Antinationale Gruppe Bremen [ANG]
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Oktober 2007    
Der vorliegende Texte ist erschienen in Ausgabe Nr. 2 / Oktober 2007 des Extrablattes. Der Text "Falsche Freund_innen" der associazione delle talpe, auf den hier geantwortet wird, ist in Ausgabe Nr. 1 des Extrablattes erschienen und ebenfalls auf www.extrablatt-online.net nachzulesen.


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Polemische Widerworte
Antwort der Antinationale Gruppe Bremen auf den Text
»Falsche Freund_innen« der associazione delle talpe



Ist eine Kritik an antisemitischen, antiamerikanischen oder sexistischen Positionen in antirassistischen Zusammenhängen an sich keine schlechte Idee, so weiß die associazone delle talpe in ihrem Text »Falsche Freund_innen – Thesen für einen Antirassismus jenseits kulturalistischer Zuschreibungen und dichotomer Analysen.«[1] ihr eigenes Vorhaben auszuhebeln, der Kritik förmlich den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Sind die AutorInnen bemüht, »das begriffliche Terrain zu sondieren, bevor eigene Positionen formuliert und diskutiert werden« (S. 9), möchten wir hingegen sehr wohl im Folgenden unsere Position in der Auseinandersetzung mit ihrer ‚Sondierung des begrifflichen Terrains’ formulieren. Vermutlich wird uns die associazone delle talpe zustimmen, dass sie mitnichten eine Auseinandersetzung mit antirassistischen Positionen führen könnte, ohne eigene Position zu beziehen – vielleicht folgt sie uns auch soweit, zuzugestehen, dass jegliche Darstellung eine Positionierung des Denkens zum Gegenstand mit sich führt, an der nicht zuletzt die Güte des Gedankens hängt.
Unsere Kritik an der Stellungnahme der associazone delle talpe richtet sich in dieser Antwort maßgeblich auf dieses nicht reflektierte Verhältnis: der zahme Gestus, der stets »problematisieren« nicht aber »polemisieren« oder gar »diffamieren« will, möchte – so scheint es – seine LeserInnenschaft ‚da abholen, wo sie steht’. Diese Taktik aber steht dem Ziel – einer Kritik der antirassistischen Linken – im Wege und führt letztendlich zu einer ‚Appeasment’-Politik mit einem ‚Gegner’, den es gar nicht gibt. Wer nicht benennt, was kritisiert wird, kann auch nichts kritisieren – so könnte man unsere Argumentation popularisieren.[2] Schon der Titel macht es leicht, missverstanden zu werden. Denkt doch die LeserIn zuerst, es müsse sich bei den »falschen Freund_innen« um irgendwelche Leute oder Gruppierungen aus der Antiraszene handeln, da der Text ja das Anliegen verfolgen soll, antirassistische Positionen zu thematisieren. Schnell wird jedoch deutlich, dass diese Annahme falsch ist, es sich bei den »falschen Freund_innen« um MigrantInnen handelt, ‚die’ Antiras also mit den ‚Falschen’ befreundet sind. Zu welch seltsamer Argumentation das führt, soll im Folgenden gezeigt werden. Der erste Satz – »Aktuell lassen sich problematische Tendenzen von Verständnis bzw. Verharmlosung regressiver Potentiale subalterner und deklassierter Subjekte und Kollektive konstatieren, und dies nicht auf Initiative selbst regressiver Akteur_innen, sondern im Namen der Emanzipation.« (S. 8) – gibt einen gekonnten Einstieg in den Tenor des Textes und kann als geradezu programmatisch verstanden werden. Wird hier doch mit sprachlichen Mitteln versucht, möglichst offen zu lassen, um wen oder was es eigentlich geht. Weiter heißt es: „Konkret geht es uns um ein Schweigen oder Tolerieren bzgl. patriarchaler Strukturen sowie antisemitischer und rassistischer Ressentiments innerhalb von migrantischen communities […]« (S. 8), es geht also »um einen kritischen Umgang mit antirassistischer Praxis« (S. 14), doch: »Um nicht falsch verstanden zu werden, die Kritik struktureller Diskriminierung und Exklusion von Migrant_innen […] verdient konsequente Unterstützung […]« (S. 8) und so »[…] soll folgender Text auch keine Polemik gegenüber antirassistischen Initiativen sein.« (ebd.). Es drängt sich der Eindruck auf, als wolle die associazone delle talpe eine Kritik üben, die nicht wehtun soll. Sprachlich zeigt sich eine Trennung zwischen ‚guter Kritik’ und ‚böser Polemik, Diffamierung’, als hätte Kritik nicht immer ein destruktives Moment, möchte sie zu mehr nütze sein, denn zu einer konstruktiven Überschreitung von Differenzen – einem Anliegen, das sich die Arbeit im Bundestag zum Vorbild nehmen könnte. An Differenzen (innerhalb der Linken oder sonst wo) festzuhalten und diese zu bestimmen, würde für uns einen Kern kommunistischer Kritik ausmachen. Die aufmerksamen LeserInnen werden im Weiteren über dieses und jenes belehrt, wie der Staat funktioniert, wie nicht, wie die Gesellschaft das Subjekt macht und warum aus Unterdrückung keine Emanzipation folgen muss – alles Einsichten, die wir mehr oder minder teilen können, aus denen aber nicht einsehbar wird, was denn überhaupt die antirassistischen Positionen ausmachen. Diese bleiben im Folgenden schleierhaft und damit auch die postulierten theoretischen Defizite, an denen eine Kritik antirassistischer Staats- und Subjektauffassung angreifen müsste. Legt die alltägliche Erfahrung nahe, dem Vorwurf der associazone delle talpe Recht zu geben, dass »die Debatte von begrifflicher Diffusität geprägt« (S. 9) ist, wird die LeserInnenschaft im Folgenden nicht in Kenntnis gesetzt, wer ‚die AntirassistInnen’ genau sein sollen. Geht es um »antirassistische Initiativen« (S. 8), LeninistInnen und »Antiimperialist_innen« (S. 12), postmoderne AnhängerInnen französischer Subjektphilosophie (S. 13 f.) bzw. Marxismus (S. 17)? Oder soll man dankbar das einzige empirische Beispiel zum Anlass nehmen und als Adressatin des Textes die Bremer Antira-Szene verstehen (S. 15), die dann nahezu das gesamte Spektrum linker Positionen versammeln würde – eingeschlossen derjenigen, deren Multikulturalismus in Begleitung einer »liberalen oder multikulturellen Träger_innenschaft« (S. 14) auftritt? Klar wird uns aber die Aussage, dass die kulturalistische Argumentation der antirassistischen Praxis dafür sorgt, »nicht-tolerables Verhalten zu tolerieren« (S. 18). So eine Toleranz finden wir auch nicht gut.

