Wer die Lebensbedingungen
von Millionen Menschen ständig verschlechtert, braucht Überwachungsorgane und
Unterdrückungsapparate.
Gegen den Ausbau des Kontroll- und
Repressionsstaats –
gegen die Innenministerkonferenz!
Seit 1990 geht der Abbau des deutschen
Sozialstaates rasant voran. Er ist gekoppelt an die Aufkündigung der
„Sozialpartnerschaft“ für zunehmend mehr Teile der lohnabhängig Beschäftigten.
Hartz IV und Agenda 2010 sind zum Synonym des Sozialabbaus geworden,
Rentenkürzungen, Erhöhung der Kosten für die Kranken- und Rentenversicherung
gehören ebenfalls in diesen Kontext. Der Anteil der Löhne und Gehälter am
Volkseinkommen nimmt seit zwei Jahrzehnten spürbar ab, jener der Millionäre
steigt. Da langandauernde Arbeitslosigkeit wegen Hartz IV sozialen Absturz
bedeutet ohne Perspektive wieder auf den „normalen“ Arbeitsmarkt zu kommen und
gleichzeitig Insolvenzen und Personalabbau für eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeit
sorgen, nimmt die Angst um die eigene wirtschaftliche Zukunft dramatisch zu.
Als Konsequenz daraus wächst die Bereitschaft, auch miserabelste Jobs anzunehmen
oder geringere Einkommen in Kauf zu nehmen, KollegInnen als KonkurrentInnen zu
sehen ... Eine Abwärtsspirale nach unten ist die Folge. Das auch, weil die Gewerkschaften
(die ohnehin wenig gewohnt waren, sich in zermürbenden Kämpfen gegen die
Unternehmer zu behaupten) ihre einstige Stärke – hohe Mitgliedszahlen – eingebüßt
haben.
Parallel dazu werden die
Repressionsorgane und die Überwachungsmöglichkeiten des Staates vielfältig ausgebaut.
Als Stichworte seien nur wenige Aspekte genannt: ELENA, Vorratsdatenspeicherung,
Aufrüstung der Polizei und Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr im Innern,
Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen, Einschränkung des Demonstrationsrechts,
Anfänge einer Schnellgerichtsbarkeit...
Dagegen müßte es eigentlich einen
Aufschrei der Entrüstung geben. Dem ist aber nicht so! Seine BürgerInnen haben
die Normen dieses Staates in einem hohen Maße verinnerlicht, wodurch jedes Aufbegehren
gegen seine Zumutungen erheblich erschwert wird. Die Hegemonie der bürgerlichen
Ideologie ist in der BRD quer durch alle Klassen und Schichten niemals ernsthaft
in Frage gestellt worden. Den Herrschenden kommt diese anti-klassenkämpferische
Tradition in Deutschland sehr entgegen, d.h. die Bereitschaft, die Ursachen für
die sich verschlechternde soziale Situation in ganz anderen Dingen zu verorten
als in den aktuellen Klassenverhältnissen.
Deshalb erzielen Pressekampagnen gegen
„arbeitsscheue Sozialschmarotzer“, „gefährliche Drogenabhängige“ oder „gewalttätige
Migrantenjugendliche“, „kriminelle Ausländer“ oder „unsere Sozialsysteme ausnutzende
Asylbewerber“ immer wieder erschreckend breite Zustimmung. Darauf aufbauende
politische Entscheidungen für z.B. Hartz IV-Kürzungen bei Ablehnung unzumutbarer
Arbeitsplätze, Privatisierungen öffentlichen Raumes mit Hausrecht für die
Betreiber von z.B. Einkaufszentren, Sicherheitsdienste wohin mensch sieht,
härtere Strafen, Abschiebungen nach Verbüßung von Haftstrafen, Stigmatisierung
ganzer Gruppen junger Menschen, deren Chancen einen Ausbildungsplatz zu bekommen
sowieso schon gering sind, de facto Abschaffung des Asylrechts sind vor diesem
Hintergrund meist problemlos durchsetzbar.
