~~==++ Antirassistische Gruppe Leipzig ++==~~
Beitrag im Schwerpunkt-Heft des CEE IEH Newsflyers "Kritik der Politik", Nr. 90 Juli/August 2002

Die neue Enthaltsamkeit

Wer die Hände in den Schoß legt, macht sich die Finger nicht schmutzig, meint die Kritik-Fraktion. Die PraktikerInnen hingegen glauben, dass die Finger schon schmutzig sind und gründlich gewaschen gehören. Da wir weder AnhängerInnen einer puritanischen Keuschheit noch des bürgerlichen Sauberkeitswahnes sind, plädieren wir dafür, die Hände ab und zu schmutzig werden zu lassen, unregelmäßig zu waschen & dann ausgiebig zu trocknen.

Die Antirassistische Gruppe Leipzig entstand im Herbst 2001, indem der unkontinuierlich arbeitende und personell unterschiedlich zusammengesetzte Zusammenhang, der alljährlich zu den antirassistischen Grenzcamps mobilisierte, in eine feste Gruppe transformiert wurde, deren Schwerpunkt auch dieses Jahr wieder die Vorbereitungs des Grenzcamps ist (http://www.nadir.org/camp02) – aber eben nicht mehr alleiniges Themenfeld (siehe auch http://www.nadir.org/nadir/initiativ/antira-leipzig).
Ein Resümee der Leipziger „Kritik versus Politik“-Debatte zu ziehen, fällt uns insofern schwer, dass wir, als diese Debatte losging, nämlich im Frühjahr 2001, als Gruppe noch gar nicht existierten. Danach wurde die Debatte in dieser Grundsätzlichkeit in Leipzig auch nicht mehr geführt, vielmehr vertiefte sich – unserer Wahrnehmung nach – der Bruch zwischen den verschiedenen Gruppen. Das allgemeine Schweigen wurde lediglich durch einige Kontroversen, die allerdings immer einen bestimmten thematischen Aufhänger (Antirassismus, Israel/Antisemitismus, AG Öffentliche Räume etc.) hatten, durchbrochen.
Die erste Auseinandersetzung ergab sich für uns, nachdem die Antinationale Gruppe Leipzig (ANG) in einer Veranstaltung den Antirassismus im allgemeinen und das Grenzcamp im speziellen angegriffen hatte (http://www.left-action.de/archiv/0110251531.htm). Dem Antirassismus wurde unterstellt, die Vervollkommung der Ausbeutung anzustreben, „ein Denken nach Auschwitz“ zu verhindern, Israel zu gefährden und als Erbe des Antiimperialismus den Antisemitismus und die deutsche Ideologie hoffähig zu machen. Dem Grenzcamp wurde eine ideologische/praktische Nähe zu den Attentätern des 11. September 2001 unterstellt. Wir veröffentlichten daraufhin ein Flugblatt mit Gegenthesen (http://www.nadir.org/nadir/initiativ/antira-leipzig/archiv/a16.htm – welche davon für uns noch Bestand haben, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden, es sei nur am Rande erwähnt, dass sich unsere Gruppenposition inzwischen weiterentwickelt hat) und trafen uns zu einem internen Gespräch mit der ANG sowie zu internen Veranstaltungen (über Wertkritik und Krisentheorie) mit einem Vertreter der ANG.