Furchtsame AntirassistInnen und regressive MigrantInnen

„Sensibel ist, wenn man bei Sonnenuntergängen weint.« (Benjamin Blümchen)

Es soll also in »Falsche FreundInnen« um die Kritik »problematischer Tendenzen von Verständnis bzw. Verharmlosung regressiver Potentiale subalterner und deklassierter Subjekte und Kollektive« (S. 8) gehen – also darum, dass AntirassistInnen nicht das Maul aufmachen, wenn von einzelnen MigrantInnen oder ausgehend von migrantischen communities, denen es schlechter geht als »Autochthonen« (Übersetzung: Eingeborene Deutsche)[3], antiamerikanische und antisemitische Hetze verbreitet wird.
Diesem Problem möchte die associazone delle talpe mit der »Formulierung einer antirassistischen und emanzipatorischen Perspektive, die die Komplexität und Widersprüche herrschender Verhältnisse reflektiert, anstatt auf binäre Gegensätze zu reduzieren« (S. 9) begegnen. »Die Reflexion unterschiedlicher Theorien über Antisemitismus und Rassismus als auch damit verbundene Kategorien wie Subjekt, Bewegung und Staat soll einer Überwindung bisheriger analytischer wie praktischer Defizite dienen.« (S. 9) Oder auch nicht? Denn: »Für eine fundierte theoretische Auseinandersetzung um Rassismus und Antisemitismus fehlt hier [in »Falsche Freund_innen«, ANG] der Platz« (S. 15) und damit auch für die Rückführung auf »bisherige analytische wie praktische Defizite« antirassistischer Initiativen.
Platz hat stattdessen eine sozialpädagogische Einfühlung in die Gründe für die »problematischen Tendenzen« in der Antira-Szene. Das schweigende Einverständnis der Linken zu Antisemitismus und Antiamerikanismus sei der Furcht geschuldet, als RassistInnen zu gelten: den AntirassistInnen wird infolgedessen gesagt, dass sie keine RassistInnen seien und ihnen eine Literaturliste zur Hand gegeben, anhand derer die »theoretischen Defizite« abgearbeitet werden können. Das Verständnis und die Verharmlosung folgen demnach für die associazone delle talpe nicht daraus, dass Linksradikale – wenn sie sich mit Derartigem gemein machen – damit eine Position beziehen, die aufs Schärfste kritisiert gehört. Im Gegenteil: »[A]us Furcht vor rassistischen Zuschreibungen« (S. 8) hüllt sich die Linke in Schweigen. Es sei dahin gestellt, ob diese Einschätzung der associazone delle talpe zutrifft oder nicht. Sollte sie zutreffen, stellt sich uns die Frage, warum die eigene Rechtfertigung dieses Verhaltens seitens der AntirassistInnen hier von den KritikerInnen nicht nur nicht kritisiert, sondern sogar übernommen wird und den Status einer ursächlichen Erklärung erhält.
Wäre nicht eher nach dem »Warum« zu fragen? Warum gelten Menschen lieber als AntisemitInnen (oder als deren FreundInnen) denn als RassistInnen und zeigen eine »geringe Sensibilität für die Nähe von antiimperialistischen, antizionistischen und antiamerikanischen Denkmustern zu strukturellem Antisemitismus« (S. 9) und leisten diesen »(un)bewusste Unterstützung« (S. 9)?
Diese Frage spart die associazone delle talpe konsequent aus. Sie kann sich auch nicht stellen, denn an ihre Stelle tritt die Setzung: Die AntirassistInnen haben – auf Grundlage ihrer Verdienste um die Unterstützung von MigrantInnen, mit der man sich nicht entsolidarisieren möchte – ein »emanzipatorisches Potential« (S. 9). Der antirassistischen Linken wird »geringe Sensibilität« (S. 9), »Schweigen oder Tolerieren« (S. 17), »Furcht vor einer Reproduktion rassistischer Zuschreibungen und Ausschlüsse« (S. 8) unterstellt, sie zeige »Tendenzen von Verständnis bzw. Verharmlosung« (ebd.). Ausschlaggebend sei die »Angst, dem Umschlag der grassierenden Ausgrenzung von Migrant_innen in offenen Rassismus Vorschub zu leisten« (S. 17). Wir können uns zwar gar nicht vorstellen, dass antirassistische Initiativen eine Differenz aufmachen würden zwischen »grassierender Ausgrenzung« und »offenem Rassismus« – aber abgesehen davon bleibt uns auch die inhaltliche Aussage unklar: Wird hier unterstellt, dass antirassistische Initiativen von der Sorge getrieben sind, ihre Kritik an patriarchalem und antisemitischem Verhalten würde ernsthaft dazu führen, dass damit einer angenommenen gesellschaftlichen Tendenz von ‚bloßer Ausgrenzung’ hin zu ‚offenem Rassismus’ nicht nur nicht Einhalt geboten, sondern diese sogar gestärkt werden würde? Wie hätte man sich das vorzustellen? Dass der Bürger nicht nur die türkische Nachbarin nicht grüßt, sondern ihr dann sogar sagt, ‚sie solle dahin gehen, wo sie hingehöre’? Dass ein Nazi zu einem noch größeren Nazi würde, wenn auf antirassistischen Camps sexistische Sauereien geahndet würden? Dass Innenminister noch mehr MigrantInnen aus islamischen Ländern ausweisen würden, wenn ihnen bekannt wäre, dass die antirassistische Szene antisemitischer Propaganda eine Absage erteilt? Wenn das damit gemeint ist, müsste man doch zu dem Schluss kommen: Wer so was denkt ist doof und hat eigentlich nichts gegen Chauvinismus oder Antisemitismus, zumindest nichts gegen den ‚migrantischen’. Die associazone delle talpe hingegen kommt zu dem Schluss: Die Kritisierten sind Opfer ihres kleinen faux pas, grundsätzlich stehen sie im Dienste der Emanzipation – und wie wir dem Begriffsglossar entnehmen können, ist »Emanzipation« das Gegenteil von »Regression«. Die AntirasssistInnen haben eben nur »falsche FreundInnen« gefunden…
Der Titel lässt Mahnungen von Eltern und SozialpädagogInnen anklingen, das Kind habe ‚ein falsches Umfeld’, eben ‚falsche Freunde’ und der Cannabiskonsum wäre so zu erklären, mit einem ‚soliden Umfeld’ aber zu kurieren. In Frage steht auch hier die Beeinflussung durch »regressive Tendenzen« (z.B. S. 12, 17, 18), die SozialpsychologInnen in der Regel als Entwicklungsstörung diagnostizieren. Im Falle der antirassistischen Szene wäre aber doch von linker Seite von dieser pädagogischen Perspektive einer ‚politischen Verführung’ bitte abzusehen. Die Konsequenz hieraus ist nämlich die Unterstellung, dass die furchtsamen und theoriefernen Antiras ‚eigentlich die Guten’ sind, aber aufgrund »geringer Sensibilität« (S. 9) – in Folge fehlender politischer Aufklärung durch ‚echte FreundInnen’ – in Akzeptanz sexistischer und antisemitischer Positionen von migrantischen »Reproduzent_innen regressiver Elemente« (S. 15) geraten. »Geringe Sensibilität« erklärt nichts, sondern ist zu erklären.
Wir setzen uns im Folgenden gerne dem Vorwurf einer – von der associazone delle talpe gemiedenen – »Polemik« aus, wenn wir behaupten, dass durch die unangemessene Vorsicht, ihrem Gegenstand der Kritik kein Haar krümmen zu wollen, ihnen unter der Hand genau das passiert, was sie den AntirassistInnen unterstellen und an ihnen bemängeln: sie betreiben eine »dichotome Analyse« (S. 8) – was bedeutet, man macht einen Gegensatz von z.B. gut und schlecht auf. Was wir an sich gar nicht kritisieren, denn wir haben – ganz un-postmodern – nichts gegen Argumente, die festhalten, dass eine Sache scheiße, eine andere aber gut ist. Wir vertreten aber die Position, dass die Antiras nicht per se VertreterInnen der Emanzipation sind (auch wenn der Kampf gegen Abschiebung und andere Repressionen noch so wichtig ist), denen Mitglieder von migrantischen communities als VertreterInnen der »Regression« gegenübergestellt sind.
Die associazone delle talpe wirft der antirassistischen Szene vor – und das, soweit wir die Sachlage überschauen, (wir betonen es noch einmal) vollkommen zutreffend –, keinen »konsequent kritischen Begriff des ‚Anderen’ zu entwickeln.« (S. 14) Weiter heißt es: »Entwickeln bedeutet die ‚Anderen’ als eigenständige handelnde Subjekte zu verstehen, um sie somit von identifikativen Zuweisungen zu entledigen und sich von der Idealisierung der ‚Anderen’ als emanzipatorische Subjekte zu verabschieden« (ebd.). Unserem Verständnis nach kann man diese Kritik umstandslos an die assotiazone delle talpe bezüglich ihres Verhältnisses zur antirassistischen Linken zurückgeben. Es gibt keinen Grund, an dem emanzipatorischen Potential von jemandem festzuhalten, auf den oder die das zutrifft, was in »Falsche Freund_innen« kritisiert wird. Und wird das auf strategisch-pädagogische Weise in dieser Form doch getan, tut sich unweigerlich eine beunruhigende Opposition zwischen per se emanzipatorischer deutscher Linken und »regressiven« ‚ausländischen AktivistInnen’ auf. Auf diese Weise löst die associazone delle talpe in der Tat ihr Versprechen ein: sie betreiben das Gegenteil einer »pauschalen Diffamierung« (S. 9), eine »pauschale Adelung«.
Wir vertreten, dass der Akzeptanz gegenüber antisemitischer und antizionistischer Hetze von Teilen der linken Szene – wie sie in Bremen z.B. von der Galerie Cornelius Hertz, dem AK Süd-Nord, dem Deutsch-Arabischen Kulturverein (welche viele Jahre u.a. vom »Paradox« unterstützt wurden) oder auf Veranstaltungen des »Gegenstandpunkt«[4] verbreitet wurde – nicht mit Verständnis beizukommen ist, sondern nur mit einer konsequenten Abgrenzung. Und in solchen Fällen kann auch Polemik ihre Dienste tun. Wir verstehen dieses Verhalten als eine politische Positionierung, die man ernst nehmen muss und der man nicht mit pädagogischem Einfühlungsvermögen begegnen kann.



