~~==++ Antirassistische Gruppe Leipzig ++==~~
veröffentlicht in: Klarofix 9/01

schwer zu toppen

rückgeblickt auf das 4. antirassistische Grenzcamp in Kelsterbach bei Frankfurt am Main

Aufmerksamkeit war dem 4. Antirassistischen Grenzcamp von Anfang an sicher. Die Presse stellte das Camp schnell in eine Reihe mit den Protesten von Genua und auch mit dem Frankfurter Flughafen hatte man sich in diesem Jahr ein öffentlichkeitswirksames Aktionsziel ausgesucht. Die Ansprüche waren also hoch gesetzt: nach außen die Vermittlung antirassistischer Positionen und Forderungen, nach innen die Zusammenarbeit mit MigrantInnen auf einem überwiegend weißen, deutschen Camp und mit anderen Teilbereichsbewegungen wie Antifa oder Antiglobalisierungsbewegung. Und nicht zuletzt die Herausforderung, das Campingvergnügen von über 1000 Menschen zu organisieren.

Grenzcamp gegen Fraport - 10:0 oder 8:2". Das Delegiertentreffen war sich nach 2 Tagen Grenzcamp jedenfalls einig, daß gleich zum Auftakt ein haushoher "Sieg" errungen wurde. Die Fraport, ihres Zeichens Eignerin des Frankfurter Flughafens, sah sich wohl als solche in der Verantwortung die drohende Zerstörung des Frankfurter Flughafens - so lautete jedenfalls die Einschätzung der italienischen Tageszeitung Corriere dela Sera, die das Camp mit der Schlagzeile "Gestern legten sie Genua in Schutt und Asche und jetzt wollen sie den Frankfurter Flughafen niederbrennen" ehrte - durch Demonstrationsverbot und Anforderung massiver Polizeipräsenz zu verhindern.
Als zweistündige Begrüßungsaktion im Flughafenterminal geplant, bekam die Demo am 29.7. angesichts des Verbots der Fraport eine unglaubliche Dynamik. Die völlige Abriegelung des Terminals für alle, die kein Ticket vorweisen konnten (sogar die Presse wurde komplett ausgesperrt), die Staus bis auf die Autobahn und die Proteste mit etwa 1000 AbschiebegegnerInnen brachten der Fraport das erste Eigentor und dem Camp ein überwältigendes Medienecho: das Grenzcamp schon zu Beginn in allen Fernsehnachrichten, als breaking news in CNN. Damit war die im Vorfeld geäußerte Befürchtung, in der Rhein-Main-Metropole unterzugehen, ins glatte Gegenteil umgeschlagen. Und auf mediale Vereinnahmungsversuche a la "dort der böse schwarze Block, hier die friedlichen AntirassistInnen" war man vorbereitet: "Das Grenzcamp hatte noch nie eine derartige Öffentlichkeit, zudem waren die zentralen Forderungen in den Berichterstattungen durchweg präsent" schätzt Rosa Kemper von der Pressegruppe die Außenwirkung des Camps ein. "Die Presse war so kurz nach Genua sehr stark auf die Gewaltdiskussion fixiert. Mit einer eindeutigen Solidarisierung mit allen Protestformen in Genua und dem Verweis auf die strukturelle Gewalt die von kapitalistischen Staaten und Weltwirtschaftsordnung ausgeht, haben wir der angestrebten Gewaltdebatte von Anfang an den Wind aus den Segeln genommen und uns stärker als in den Vorjahren auf die Vermittlung eigener Inhalte konzentriert. Mit Erfolg. Staatlicher Rassismus war immer Thema, wenn über das Camp berichtet wurde, vor allem die Abschiebepolitik und das Flughafenverfahren. Zudem gelang uns, den politischen Druck für eine Auflösung des Internierungslagers und die Abschaffung des Flughafenverfahrens zu erhöhen."

Der fulminante Auftakt hatte auch mobilisierende Wirkung: über 1000 Personen hatten trotz der Fluktuationen durchschnittlich ihre Zelte aufgebaut, das diesjährige Konzept, erstmals die inneren Grenzen zum Schwerpunkt zu machen, ist offensichtlich aufgegangen. Von der Volksküche über den Ermittlungsausschuß bis zur Pressegruppe hat das Camp 01 nahezu professionelle Standards erreicht. Wegen der nur kurzfristigen Internetverbindungen konnte das webjournal in diesem Jahr wenig unmittelbar wirken, die regionale Radiostruktur war sicher nicht optimal ausgeschöpft - beides wurde durch die Präsenz in den Mainstream-Medien mehr als aufgefangen. Und Funktion, Sinn und Effizienz der Plenas (mit nun bald 800 Leuten) bleibt sicherlich als dauerhafter Streitpunkt erhalten...