Wir denken, dass der grundlegenden Debatte über „Kritik versus Politik“, wie sie auf einer Veranstaltung im B12 zwischen dem Bündnis gegen Rechts (BGR) Leipzig (http://www.nadir.org/bgr) und dem "la fin du cercle" (http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ci/nf/77/25.html und http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ci/nf/78/22.html) ausgetragen wurde, nicht viel hinzuzufügen ist und auch in der weiteren Diskussion in Leipzig nicht viel hinzugefügt wurde.
Inzwischen hat sich lediglich deutlich gezeigt, dass es nicht um den Gegensatz von Kritik/Theorie und Politik/Praxis geht. Vielmehr geht es um richtige und falsche Theorie und richtige und falsche Praxis. Denn beide Fraktionen der Debatte betreiben schon immer, aber inzwischen ist dies besonders deutlich geworden, Kritik und Politik – oder kurz gesagt: kritische Politik und politische Kritik.
Wenn das BGR im B12 ausführt, dass „...wir Demonstrationen mögen, Kampagnen lieben, es total gut finden, zu linken Events zu mobilisieren. Wir finden auch Kongresse ganz geil und veranstalten deshalb solche...“, dann beschreiben sie genau die politische Praxis, zu deren größten AnhängerInnen inzwischen die VertreterInnen der ANG mutiert sind. Denn wer beteiligt sich an der Organisation von Kundgebungen gegen die FDP in Leipzig, initiiert Kampagnen für Israel, mobilisiert und fährt bundesweit
zu Kongressen und Demonstrationen gegen Antisemitismus und für Wertkritik? Gleichzeitig legt das BGR in seinen Ausführungen Wert darauf, schon immer eine theoretisch arbeitende Gruppe gewesen zu sein: „Da ist alles dabei: was zum Lesen und Überlegen, aber auch was zum Tun und zum Basteln. Deswegen ist die Trennung von Politik und Theorie, die durch den Flyer-Text zur Veranstaltungsankündigung aufgemacht wurde, nicht ganz so der Widerspruch, dem wir uns verpflichtet fühlen. Das heißt, wir machen diese Trennung von Theorie und Praxis nicht so auf, wie das auf dem Flyer steht. Wir sagen nicht, daß die Theoriefraktion unser Gegner ist, die wir bekämpfen müssen.“ Soweit wir dies einschätzen können, stimmt dies für das BGR bis 2001. Während die ANG im letzten Jahr allerdings zur hyperaktiven aktionistischen Gruppe geworden ist, scheint das BGR nur noch Kritik und Theorie zu betreiben. Von einer Demo oder einer Kampagne war schon lange nichts mehr zu vernehmen – zumindest seit dem 1. September 2001. Dahingegen wurde eine Veranstaltungsreihe organisiert, auf Demos werden lange Flugblätter verteilt und eine Zeitschrift wird mit herausgegeben.

Wenn es also nicht mehr um den Gegensatz von Kritik und Politik geht, sondern um den von „guter“ und „schlechter“ oder „falscher und richtiger“ Kritik und Politik, sind die zu verhandelnden Fragen plötzlich ganz andere. Die ANG sollte unseren Aufruf zum Grenzcamp inhaltlich auseinandernehmen und wir kritisieren im Gegenzug das Layout ihrer Plakate oder die roten Fahnen auf ihren Demonstrationen. Und natürlich auch andersherum: Die ANG übt Stilkritik an unseren Postkarten zum Grenzcamp und wir nehmen ihre Textkonglomerate auseinander. Oder: Die ANG verrät uns, wo es Adorno-Bücher und Israel-Fahnen günstig zu erwerben gibt, wir erklären im Gegenzug, wo es im Internet Marx zu lesen gibt und wie sie den auf ihrer eigenen Homepage verlinken können.

Die Fragen, den wir uns stellen müssen, lauten z.B.: Wie kommt es, dass, seitdem unser Blick aufgrund der ANG-Kritik geschärft wurde, viele Sachen innerhalb der Antira-Szene als Bestätigung dieser Kritik erscheinen? Warum ist uns das an einigen Punkten nicht eher oder nicht so deutlich aufgefallen? Lässt sich Rassismus aus dem Kapitalismus ableiten, wie ist die Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Verhältnissen? Oder konkret: Warum erscheint – um mal eine Verschwörungstheorie zu kultivieren – die aktuelle Ausgabe der linken antirassistischen Zeitschrift off limits aus Hamburg als von der ANG unterwandert: Mehrere Texte sind so krude antisemitisch und pro-palästinensisch, dass sie als Parodie der ANG erscheinen und nicht als antirassistische Wirklichkeit.

Die Fragen, die sich die ANG stellen müsste, lauten z.B.: Warum lassen sich nur einige ANG-Mitglieder den Blick dafür schärfen, dass zur kapitalistischen Totalität der Rassismus unabdingbar dazugehört und nicht von ihr aufgelöst wird? Warum polemisieren sie immer noch gegen den Antirassismus als Konzept schlechthin anstelle einzelne Gruppen, Positionen und Aktionen aufs Korn zu nehmen? Warum ist der Antisemitismus der einzige Widerspruch der Welt, der gegen alle anderen ausgespielt wird, warum sind die Juden die einzigen „Verdammten dieser Erde“, warum sollen wir Waffen für Israel sammeln und warum wird die kapitalistische Totalität immer nur auf die Wertkritik runtergerechnet?
Oder konkret: Warum geben sich einige aus der ANG mit ihrem provokanten Bezug auf platte rassistische Positionen innerhalb der Bahamas oder bei Christoph Türcke tabu-brecherisch gegen eine vermeintliche linke political correctness (eine Methode, die Walser besser beherrscht) und verhindern damit die notwendige Rezeption ihrer eigentlichen Inhalte. Oder warum wird die richtige Haltung, dass sich Kritik der Affirmation zu enthalten hat, so umstandslos bei der Solidarität mit der USA und deren Krieg gegen den Terrorismus aufgegeben und somit all jene verdammt, die nicht zwischen zwei Übeln wählen wollen?