Backe, backe Kuchen… Vom Säugling zum Migrant

„Es scheint das Richtige zu sein mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch.« (Marx, Grundrisse, S. 21)


Viel Einfühlendes, wenig Stichhaltiges kann man also in »Falsche Freund_innen« über die AntirassistInnen erfahren, die – wie wir unterstellen – in einer Opposition zu den migrantischen »regressiven Akteur_innen« (S. 8) stehen. Unter der Abschnittüberschrift »Subjekte und Migration« wird nun das Verhältnis von Migration und kapitalistischer Vergesellschaftung auf eine Weise verhandelt, auf die diese Kritik nicht zutrifft. Unsere Kritik aber daran, dass die Theorie der antirassistischen AdressatInnen abstrakt bleibt, trifft auch auf die Beschreibung der Lebensrealität von MigrantInnen zu: Die Rede ist von »struktureller Diskriminierung« (S. 8), »Reproduktion rassistischer Zuschreibungen und Ausschlüsse« (S. 8), von »Praxis zur Überwindung einschränkender Verhältnisse« und »strukturellem Ausschluss«, der »komplimentiert« wird durch »den individuellen Rassismus autochthoner Subjekte, der sich stets auch militant artikulieren kann« (S. 11), davon, dass »die Frage nach Migration ins Blickfeld« rückt (S. 10). Wir glauben kaum, dass Migration eine »Frage« ist, die »ins Blickfeld rücken« kann. Dass im Text keine sprachliche Annäherung an das konkrete Leiden gesucht wird, bleibt der inhaltlichen Aussage nicht äußerlich. Sitzen die Leute in Abschiebeknästen, sterben auf dem Weg nach Europa, verlieren ihre Angehörigen, leiden in ihren Heimatländern unter Hunger und brutaler Folter, wird dies im Pathos gezähmt: »Dennoch hat der Wunsch nach einem besseren Leben bzw. überhaupt überleben zu können, schon immer Menschen diverse Grenzen überwinden lassen.« (S. 11)
Die AutorInnen beanspruchen, »die Position des Subjekts stark zu machen und kritisch zu erfassen« (S. 10), »das Individuum als Bezugspunkt« (S. 18) zu setzen. Im Text erscheint der Subjektbegriff aber umso entsubjektivierter, je expliziter der Text dem Subjekt näher zu kommen versucht.
Das wäre nicht weiter fatal und fiele unter akademischen Maßstäben einfach unter die Kategorie »Thema verfehlt«[5], wenn die Unverbundenheit des theoretischen Exkurses mit dem Gegenstand der Kritik in dem Abschnitt »Subjekte und Migration« nicht zu Folgendem führen würde:
Hier soll einem weiteren »theoretischen Defizit« der LeserInnen Abhilfe geschaffen werden, ausgehend von der Frage »Was beinhaltet der Begriff ‚Subjekt’ und wie wird ein Mensch dazu?« (S. 9) Eine Frage – zumal eine so schwierige und komplexe – lässt man sich als LeserIn gerne beantworten. »Im Moment der Geburt eines Menschen – vermutlich auch schon pränatal – wird ihr/sein Naturwesen […] sozial-gesellschaftlich geformt. Dies geschieht während einer Einigung auf ein bestimmtes Interagieren zwischen Baby und Bezugsperson(en), indem die/der Erwachsene(n) als gesellschaftliche Wesen auf das Neugeborene einwirken.« (S. 10)[6] Indem die Eltern auch zu Hause nicht von ‚der Gesellschaft’ abschalten (sie plagt der Gedanke, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen und auch Vorstellungen von guter Säuglingspflege sind nicht hausgemacht), überbringen sie als Botschafter dem Baby-Empfänger das vom Gesellschafts-Sender ausgestrahlte Subjekt-Programm: »Du musst schnell und kräftig wachsen, um ein wertvolles Gesellschaftsmitglied, ein(e) gute(r) Arbeiter_in, zu werden.« (S. 9) Aber der Säuglingsmensch weigert sich, Subjekt zu werden und spricht: »Dem Lustprinzip folgend soll es mir gut gehen, weshalb ein Mangel an Wärme, Nahrung und Fürsorge zu vermeiden ist.« (S. 9) Conclusio: »Dadurch ist jedes Subjekt von seinem Beginn an sofort auch gesellschaftliches und kann nur als ein Dialektisches und Vermitteltes zwischen gesellschaftlichen Forderungen […] gedacht werden.« (S. 10)
Aber was ist – so möchten wir einwenden –, wenn die Eltern Mitglieder bei der APPD sind und finden, ihre Kleine solle zukünftig vom Staat nichts halten und sie selbst es prima finden, von Stütze zu leben? Spätestens dann wäre alle Dialektik dahin. Dann bliebe der Säugling ganz bei sich, behütet im fürsorglichen Elternhause und gesellschaftlich ziemlich unvermittelt. Es ist nichts Widersprüchliches daran, wenn die durch die Eltern kolportierten gesellschaftlichen Normvorstellungen auf das Schlaf- und Nahrungsbedürfnis treffen. Im Gericht würde es einfach heißen: ‚Aussage steht gegen Aussage’.
Der Mensch wird zum Subjekt – so die AutorInnen – indem der kleine Mensch mit einem »Übermaß an Versagung« konfrontiert wird, das »zwangsläufig zu Beschädigungen führt« (S. 10).[7] Weiterhin verweigert die Gesellschaft dem Subjekt die Erfüllung seiner Bedürfnisse »nach z.B. Erholung« (ebd.) – ja wozu haben wir denn die Kulturindustrie mit Kinos und Wellnessfarmen? – und das Subjekt muss sich in die »Anpassung an bestimmte gesellschaftliche Zustände« (ebd.) schicken, diese »Zustände werden vom Subjekt bewusstlos gehalten« (ebd.). Dies erzeugt ein »Unbehagen« (ebd.), das man aber »ausloten« (ebd.) kann, es besteht die Möglichkeit, »sich durch Vernunft geleitetes Denken wieder mündig zu machen, und den Wunsch nach Glück und Freiheit nicht aufzugeben«, das »bedeutet ein Stück weit Emanzipation« – Guten Tag, Herr Kant! Aber »(k)eine Emanziaption ohne die der Gesellschaft.« (ebd.) – »Buon giorno, Adorno!« (Alf)