Von Anfang an basierte die BRD auf
Lohnarbeit und damit Mehrwertabschöpfung (= Ausbeutung) wie jeder andere
kapitalistische Staat. Die realen Mitwirkungsmöglichkeiten der Bevölkerung an
politischen Entscheidungen waren stets begrenzt, und Rücksicht auf „Volkes
Meinung“ hatte dieser Staat bei ihm wichtigen Entscheidungen auch nicht
genommen. Das zeigen die größten Demonstrationen in der BRD-Geschichte gegen
den NATO-Doppelbeschluß 1983 bis 1985: Pershing II und Cruise Misseles wurden
trotzdem stationiert. Gegen seine GegnerInnen setzte dieser Staat Berufsverbote
oder seine geballte Polizeimacht ein, wie nicht nur AtomkraftgegnerInnen und
HausbesetzerInnen zu spüren bekamen.
Und dennoch stellt 1990 eine Zäsur
dar: Ab jetzt wurde der „Sozialstaat“ in zunehmend rasanterer Fahrt demontiert
und die Axt an die Mitwirkungsmöglichkeiten gelegt, die eine bürgerliche
Demokratie bietet. Die bisherige „soziale Marktwirtschaft“, die allen eine
ökonomische Mindestabsicherung zukommen ließ und zumindest theoretisch
die Möglichkeit der Partizipation am „gesellschaftlichen Leben“ und an
politischen Entscheidungen für alle bot, wurde abgerissen. Daß dies erst jetzt
– genau jetzt – geschah, daß sämtliche sozialdemokratischen Illusionen von
einem „gezähmten Kapitalismus“ sich mit der Annexion der DDR in Luft auflösten,
ist kein Zufall. Zuvor erzwang die Systemkonkurrenz, der ständige und unmittelbare
Vergleich mit der pseudosozialistischen DDR, ein Mindestmaß an sozialer Wohlfahrt,
damit nicht breitere Bevölkerungsschichten in eben dieser DDR eine Alternative
erblickten. Und: Für ihre aggressive Frontstellung im sog. „Ost-West-Konflikt“
benötigte die BRD eine Bevölkerung, die loyal und geschlossen hinter ihrer Regierung
stand. Es besteht keinerlei Anlaß, die Alt-BRD nachträglich zu idealisieren, um
die Gegenwart in desto dunkleren Farben malen zu können. Es geht aber um eine
Analyse der Veränderungen, die stattgefunden haben. Unsere These lautet, die
kapitalistische BRD hat sich gewandelt (und wandelt sich noch) von einem eingeschränkten
Sozial- und Partizipativstaat zu einem zunehmend autoritäreren Kontroll-
und Überwachungsstaat.
Diese Begriffe sollen dazu dienen,
aktuelle Entwicklungen diskutierbar zu machen. Neue gesellschaftliche Tendenzen
erfordern neue Begrifflichkeiten, um den Unterschied zum Vorherigen sichtbar zu
machen. Das bedeutet allerdings keineswegs, daß wir mittlerweile in einer ganz
und gar anderen Gesellschaft lebten. Die Grundlagen, auf denen sich die skizzierte
Entwicklung vollzog und weiter vollzieht sind die gleichen geblieben: Die
Bundesrepublik Deutschland ist ein kapitalistischer Staat.
Ein kapitalistischer Staat hat
vornehmlich die Aufgabe, das kapitalistische Wirtschaftsysstem zu schützen und
seine gedeihliche Entwicklung zu fördern. Dafür stehen ihm diverse Instrumente
zur Verfügung. Zunächst einmal steckt er den Rahmen ab, in dem sich alles zu
bewegen hat (in erster Linie durch seine Gesetzgebung, aber auch durch die
Bereitstellung von Infrastruktur von einem breiten Verkehrsnetz bis zu Schulen
und Universitäten) und sichert ihn ab (mittels Polizei, Gerichtsbarkeit und
wenn es hart kommt auch Militär). Hohe Priorität genießt dabei das
Privateigentum an Produktionsmitteln.
Im Rahmen seiner finanziellen
Möglichkeiten ist der Staat aber auch darum bemüht, die negativen Auswirkungen
der Klassengesellschaft nach unten abzufedern, damit sich Armut soweit in
Grenzen hält, daß es nicht zu politischen Unruhen kommt. Aus dem selben Grunde
regelt er auch die Formen der Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit,
indem er verbindliche Austragungsformen mittels des Tarifrechts vorschreibt.