Wir wollen uns im folgenden aber nicht an der Politik der ANG abarbeiten, da 1.) wir dies schon getan haben 2.) die permanente Kritik suggeriert, es gäbe unüberbrückbare Unterschiede zwischen uns (dabei ist der Streit eher Ausdruck der inhaltlichen Nähe) 3.) bei der Polemik sowieso nie klar ist, was die ANG ernst meint und was nur der Provokation willen, die das Nachdenken befördern soll, geschrieben wurde und 4.) uns das Treffen mit der ANG deutlich machte, dass die veröffentlichten Pamphlete nicht wirklich ANG-Position sind. (Es gibt keine ANG-Position. Die Heterogenität der ANG-Positionen, derer es so viele gibt, wie Mitglieder – und vielleicht sogar noch ein paar mehr –, scheint ein verwirrender Vorgriff auf den Kommunismus zu sein. Die progressive Abschaffung des Konsens-Prinzips ist ein wichtiger Erfolg der ANG. Allerdings begehen sie bei ihrer Veröffentlichungspraxis einen Etikettenschwindel, den sich nur eine Theorie-Gruppe erlauben kann: Was als ANG-Position veröffentlicht wird, wird wahrscheinlich nur von allen abgenickt, damit überhaupt etwas publiziert werden kann.)
Vielmehr wollen wir uns mit den im B12 referierten Thesen des „la fin du cercle“ (http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ci/nf/78/22.html – alle folgenden Zitate aus der Mitschrift des Referats) vom 03.03.2001 auseinandersetzen, weil diese allgemeinerer Natur sind, sachlicher daherkommen und gleichzeitig von einer größeren Borniertheit zeugen. Ausserdem hat die Gruppe „la fin du cercle“ eindrücklich unter Beweis gestellt, wie die Fetischisierung der Kritik sich selbst ein Bein stellt. Während die ANG bislang die Spannung zwischen Politik und Kritik der Politik erfolgreich aushält (d.h. beides betreibt), scheiterte „la fin du cercle“ wenig glorreich, mit ihren zaghaften Versuchen, Politik zu betreiben. Ihre Kampagne gegen den deutschen Umgang mit den Entschädigungszahlungen für ZwangsarbeiterInnen im Dritten Reich war eine Totgeburt. Nicht, weil „la fin du cercle“ die Kampagne für falsch hielten (wie sie Kampagnen generell für falsch halten müssten), sondern weil sie ihre propagierte Politikabneigung so verinnerlicht haben, dass sie unfähig waren, das Gewollte umzusetzen. Es ist nicht nur schade um ihre eigene Kampagne, sondern auch um alle anderen, die von der starken Leipziger Kritik-Fraktion und deren Jugendschar eher mit Häme als mit kritischer Solidarität begleitet werden.

Wir teilen die meisten Thesen von „la fin du cercle“ über die Notwendigkeit der Kritik und der Beschränktheit politischen Handelns. Wir teilen allerdings nicht die Thesen, die versuchen, einen Widerspruch zwischen linksradikaler Politik und ihrem Kritik-Ansatz aufzumachen.