Wir finden die Formulierung, dass die »Wurzeln« des durch die Verdrängung »gesellschaftlicher Zustände« erzeugten »Unbehagens« qua Vernunft »ausgelotet« werden, etwas unheimlich. Es ist sicherlich richtig, dass es zur Reflexion des subjektiven Leids der Vernunft, oder zumindest des Verstandes, bedarf – zugleich wird in dieser Formulierung aber genau das ausgeschlossen, worum es eigentlich gehen soll: dass das Subjekt den gesellschaftlichen Zwang erfährt und diese Erfahrung als – wie die associazone delle talpe ja auch betonen – das Moment bestimmt ist, in dem es nicht mit der gesellschaftlichen Totalität identisch ist. Und gerade deshalb ist diese Erfahrung nicht letztgültig »auszuloten« – die Sprache verweist an dieser Stelle auf das Gegenteil des Moments, welches vermittels der subjektiven Erfahrung über die Gesellschaft hinausweisen kann, nämlich darauf, etwas ins Lot, in Übereinstimmung zu bringen. Darauf zu insistieren ist spätestens dann kaum ein Anzeichen unserer mangelnden Großzügigkeit gegenüber sprachlichen Ungenauigkeiten der AutorInnen, wenn im Text nun ohne Umstand die ‚Auslotung’ des gesellschaftlich induzierten »Unbehagens« zur Erklärung der Migration herangezogen wird. »Wird der empfundene gesellschaftliche Druck zu groß – egal ob finanzielle Not oder politische Verfolgung –, um das eigene Überleben zu sichern, rückt die Frage nach Migration ins Blickfeld. Das ‚emanzipierte Fliehen’ vor gesellschaftlich und staatlich produziertem Leiden soll dem Wunsch nach individuellem Glück näher kommen, wenn auch unberücksichtigt bleibt, dass – egal wohin man flieht – in der gegenwärtig durchkapitalisierten Welt, dieser nicht wirklich eingelöst werden kann.« (S. 10 f.) Die vorher geleistete allgemeine Bestimmung bürgerlicher Subjektivität – in der das bürgerliche Subjekt das empfundene Leid, eine »Art Widerstand« (S. 10), also nicht verdrängt, sondern die Quelle seines unguten Gemütszustandes qua Vernunft als ‚die Gesellschaft’ erkennen kann – wird unter der Hand zur Erklärung von Migration: Hier sind die Flüchtlinge nun potentielle ‚FahnenträgerInnen’ der »Emanzipation« – wenn auch nur in Tüddelchen. Erstens weil sie wegen der kapitalistischen Gesellschaft nicht in der Freiheit, sondern im rassistischen Alltag europäischer Nationen ankommen und zweitens, weil MigrantInnen nicht automatisch »Ausbeutung und Herrschaft prinzipiell in Frage stellen« (S. 11).
Wir sehen in dieser Argumentation das Problem darin, dass die Auffassung – dem vom bürgerlichen Subjekt verdrängten gesellschaftlich induzierten Unglück werde in der bewussten Reflexion nachgegangen und damit der Anspruch auf Freiheit und Glück offen gehalten – hier auf das Movens der Migration übertragen wird: Die Flucht vor Unglück wird in einem Umkehrschluss als (wenn auch vermeintliche) Reise ins Glück (miß-)verstanden. In Frage zu stellen ist, ob diejenigen, denen überhaupt eine Flucht möglich ist, die Vernunft ‚zur Auslotung’ brauchen, um vor Folter und Hunger fliehen zu wollen. Der Wunsch »nach einem besseren Leben« (S. 11), danach, der Zwang des Staates möge der Sicherung der eigenen Rechtsansprüche dienen und die Teilnahme am Arbeitsprozess – und somit die eigene Reproduktion – sichern, ist derart allgemein, dass er ebenso gut für die Erklärung der Motive der Migration taugt wie für die der Hartz-IV-Proteste hierzulande.
Dieser Wunsch wurde in »Falsche Freund_innen« eingangs aus Triebansprüchen des Kindes – eingebettet in das »verbale und nonverbale Interagieren« (S. 10) zwischen Eltern und Säugling – entwickelt, dann bezogen auf die Adornosche Figur, dass die Unterwerfung unter das Tauschprinzip die Verdrängung der eigenen Ohnmacht mit sich führt und auf die Reflexion auf den Wunsch nach Glück als emanzipatorischem Moment. Gerade der Beginn im Konkreten – dem ‚Austausch’ zwischen Säugling und Gegenüber – hinterlässt nicht nur einen schlecht abstrakten Begriff des Subjekts, sondern verfehlt in Folge auch den Versuch einer begrifflichen Entwicklung der Migration aus subjektiven Bedingungen, denen die objektiven ‚nachgeschaltet’ sind. Die Migration wäre aus den objektiven, ganz und gar nicht subjektiv induzierten Voraussetzungen unserem Verständnis nach adäquater zu entwickeln gewesen. Damit wäre man nicht nur der subjektiven Erfahrung einer Wirklichkeit näher gekommen, in der die Verdrängung an der Brutalität der Realität scheitern muss, sondern auch der kritisierten Bedeutung, die die Antira-Szene dem migrantischen Subjekt als per se emanzipatorischem zuweist – um die es ja eigentlich gehen sollte. Womit die associazone delle talpe unserem Dafürhalten natürlich vollkommen richtig liegen, ist die Kritik daran, dass Marginalisierung nicht automatisch ein emanzipatorisches Potential hervorbringen muss. Dies lässt sich aber weder aus der Entwicklungspsychologie mit marxistischer Attitüde eines Lorenzer ableiten, noch aus dem Adornoschen Glücksbegriff. Vielmehr wird hier der ‚Angriffspunkt’ verfehlt: möchte man kulturell-rassistische Projektionen kritisieren, hilft es wenig, diesen eine positive Bestimmung des emanzipatorischen Moments entgegenzusetzen – warum etwas falsch verstanden worden ist, erklärt sich nicht zwangsläufig daraus, warum etwas anderes richtig ist. Die Kritik kulturell-rassistischer Projektionen läuft hier insofern an ihrem Gegenstand vorbei, als dass nicht diese, sondern ihr Objekt Gegenstand der Darstellung ist.



