erwies sich als unproblematisch, waren die revolutionären Kämpfe auf die sie sich bezog doch weit weg. Schwieriger lagen die Dinge in Sachen Antifaschismus. Die Nazis erfreuten sich zu dieser Zeit keiner großen Popularität. Sie zu bekämpfen brachte der Antifa Sympathien ein, deren Gefahren uns sofort bewusst waren. Wie so oft lag die Lösung in einer sorgfältigen wissenschaftlichen Untersuchung des Gegenstands: Waren die Nazis nicht nur die Spitze des Eisbergs? Waren nicht jene selbsternannten und dahergelaufenen Demokraten ebenso deutsch wie sie? Waren nicht auch ihre Haare viel kürzer als unsere? Ein paar wohl durchdachte Abgrenzungen wirkten schließlich Wunder. Nach und nach wandelte sich schließlich die gesamte Szene und was dem oberflächlichen Betrachter heute vielleicht als Irrsinn erscheinen mag ist tatsächlich die über zwanzig Jahre gereifte Praxis, die aus dem simplen aber genialen Einfall der Theorie der subversiven Ineffizienz resultierte.
Und so sehen wir voller Zuversicht auf die nächsten zwanzig Jahre, in denen es uns gewiss wieder gelingen wird nicht mehr zu werden und absolut nichts zu erreichen.
 

(1) Klaus, G., Buhr, M. (Hg): Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Reinbek 1972, Bd1, S.72
(2) Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik, in:Sämtliche Werke, Leipzig und Hamburg 1923-1960, Bd. III, S. 55ff
(3) Lenin, W.I., Die große Initiative, in: Ausgewählte Werke, Moskau 1984, s. 522
(4) Das rote Buch, Worte des Vorsitzenden Mao Tze-tung, Frankfurt am Main 1967, S. 91
(5) Horkheimer, Max und Adorno, Theodor w.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969, S. 145f