„Praxis ist die Gesamtheit der bestehenden Verhältnisse, die Einheit der Gesellschaft und der Ideologie, die daraus entsteht. Sie ist letztendlich das, wozu wir kritisch stehen. Diese Gesellschaft ist verrückt.“
Es ist ein geschickter Schachzug der Gruppe, sowohl die Politik als auch die Theorie als Ausdruck der herrschenden Gesellschaft zu bezeichnen (und somit als grundsätzlich falsch darzustellen) – die Kritik jedoch als der Gesellschaft konträr gegenüberstehend zu definieren. Politik und Theorie ist dann per definition konstruktiv und affirmativ, Kritik hingegen destruktiv und systemüberwindend. Diese Begriffsklauberei wäre nicht weiter schlimm, würde nicht die eigene Politik, egal wie sie aussieht, unter der „Kritik“ subsumiert, die Politik anderer Gruppen jedoch unter der „Praxis“. Damit werden aus den Worten „Kritik“ und „Politik“ Kampfbegriffe, die den notwendigen Streit um die richtigen politischen Ansätze verhindern sollen. Wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt, dann gibt es auch keine richtige Kritik, denn auch jene entspringt unserem Denken, unserem Leben, den herrschenden Verhältnissen. Gleichzeitig besagt der Spruch von der Unmöglichkeit richtigen Lebens im falschen nicht, dass alles Leben gleich falsch sei. Es gibt sehr wohl weniger falsches und mehr falsches Leben (inklusive Politik, Theorie, Kritik) und wir wissen, für welches wir uns entscheiden. Wer diese Abstufungen für unbedeutend erklärt, kann nur auf die finale Krise warten, die Hände in den Schoß legen und alles unbeteiligt, aber kritisch, beobachten. Das ist ziemlich affirmativ. Natürlich ist die Gesellschaft verrückt (die Texte der Kritik-Fraktion sind leider öfters Ausdruck anstatt Kritik dieser Verrücktheit) – sich selbst dieser Verrücktheit durch eine begrifflichen Setzung zu entziehen und alle anderen für gleich verrückt zu erklären, hilft jedoch nicht wirklich bei der Überwindung des konstatierten Zustands.

Die bürgerliche Gesellschaft, so haben wir es zumindest von der ANG gelernt und sind dankbar dafür, trägt einerseits die Möglichkeit ihrer Überwindung in sich. Dies ist das fortschrittliche an ihr, was es zu verteidigen gilt (z.B. gegenüber religiösen FundamentalistInnen, AntisemitInnen, nationalistischen GlobalisierungskritikerInnen). Andererseits ist ihr die Gefahr der negativen Aufhebung ihrer selbst immanent (Nationalsozialismus etc.). Die Konsequenzen für die Linken liegen somit auf der Hand: Zum einen gilt es, die bürgerliche Gesellschaft über sich selbst hinauszutreiben, die Keime der Überwindung zu finden, zu pflegen und stark zu machen. Dies ist Politik, die es verdient, revolutionär genannt zu werden. Anderseits gilt es den „Rückfall in die Barbarei“ zu verhindern, die bürgerliche Gesellschaft also vor ihrer negativen Aufhebung zu bewahren und zu verteidigen. Dies wäre reformistisch. Beide Momente dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden; welcher überwiegt, hängt jedoch von der aktuellen politischen Lage ab. So wie es 1993 sinnvoll war, gegen Naziaufmärsche vorzugehen, so sinnlos ist es im Jahre 2002. So sinnvoll es 2002 ist, für Israel zu demonstrieren, so sinnlos mag es 2011 sein (so hoffen wir zumindest).

Nun sind „la fin du cercle“ zwar für den Kommunismus, begreifen ihn aber als eine „Gesellschaft die aus dem jetzt bestehenden überhaupt nicht zu denken ist“. Wenn wir allerdings den Kapitalismus überwinden wollen, müssen wir sehr wohl in der Lage sein, zu bestimmen, was der Überwindung dienlich sein könnte und was ihr hinderlich. Insofern ist es zwar richtig, dass der Kommunismus nicht am Reißbrett zu entwerfen ist – über ihn zu denken, muss aber möglich sein, andernfalls bleibt uns nur Fatalismus. Die Kritikfraktion könnte, würde sie sich selbst ernst nehmen, gar keine Kritik üben. Denn die Kritik wird immer von einem Standpunkt aus geübt. Selbst wenn dieser ungenannt bleibt, so ist er doch vorhanden. Kritisiert sie z.B. das Wertprinzip, dann transportiert sie gleichzeitig eine Idee davon, dass es auch anders gehen könnte. Dieses Anders-sein ist zwar nicht der Kommunismus, aber der Weg dahin. Ein Bilderverbot für den Kommunismus zu verhängen, verunmöglicht der Linken, zu wissen, wofür sie sich einsetzen soll, warum sie das Bestehende kritisieren soll, und macht blind, für Ansätze und Entwicklungen, die den Weg zu einer befreiten Gesellschaft weisen.