Masters of the Universalismus


Meine Freiheit heißt, daß ich Geschäfte machen kann. Und deine Freiheit heißt, du kriegst bei mir einen Posten. Und da du meine Waren kaufen mußt, stell ich dich bei mir an. Dadurch verursacht deine Freiheit keine Kosten. (Georg Kreisler)


Das Problem der Unklarheit über den Gegenstand der Kritik wiederholt sich im dritten, dem sich mit dem Staatsbegriff auseinandersetzenden Abschnitt. Einem von Lenin herkommenden instrumentellen und antiimperialistischen Staatsverständnis werden hier die Staatsbegriffe Paschukanis’ sowie die Gramscis/Poulantzas’ gegenübergestellt. Wenn als »problematische« Annahmen angeführt werden, dass der Staat nur das Instrument der herrschenden Klasse sei und dass es böse imperialistische und gute antiimperialistische Staaten und Bewegungen gebe, so stellt sich uns die Frage, welche Rolle diese Positionen tatsächlich in der Theoriebildung der antirassistischen Bewegung spielen; inwiefern ihr bemängeltes (Nicht-) Verhalten tatsächlich durch diese falschen Theorien bestimmt ist (Kann nicht auch mit der»richtigen« Theorie im Kopf das Falsche getan werden?). Einerseits ist »Falsche Freund_innen« insbesondere im Staatsabschnitt recht vage, wenn es um die Anbindung der entwickelten Begriffe an das Thema des falschen Antirassismus geht. Andererseits wird, das zeigt der Modus der Kritik im Staats- aber auch im Subjektabschnitt, den AntirassistInnen ein vollkommen rational theoriegeleitetes Handeln unterstellt – sie begehren nicht gegen die »regressiven Tendenzen« ihrer »Freund_innen« auf, weil sie einen falschen Subjekt- und Staatsbegriff haben.
Diese der Argumentation in »Falsche Freund_innen« zugrunde liegende Annahme vernachlässigt zunächst die innerhalb der Linken verbreitete Entgegensetzung von Theorie und Praxis, bei der sich dann nicht selten in ausdrücklicher Theoriefeindschaft für die letztere entschieden wird. Und: Wenn die Leute beispielsweise zu Lenin greifen, um etwas über den Staat zu erfahren, reicht es wohl kaum aus, sie darauf hinzuweisen, dass »die Personalisierung von Herrschaft und die These von der gezielten Manipulation der Massen [...] mit ihrem Manichä­ismus eine Affinität zu Verschwörungstheorien und strukturellem Antisemitismus [besitzt].« (S. 12) Überzeugten LeninistInnen bietet ihre Theorie offenbar eine Erklärung der Wirklichkeit, der nicht durch eine derart allgemeine theoretische Belehrung beizukommen ist,[8] die auf der Annahme eines Nochnichtwissens beruht; zu kurz kommt »die Ebene der Identifikation« (ebd.), das Nichtwissenwollen, also die Ideologie.
So gehen wir mit der Kritik am »instrumentellen Staatsbegriff« und den Ausführungen zum »juridischen Staatsbegriff« weitgehend überein,[9] fragen uns aber, was mit der durch den »relationalen Staatsbegriff« geronnenen Analyse, dass »aktuelle Kontroversen um Integration und Assimilation als umkämpfte Verhandlungen über gesellschaftlichen Einschluss und Ausschluss interpretiert werden [können]« (S. 13), gewonnen ist? Daran schließt sich als leicht paternalistisches Urteil über antirassistische Arbeit an, dass »Forderungen nach gleichen Rechten und der Überwindung von Ausschlüssen [...]« (ebd.) zwar immanente seien, jedoch »legitim solange Gesellschaften staatlich verfasst sind« (ebd.). Vom Kampf um gleiche Rechte wird sich höchstens distanziert, er wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern hier wie an anderer Stelle als legitimes Ziel vorgestellt. Zu Beginn des Textes heißt es: »Um nicht falsch verstanden zu werden, die Kritik struktureller Diskriminierung und Exklusion von Migrant_innen in den kapitalistischen Zentren und die daraus resultierende Einforderung von Rechten verdient konsequente Unterstützung.« (S. 8) Das ist insofern erstaunlich, als dass der Staat zuvor als »ideeller Gesamtkapitalist« bestimmt wurde, dessen Aufgabe es ist, ArbeiterInnen wie KapitalistInnen als Rechtssubjekte zu schützen und so Eigentum und damit Ausbeutung zu garantieren. Die Zirkulationssphäre, in der die WarenbesitzerInnen einander als Rechtssubjekte gegenüber treten, erscheint, wie Marx schreibt, »als wahres Eden der angeborenen Menschenrechrechte. Was allein hier herrscht ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham.« (MEW 23, S. 189) Nach bewährter marxistischer Formel erweisen sich diese Freiheit und Gleichheit jedoch als Voraussetzung und Verschleierung realer Unfreiheit und Ungleichheit: Die kapitalistische Ausbeutung vollzieht sich über einen legalen Arbeitsvertrag zwischen zwei formal freien und gleichen Rechtssubjekten. Migrantische LohnarbeiterInnen stehen real vor dem Problem, dass ihnen nicht einmal die sonst üblichen Menschen- und Bürgerrechte zuteil werden. Die Antwort, die (nicht nur) die associazione delle talpe auf dieses Problem findet, ist, dass es besser wäre, gleiche Rechte zu haben als keine Rechte zu haben. Und leider ist es ein Fortschritt, wenn ein Mensch durch Bezahlung und nicht durch Prügel zur Arbeit angehalten wird. Allein, die Forderung nach gleichen Rechten appelliert an den bürgerlichen Staat, er möge sich doch an seine eigenen Ideale halten, ganz so, als hätte dieser kein Interesse an einer Reservearmee von LohnarbeiterInnen, die bereit ist, fast jede Arbeit anzunehmen.