Doch zurück zum Flughafen: Ein Ultimatum des Camps an die Fraport: Demonstrationrecht im Hauptterminal und zum Internierungslager des Flughafens oder Dauerpräsenz der CamperInnen am Flughafen, brachte die Fraport noch weiter in die Defensive. Donnerstag und Freitag mußte der Flughafen ebenfalls für alle BesucherInnen gesperrt werden, und am Abschlußsamstag wurde das dafür notwendige "Sicherheitsaufgebot", das schon am vergangenen Sonntag 1900 PolizistInnen umfaßte, nochmals aufgerüstet.
Mit 2500 bis 3000 TeilnehmerInnen wurde die Demo am 4.8. schließlich zur bisher weitaus größten Protestaktion gegen Abschiebung und Internierung, die je am Flughafen stattgefunden hat. "Zwar wären vor Ort noch mehr flexible und dezentrale Aktionsformen gefragt und der Ablauf insgesamt effektiver zu gestalten gewesen. Dennoch sind die Flughafenaktionen durchweg als klare Punkterfolge zu verbuchen, auf denen sich regional auch in den nächsten Monaten bestens aufbauen wird lassen." meint Robert aus Frankfurt, der im Pink Silver Block mit für eine offensive Demostimmung sorgte. Unerwartete Lorbeeren gabs jedenfalls von anderer Seite: O-Ton des hessischen Innenminsters Volker Bouffier (CDU) : es sei "unerträglich, wenn Bewohner des sogenannten Grenzcamps in der Art von Rollkommandos den Verkehr lahm legten, den Flughafen blockierten oder Häuser beschmierten..." Die Polizei sei angesichts der "beeindruckenden Logistik" der Demonstranten in einer schwierigen Lage."

Der "Pink Silver Block" ist so ein Paradebeispiel für die schwierige Lage der PolizistInnen und wird zweifelsohne als shooting-star in die "Geschichte des camps 01" eingehen. Ein praktischer Ansatz, der viele begeistert und mitgerissen hat, der neue Aktionsformen aufgemacht hat, der nicht nur strukturelle, sondern sogar auch inhaltliche Debatten aufgerissen hat: "Pink Silver" puschelt nicht nur durch die Kaufhäuser und verwirrt die Bullen, obwohl es natürlich lustig ist, zu hören wie sie versuchen einer Passantin zu erklären, wir wären die bösen Linksradikalen"... erklärt Robert während er sich aus seinem pink besprühten Overall schält. " Pink Silver ist mehr als Cheerleading. Das dahinter

stehende Konzept trägt den schönen Namen "tactical frivolity" und stiftet Verwirrung nach Innen und nach Außen. Unser für Demonstrationen linker Zusammenhänge eher untypisches Auftreten, die bunte Verkleidung, die Puschel, die Choreografien erweckt anfangs den Anschein, nicht konfrontativ vorgehen zu wollen. Aus diesem vermeintlich unkonfrontativen Auftreten heraus, können wir den Überraschungseffekt nutzen, um gegebenenfalls offensiv zu agieren. Nach Innen hat diese Form des Agierens dazu beigetragen, über Geschlechteridentitäten zu diskutieren und sie ganz konkret zu verwirren. Die erste Demoreihe wird typischerweise von Jungs/Männern gestellt, da hat Pink Silver dazu geführt, dass viele Frauen, ihre Hemmungen , offensiv vorzugehen abgebaut haben. Auf der anderen Seite beteiligten sich im Laufe der Woche immer mehr Männer an Pink Silver, die sonst nie auf diese Weise aus sich herausgehen würden, da Verkleiden, puscheln, Cheerleading gängigerweise mit Schwulsein oder Frausein assoziiert wird."

Flughafen, Innenstadt, Börse, Arbeitsamt und Ausländerbehörde ... viele gut vorbereitete und offensive Aktionen prägten das Camp. Der zunächst dezentral angelegte Innenstadt-Aktionstag war vollgestopft mit interessanten Aktionen -. Trubel an jeder Ecke der Zeil, reichlich gute Fakes, um die Bevölkerung mit der für MigrantInnen alltäglich spürbaren rassistischen Ausländergesetzgebung und Überwachungsinstrumentarien zu konfrontieren und abends schließlich die symbolische Zurückeroberung öffentlicher Räume mit der Eröffnung einer zone sans controlles im Frankfurter Hauptbahnhof und Kundgebung plus Konzert im Stadtzentrum.
Natürlich stellt sich die Frage, ob unter dem stark praxisorientierten Ansatz die inhaltliche Auseinandersetzung gelitten hat. "Nein, die war noch nie so intensiv wie dieses Mal. Was ein bisschen zu kurz kam, war die politisch-strategische Debatte zum Beispiel über eine gemeinsame Organisierung der bisherigen Teilbereichsbewegungen Antira und Antifa. Das Interesse an der Diskussion um Zusammenarbeit und an antifaschistischen Themen ist aber ganz klar vorhanden, wie ja auch die eigenen Antifaaktionen zeigen, die in diesem Jahr gerade gesellschaftliche Zusammenhänge und die rechte Mitte thematisierten" meint Manja vom BGR Leipzig. "Die großen inhaltlichen Diskussionsveranstaltungen auf dem Camp selbst, dienten natürlicher eher der Information und Vermittlung des Diskussionsstandes, was aufgrund der begrenzten Zeit und der vielen Aktions- und Organisationsspunkte auch gar nicht anders geht. Umso wichtiger waren die zahlreichen im Vorfeld auf Mailinglisten und den Vorbereitungstreffen und in den Workshops auf dem Camp geführten Debatten und die sie begleitenden Diskussionsmaterialien wie die Zeitung zur Podiumsdiskussion "Jeder Mensch ist ein Experte" , die Diskussionen über das Camp hinaus anschieben. Dazu gehören auch neuangeregte Kampagnen und Projekte wie das, eine von Antira- und Antifazusammenhängen organisierte Demonstration gegen das Ausländerzentralregister in Köln zu machen."