„Genau gesagt, will die Antifa mit den Mitteln der Gesellschaft, nämlich der Politik, diese Gesellschaft abschaffen.“ – Kritik ist auch ein Mittel der Gesellschaft. „Ihr Eingreifen in die Gesellschaft ist immer an Einzelbeispiele und einzelne Widersprüche geknüpft.“ – Die Kritik greift sich auch immer Einzelbeispiele und einzelne Widersprüche heraus, nur finden die sich meist in der Linken. Ehrlicher wäre also eine Strategiediskussion, ob erst die Linke veredelt werden muss, bevor sie die Gesellschaft verändern darf, oder ob dieser Prozess parallel verlaufen kann. „Entweder man beschäftigt sich mal mit Nationalismus oder anderentags mit etwas anderem.“ – Das stimmt. Die Kritikfraktion beschäftigt sich mal mit Antisemitismus, anderentags mit der Wertkritik, aber am nächsten Tag schon wieder mit Antisemitismus. Insofern sorgt die beschränkte Themenpalette für eine gewisse Übersichtlichkeit. „Die Antifa nimmt, indem sie Politik macht, am demokratischen Geschäft teil, obwohl sie das von sich weist. Die Antifa betrachtet die eigene Politik nicht als Partizipation an diesem demokratischem Geschäft, welches letzten Endes systemerhaltend und nicht sprengend ist.“ – Die Kritikfraktion nimmt auch am demokratischen Geschäft teil, obwohl sie das von sich weist. Sie nutzt die Meinungsfreiheit, indem sie Texte schreibt und Vorträge hält, sie nutzt die Demonstrationsfreiheit, indem sie demonstrieren geht, und die Gewerbefreiheit, indem sie Bücher und Zeitschriften herausbringt und verkauft. Sie ist systemerhaltend, weil sie allen einredet, dass eine geistige Anstrengung, eine Art Meditation, den Kapitalismus abschaffen könnte, bzw. in dem sie behauptet, der Kapitalismus lässt sich sowieso nicht abschaffen bzw. schafft sich selber ab.
Was für eine billige Polemik auf Kosten der Antifa. Das Renegatentum (die ReferentInnen stellen sich zu Anfang als ehemalige Mitglieder des BGR und der PDS vor) hat noch nie zu brillianten Einsichten, sondern lediglich zu langweiligen und bissigen Abgrenzungsritualen geführt.

„Mit der Politik wird das in Anspruch genommen, was der Staat bietet: das Recht auf Meinungsfreiheit und Teil der pluralistischen Gesellschaft zu sein. Damit produziert und reproduziert die Antifa das, was abgeschafft gehört.“
Die Meinungsfreiheit, von der die Kritikfraktion ebenso Nutznießerin ist, gehört nicht abgeschafft. Die Meinungsfreiheit im Kapitalismus ist einerseits in ihrer Funktionalität und Beschränktheit zu entlarven, anderseits in die befreite Gesellschaft hinüberzuretten. Nur weil der Staat Demonstrationen erlaubt, sind diese falsch? Und alles, was verboten ist, ist gut? Hinter einer solchen Auffassung verbirgt sich der falsche Militanz-Gestus der radikalen Linken, die Sachschaden mit Radikalität verwechselt. Genausowenig, wie wir uns darüber aufregen, dass die Kritik-Fraktion Bücher veröffentlicht, sollte sie sich über das Mittel der Demonstration mokieren. Wichtig ist der Inhalt: Was steht in den Büchern, was wird auf der Demonstration gesagt und gefordert. Eine Formkritik mag wichtig sein, ist aber nicht das primäre Unterscheidungsmerkmal für richtige und falsche Politik. Und selbst bei der Formkritik würde die Politik-Fraktion besser abschneiden. Denn eine Demonstration birgt nach außen in der Regel mehr (weil vielschichtigeres) subversives Potential in sich als die Lektüre eines Buches.

Der linken Suche nach dem revolutionären Subjekt wird entgegen gehalten, dass „die Geschichte gezeigt hat, daß es dieses revolutionäre Subjekt nicht gibt.“
Das ist natürlich Quatsch. Gerade historisch gesehen, gab es immer wieder revolutionäre Subjekte: das Bürgertum in den bürgerlichen Revolutionen, das Proletariat in den (real-)sozialistischen Revolutionen. Ob uns die jeweiligen Revolutionen gefallen haben, ist eine andere Frage. Wir sehen zwar momentan kein revolutionäres Subjekt und verspüren auch keine Lust, uns eins einzureden. Wir wissen auch nicht, ob es jemals wieder eins geben wird. Gäbe es aber eins, fänden wir das gut und würden gerne Teil davon sein, anstatt „ihm“ zu erzählen, dass es eine optische Täuschung (oder was auch immer der Kritikfraktion zur Erklärung dann einfällt) sei. Unsere Aufgabe ist es doch, die Möglichkeit eines „revolutionären“ Bewusstseins und Tatendrangs (nichts anderes macht ein revolutionäres Subjekt aus) wach zu halten und nicht zu erklären, dass sich das alles nicht lohnt.