In »Falsche Freund_innen« wird auf das, sicherlich bestehende, geringere Übel verwiesen: »Demokratische Rechtsverhältnisse und die Übertragung von Gewalt an einen allgemeinen Souverän beseitigen zwar nicht die Gewaltförmigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, bedeuten für die Emanzipation des Individuums jedoch eine erstrebenswerte bzw. verteidigenswerte Errungenschaft gegenüber der Herrschaft patriarchaler, feudaler oder religiöser Autoritäten.« (S. 12) Wann und in welchem Fall radikale GesellschaftskritikerInnen solche Verhältnisse für »verteidigenswert« erachten müssen, sei einmal dahin gestellt. Geweckt ist jedenfalls der Verdacht, hier wird sich, trotz aller - man könnte böse sagen: unter dem Vorwand von - anders lautenden Beteuerungen reichlich positiv auf bürgerliche Verhältnisse bezogen. Denn es geht weiter: »Solange der Kommunismus als ‚freie Assoziation freier Individuen’ (Marx) mit dem Potential, ‚ohne Angst verschieden sein zu können’ (Adorno), auf sich warten lässt, macht es also einen fundamentalen Unterschied, unter demokratisch verfassten Verhältnissen [...] oder aber unter der Herrschaft von Racketeers [...]« (ebd.) zu leben. Der bessere Zustand ist einer, der auf sich warten lässt und keiner, der zu erkämpfen wäre und solange er auf sich warten lässt, muss man den schlechten Zustand gegen den noch schlechteren verteidigen. Dass hier mit dem Anspruch radikaler Gesellschafts- und Staatskritik gesprochen wird, findet zumindest in Bezug auf Rechtsgleichheit in der Beurteilung des Jetzt-Zustands keinerlei Niederschlag: Moderner Rassismus und Antisemitismus etwa sind schließlich keine präkapitalistischen Überbleibsel. Gerade das bürgerliche Gleichheitsversprechen wird nicht erst durch seine Nichteinhaltung zum Problem, sie ist Konsequenz universaler Vergleichbarkeit kapitalistischer Vergesellschaftung und enthält als solche immer schon die Tendenz, sich gegen das Differente zu richten.[10]
Als Gegenbegriff zu Emanzipation wird der der Regression eingeführt, ganz so, als sei jede Einschränkung menschlicher Freiheit ein Zurückfallen auf eine frühere Stufe der Menschheitsgeschichte. Jedoch wird auch der Anspruch, dass »Emanzipation darauf abzielen [muss], die gegenwärtig bestehenden Verhältnisse in Wesen und Erscheinung zu kritisieren und letztlich aufzuheben« (S. 19), vom Text nicht eingelöst. Was wohl auch an der inflationären Verwendung des Begriffs der Emanzipation liegt: Mal meint Emanzipation, die Verbesserung von Lebensbedingungen von MigrantInnen, mal die durch die bürgerlichen Revolutionen geschaffenen Verbesserungen gegenüber dem Feudalismus, mal deren Aufhebung. Dem entspricht, dass weder implizit im Text noch explizit im Glossar ein Widerspruch zwischen bürgerlicher und kommunistischer Emanzipation aufgemacht wird, vielmehr erscheint diese als bloße Weiterführung jener.
Ein vergleichbares Fortschrittsparadigma liegt auch dem Gegensatzpaar Herrschaft von Rackets vs. bürgerlich-demokratische Staatlichkeit zugrunde. Im Glossar wird auf Max Horkheimer verwiesen und - mit einem Zitat von Gerhard Scheit - darauf, dass Rackets die »Fortexistenz oder Rekonstruktion persönlicher Abhängigkeit unter den Bedingungen von Rechts- und Kapitalverhältnis« (S. 19) darstellen. Horkheimer zielte mit dem Begriff des Rackets auf die bandenmäßig organisierte Herrschaft von beispielsweise Gewerkschaften oder Industriekartellen in Europa und den USA im Spätkapitalismus ab. In »Falsche Freund_innen« werden sie exterritorialisiert, sie firmieren als etwas, vor denen MigrantInnen fliehen (vgl. S. 11, S. 12), werden also ausschließlich in der Peripherie verortet und mit den Attributen »patriarchal, feudal oder religiös« (S. 12) versehen, so dass sie als vormoderner Anachronismus erscheinen. Wenn wohl auch unbeabsichtigt, fungiert der Racket-Begriff so als Gegensatz zum bürgerlichen Rechtsstaat, der die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse der Rackets emanzipatorisch überwindet.
Abschließend wird in »Falsche Freund_innen« als Perspektive ein »universalistischer Antirassismus« eingeführt, der unter anderem beinhaltet, dass auch MigrantInnen für »antiemanzipatorisches Denken und Handeln« (S. 18) kritisiert werden dürfen, denn:»[D]ie Einforderung gleicher Rechte für alle sollte auch die gleichen Ansprüche an die Kritik reaktionärer Tendenzen - egal von wem geäußert - mit einschließen.« (Ebd.) Eine solche Forderung weckt ungute Assoziationen an migrationspolitische Sprecher irgendwelcher Bundestagsparteien: »Keine Rechte ohne Pflichten.« Wiederum kommt hier eine Gleichheitsforderung zum Tragen, denn es sollen »gleiche Standards der Kritik antiemanzipatorischen Denkens für alle Subjekte« (ebd.) angelegt werden, während von »ethnischen und nationalen Kategorisierungen von Subjekten« (ebd.) abgesehen werden solle. Hier scheint die associazione delle talpe auf eigene Faust das nicht eingehaltene Versprechen des bürgerlichen Staats einlösen zu wollen: Es sollen wirklich alle gleich behandelt werden.