Ziel ist es, einen reibungslosen Geschäftsverlauf für die Kapitalisten sicherzustellen.
Sozialleistungen sind immer
umkämpft, sind sie doch Kostenfaktoren, die der Staat anderweitig ausgeben
möchte, nämlich um beispielsweise das heimische Kapital gegenüber der
Konkurrenz auf den internationalen Märkten zu stärken. Aber: Je schwieriger ein
Stillhalten der unteren Bevölkerungsschichten herzustellen ist, desto mehr muß
der Staat dafür ausgeben. Eine resignative oder bescheidene Unterschicht
bekommt weniger als eine rebellische. Auf der betrieblichen Ebene läuft es
analog: Das jeweilige Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist entscheidend
für den Preis, den die Kapitalisten für die Ware Arbeitskraft ausgeben müssen.
Kampferprobte Belegschaften oder ganze nationale ArbeiterInnenklassen erhalten
mehr, als ihre zurückhaltenderen KollegInnen in anderen Ländern.
Die Höhe der Sozialleistungen und
die Höhe von Löhnen und Gehältern errechnen sich nicht nach irgendwelchen
feststehenden Sätzen (insofern gibt es keinen gerechten Lohn), sondern richten
sich nach den Ergebnissen des Klassenkampfs. Sie sind also genauso wenig fixiert
oder ein gerechter Anteil am Gesamtprodukt wie sie gottgegeben wären. Sie sind
veränderbar. Und wer kämpft, kann gewinnen!
Nachdem die Sondersituation mit
der Existenz der Systemalternative DDR beendet ist, sinken die Löhne der
ArbeitnehmerInnen in Deutschland, weil den Angriffen von Kapitalseite zu wenig
entgegengesetzt wird. In Ländern mit einer kampferprobten, streikbereiten
ArbeiterInnenklasse ist das nicht so. Was wir seit zwei Jahrzehnten in
Deutschland erleben, ist die Kürzung von Einkommen aus abhängiger Beschäftigung
und das Zusammenstreichen von Sozialleistungen, weil es geht. Weil wir es uns
gefallen lassen!
Zugleich baut der Staat seine
Repressions- und Überwachungsinstrumente aus. Kaum, um die zaghaften
derzeitigen Proteste niederzuhalten, die ohnehin wenig in der Lage sind,
Zugeständnisse zu erzwingen. Aber offenbar geht der Staat davon aus, daß sich dies
ändern könnte. Er will gewappnet sein, gegen entschlossenere Proteste, die zum
Widerstand werden könnten. Er sorgt sich sicher auch, daß die weit verbreitete
Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit in massenhafte (vorderhand
unpolitische) Riots oder Massenkriminalität übergehen könnten. Die Kosten für
den dann längst errichteten riesigen Polizei- und Justizapparat sind offenbar
weit geringer als es ein Aufrechterhalten eines Sozialstaats wäre.
Die im November in Hamburg
stattfindende Innenministerkonferenz (IMK), bespricht und beschließt Bausteine
in die skizzierte Richtung. Da viele innenpolitische Aufgaben Ländersache sind,
besteht ein hoher Abstimmungsbedarf – z.B. über polizeiliche Aufgaben. Im
November wollen die Herrschaften sich darüber verständigen, wie die angeblich
exorbitant ansteigende Gewalt gegen PolizeibeamtInnen härter bestraft werden
kann und außerdem wie bundeseinheitlich gegen linksradikale Strukturen
vorzugehen ist. Wer sich für ein besseres Leben für alle zulasten des Kapitals
einsetzt, wird es früher oder später mit den Unterdrückungsapparaten dieses
Staates zu tun bekommen. Gegen die IMK mobilisert ein breites Bündnis zu
Aktionstagen und Demonstrationen (nachzulesen unter www.no-imk.blogspot.com).
Kommt zur bundesweiten Demo am
Samstag, 13. November!
Gegen den Kontroll- und
Repressionsstaat – IMK versenken!
Anarchistische
Gruppe/Rätekommunisten (AG/R)