Im Zusammenhang mit den zahlreichen Aktionen und Diskussionen zu Genua, zur ZwangsarbeiterInnenentschädigung, zur Einwanderungsdebatte, zur Residenzpflicht oder auch zum Umgang mit Sexismen bot das 4. Grenzcamp ein thematisches Spektrum, in dem zwar die Heterogenität der verschiedenen Gruppen und AktivistInnen überdeutlich wurde, dessen Vielfalt aber nicht als einfache Beliebigkeit abgewertet werden kann. So auch die Einschätzung der Vorbereitungsgruppe aus Hanau: "Der rote Faden war unseres Erachtens durchweg erkennbar, doch wer inhaltliche Homogenisierungen oder gar die Entwicklung gemeinsamer Perspektiven erwartet hatte, mußte enttäuscht bleiben. Solcherart Anspruch an das Grenzcamp sahen wir allerdings von vornherein als Überforderung, denn die unterschiedlichen Ansätze und Herangehensweisen, auch die Konkurrenzen und Eitelkeiten waren und sind absehbar zu groß und stark. Das Camp kann wenig mehr als ein vielfältiger antirassistischer "Treffpunkt" sein, selbstverständlich verwoben mit linksradikalen Verbindungslinien in antikapitalistische, antisexistische oder antifaschistische Richtung, aber doch nur als Raum, als Möglichkeit zum Austausch und Streit, und nicht zuletzt als Gelegenheit, praktische Erfahrungen zu entwickeln, auch jenseits oder trotz inhaltlicher Kontroversen".

Die Beteiligung von Flüchtlingen war zwar numerisch größer als in früheren Camps, aber prozentual kaum höher. Inhaltliche Schwerpunkte wurden zwar von den Flüchtlingsorganisationen gesetzt und im Camp aufgegriffen. Die Zusammenarbeit, wie gerade auch in der Vorbereitung des diesjährigen Camps spürbar, beinhaltet jedenfalls einige offene Fragen und benötigt dringend intensivere Kontakte. "Wo sich Flüchtlinge wie bei der Flüchtlingsorganisation The Voice am Camp und seiner Organisation beteiligen, besteht seitens der deutschen Antira oft die Unfähigeit mit Flüchtlingen und MigrantInnen gleichberechtigt umzugehen. Auf der einen Seite ist das ein Sprachproblem, die Übersetzung von Redebeiträgen, aber auch Diskussionsbeiträgen in schriftlicher Form müssen verbessert werden", beschreibt Britta von der Leipziger Vorbereitungsgruppe ein Manko der Diskussionskultur auf dem Camp. "Wir versuchen gerade die Übersetzung der Diskussionsbeiträge zur Einwanderungsdebatte zu koordinieren, um so eine Diskussion über rein deutsche Zusammmenhänge hinaus überhaupt zu ermöglichen. Aber das ist nur ein Schritt. Beispielhaft für bestehende Kommunikationsbarrieren ist die Sexismus/Rassismusdebatte, wo seitens der Flüchtlinge eine gemeinsame Veranstaltung über die spezifische nordamerikanische-europäische Sexismusdiskussion eingefordert wird, da sie die Standards und Definitionen von denen "wir" dabei automatisch ausgehen, oft gar nicht kennen".

Hinsichtlich eines möglichen 5. Grenzcamps kam von The Voice der Vorschlag, Thüringen zu wählen, da dort die Situation in den Heimen besonders schlimm ist und die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen intensiviert werden kann. Im Gespräch ist auch, im nächsten Jahr ein internationales antirassistisches Grenzcamp in Strasbourg durchzuführen, wo der zentrale Rechner des Schengener Informationssystems steht und europäisches Parlament und der europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihren Sitz haben. Die östlichen Aussengrenzen sollten deshalb nicht aus dem Blick verloren werden. Da aufgrund des Schwerpunktes "Innere Grenzen" Osteuropa dieses Mal kein Thema war, wäre es wichtig, daß nächstes Jahr mehr Menschen an die östlichen Außengrenzen der EU fahren, denn da wird es auf jeden Fall wieder ein Grenzcamp osteuropäischer Gruppen geben. All das sind zwar vorerst nur Überlegungen, sie bieten jedoch allesamt Chancen über den deutschen Antiratellerrand hinaus zukucken. In dieser Hinsicht ist das 4. Grenzcamp allemal zu toppen.

Saudade


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09.11.2003
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