Erschienen in Ausgabe Nr.2 /Oktober 2007 in:

Extrablatt - Aus Gründen gegen fast Alles
http://www.extrablatt-online.net/




[1] Erschienen in Extrablatt, No. 1/ Mai 2007, daraus alle nicht weiter gekennzeichneten Zitate im Folgenden.

[2] Eine Anfang Juli auf bikepunk 089 geführte Diskussion (http://bkpnk089.blogsport.de/2007/07/03/solidarisches-desinteresse/) hatte ebenfalls diese bemerkenswerte Distanz zum Gegenstand zum Ausgangspunkt, hier aber, um dem Argument ‚Rückendeckung’zu geben, der Text der associazone delle talpe habe wenig mit der Realität der Antira-Szene zu tun. Gerade die Unklarheit des Gegenstandes im Text der associazone delle talpe scheint hier für die ReziptientInnen Raum für den Verdacht einer »pauschalen Diffamierung« zu geben, wenn Positionen und AdressatInnn einer Kritik nicht benannt werden, wird es schwierig, sich von dieser (nicht) ansprechen zu lassen. Die nächsten drei Tage beschäftigten sich die blog-BesucherInnen mit einer recht substanzlosen Debatte, ob und inwiefern der Vorwurf eines kulturalistischen Rassismus zuträfe – ein Hinweis darauf, dass die Kritik der associazone delle talpe an der Diffusität der Debatte absolut zutreffend ist. So wird im blog entschieden das Anliegen der AutorInnen verteidigt:»Ich würde hingegen behaupten, dass sie die Belege deshalb schuldig bleiben, weil diese Debatte über Jahre die bestimmendste Debatte in diesem Kontext war und diese Belege so zahlreich sind, dass es eine Farce wäre da drei rauszugreifen.« (ebd.) Symptomatisch aber, dass im blog auf die von der associazone delle talpe geforderte Reflexion auf die theoretischen Bezüge des kulturalistischen Rassismus mit einem pauschalisierenden Hickhack um das ‚Verhältnis von Theorie und Praxis’ reagiert wurde – Begriffe wie Staat oder Subjekt tauchten kein einziges Mal auf. Wenn wir hingegen im Folgenden kritisieren, dass die associazone delle talpe an ihrem Gegenstand ‚vorbeischreibt’, bezieht sich das auf den fehlenden Bezug ihrer theoretischen Ausführungen zu ihrer Kritik an der antirassistischen Szene, die wir grundsätzlich teilen, und nicht darauf, dass»der Zugang zu politischen Fragen […] ein primär theoretischer« (ebd.) sei – im Gegenteil.

[3]  Wir möchten nicht näher auf den wunderlichen Mix unterschiedlicher Theoriebezüge eingehen, deren begriffliche Bestimmungen sich bei genauerer Betrachtung untereinander als inkompatibel erweisen – wie z.B. der Begriff der Subalternität, der – wie er von den AutorInnen im Glossar bestimmt wird – u.E. keine »Erweiterung« des marxschen Klassenbegriffs ist (S. 19), sondern vielmehr dessen Verabschiedung. Etwas entgeistert stehen wir auch dem im Glossar erläuterten Begriffspaar „autochthon bzw. allochthon« gegenüber: Als ‚Allochthone’ sollen wir »etwas oder jemand« verstehen, der oder das »an anderer Stelle entstanden […] bzw. von dort herkommt oder nicht am Fundplatz heimisch ist«. Während das ‚Authochthone’ das»Alteingesessene, Heimische« (S. 19) bezeichnet. Diese Definition scheint uns eher auf»etwas« als auf»jemand« anwendbar zu sein, wenn überhaupt: hat sich doch die Kartoffel in europäischen Gefilden ganz gut ‚eingebürgert’ und es wundert niemanden, im Garten oder auf dem Markt dieselbe vorzufinden, auch wenn die Knolle »an anderer Stelle entstanden« und damit nicht »am Fundplatz heimisch« ist. Selbst die Natur weckt also Zweifel an ihrer Bestimmung unter dem Schicksal der menschlichen Naturbeherrschung. Auch die associazone delle talpe scheint sich dieser Sache nicht ganz sicher, wenn sie sich zur Rechtfertigung der verwandten Begriffe im Glossar genötigt zu fühlen scheint: Man entscheide sich für die Verwendung von»allochthon bzw. autochthon«, weil einerseits indigen aufgrund seiner diffamierenden Verwendungsweise ausscheide, andererseits das Selbstverständnis vertreten werde, nichts von »nationalen Blut- und Bodenansprüchen zur Charakterisierung von Subjekten« (S. 19) zu halten. Aber anscheinend doch etwas von einer Einteilung der Subjekte in »Heimische« und Nicht-Heimische, was sich danach bemisst, wo – also an welcher»Stelle« – man entstanden ist. Diese Stelle hat ganz sicher einen Boden, auf dem man sich »heimisch« fühlen kann und dann ist die Nation ganz nah. Gerade wenn man – wie z.B. Edgar Reitz mit seinem Filmepos »Heimat« – den ‚heimischen Fundort’ entpolitisieren und dem völkischen Bezug entgegensetzen möchte, eben um sich ganz ‚heimelich’ deutsch fühlen zu können. Das werfen wir der associazone delle talpe freilich nicht vor – nur, diesen Zusammenhang im Zuge einer überstürzten political correctness nicht zu Ende gedacht zu haben

[4] Siehe dazu die Notiz zu der Veranstaltung »Israels grenzenlose Staatsraison« des »Gegenstandpunkt« am 7.9.2006 in Bremen in »Das Wetter« (Extrablatt, No.1/ Mai 2007, S. 44/45).



[5] Nebenbei bemerkt ist uns sowieso nicht klar, warum eine Auslassung über die Bedeutung der Beziehung zwischen »Bezugsperson(en)« (S. 10) und Säugling – über die nahezu jede Allgemeinbildung informiert ist – in entwicklungspsychologischem Sprech Erhellendes zu einer Kritik der Antiraszene beitragen sollte.



[6] Dies ist weniger eine Beschreibung der Wirklichkeit als die der Wunschträume autoritärer Eltern: man könne das Kind nach dem (eigenen) Bilde formen und dasselbe dann ganz hausbacken in die gesellschaftlichen Form einpassen.


[7] Das impliziert die normative Vorstellung, es gäbe eine objektive Grenze zwischen ‚notwendiger Versagung’ – »In der […] individuellen Entwicklungsgeschichte kann ein bestimmtes Maß an Versagung nicht ausbleiben und darf es auch nicht, um als Entwicklungsmotor die frühen menschlichen Aktivitäts- und Autonomiebestrebungen in Gang zu bringen.« (S. 10) – und ihrem »Übermaß«. Diese Argumentation folgt der Logik: was den Wunsch nicht umbringt, macht dich stärker, aber was zuviel ist, ist zuviel. Eine kritische Theorie des Subjekts kann aber nicht von einer Setzung ausgehen, die zwischen ‚normaler und pathogener’ äußerer Versagung differenziert. Nicht weil das Subjekt die Versagung als »Entwicklungsmotor« (S. 10) braucht, gehört der Mangel zum Subjektsein, sondern der unbewusste Wunsch ist seiner Bestimmung nach immer daran gebunden, der ‚Motor’ zu sein.



[8] Es scheint als gebe es eigentlich keinen Antisemitismus, sondern nur »Affinitäten zu strukturellem Antisemitismus« (vgl. S. 12, S. 12, S. 13), während bereits der Begriff des strukturellen Antisemitismus darauf verweisen soll, dass Denkformen Wesensverwandtschaften zum Antisemitismus aufweisen können, ohne mit ihm identisch zu sein, verliert er durch diese doppelte und dreifache Absicherung jeden Gehalt.

[9] Der Aussage »Arbeiter_innen wie Kapitalist_innen« seien Herrschaft und Ausbeutung »in abstrakter Form des Zwanges kapitalistischer Verhältnisse gleichermaßen unterworfen« (S. 13) können wir uns so nicht anschließen. Sicherlich unterliegen beide Seiten Zwängen, hier allerdings schießt die Zurückweisung moralisierender Kapitalismuskritik übers Ziel hinaus.


[10]  »Aufklärung zersetzt das Unrecht der alten Ungleichheit, das unvermittelte Herrentum, verewigt es aber zugleich in der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches [...]: sie schneidet das Inkommensurable weg. [...] Die Einheit des manipulierten Kollektivs besteht in der Negation jedes Einzelnen [...]. Die Horde, deren Namen zweifelsohne in der Organisation der Hitlerjugend vorkommt, ist kein Rückfall in die alte Barbarei, sondern der Triumph der repressiven Egalität, die Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen.« Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2001, S. 18f.








Erschienen im Oktober 2007 in Ausgabe Nr.2 in:

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