„Bei den verschiedenen Widersprüchen anzusetzen und deren Lösungen zum Ziel der Praxis zu erklären, ist systemstabilisierend und nicht systemsprengend. Es weisen keine Widersprüche auf eine befreite Gesellschaft hin.“
Wenn keine Widersprüche auf eine befreite Gesellschaft hinweisen, dann geht es ja allen gut, wir warten vergnügt die „finale Krise“ ab und schauen erst danach, wie’s weitergeht. Widersprüche gibt es zuhauf. Ganz wertneutral kann gesagt werden, dass es eine Frage der politischen Intervention ist, wie die Widersprüche gelöst werden: Systemdestabilisierend, stabilisierend oder reaktionär. „Systemdestablisierend“ heisst nicht gleich „systemsprengend“. Die Frage, wie die befreite Gesellschaft erreicht werden kann, müsste die Kritik-Fraktion, sofern sie dieses Ziel noch verfolgt und Kritik nicht zum Selbstzweck verkommen soll, beantworten: Da es kein „revolutionäres Subjekt“ gibt, ist der große Knall, die Revolution, ausgeschlossen. Aber auch die schrittweise Überwindung der Gesellschaft ist verbaut, wenn jede Verbesserung und Veränderung als „systemstabilisierend“ verstanden wird. Dabei legt die Phrase von der bürgerlichen Gesellschaft, die über sich selbst hinausgetrieben werden müsste, schon nahe, wohin die Reise geht: Solange stabilisieren, bis es sich ausstabilisiert, d.h. grundlegend transformiert hat. Ein paar revolutionäre Umwälzungen dürfen dabei auch vorkommen, damit es nicht langweilig wird.

„Der einzigste Widerspruch, der sich für uns ergibt, ist der Widerspruch von dieser jetzigen Gesellschaft zu einer befreiten.“
Da die befreite Gesellschaft nicht zu denken sein soll – wie soll sich da ein Widerspruch zur jetzigen ergeben?

„Im Gegensatz dazu denken wir, daß es notwendig ist, Leiden in dieser Welt aufzugreifen und Verbesserungen zu erwirken. Bloß darf man sich mit solchem Wirken nicht einbilden, die Gesellschaft in Frage zu stellen. Wir wissen, daß die Linderung von Leiden auf dieser Welt wichtig ist. Aber wir wissen auch, daß ein Eingreifen in diese gesellschaftsimmanenten Widersprüche zugleich eine Reproduktion dieser Gesellschaft mit dem dann verbesserten sozialem Verhältnis bedeutet.“
Dieses Lippenbekenntnis klingt anbiedernd. In der Realität ist dies der Kritik-Fraktion nicht viel wert. Mit ihrer Verteuflung „praktischer Politik“ erklären sie alle, die Leid lindern, für dumm, auch jene, die sich nicht dabei einbilden, revolutionär zu sein. Auch die Behauptung, dass „Leid lindern“ das soziale Verhältnis verbessern würde, ist nicht erwiesen. Wer sagt uns, dass sich die „Leid-gelinderten“ nicht viel besser mit Kritik befassen können? Untergründig wird hier die Verelendigungstheorie aufgestellt: Nur wenn es den Menschen dreckig geht, sind sie revolutionär. Schon die Begriffswahl vom „Leid lindern“ macht deutlich, wie abscheulich sie das eigentlich finden. Das BGR spricht vielmehr von „Emanzipation und Selbstbestimmung“ und dem „Wunsch nach Freiheit und der Wunsch, nicht mitzumachen, bei dem, was gesellschaftlich als Mainstream passiert.“

„Wurmend für uns ist die derzeitige Ausweglosigkeit. Es zeigt sich keine revolutionäre Perspektive. Diese Einsicht ist eine sehr traurige Angelegenheit. Wir halten es aber für falsch, diesen Pessimismus zu übertünchen.“ „Gleichzeitig sagen wir, daß man einen unendlichen Optimismus im Leben an den Tag legen soll, weil es falsch wäre, an dieser Gesellschaft zu zerbrechen.“
D.h. also, dass wir politisch pessimistisch sein sollen, persönlich aber optimistisch. Das ist ziemlich eurozentristisch und esoterisch. Während die ganze Welt um mich herum krachen geht und wir resignierend postulieren, dass dagegen nicht anzukommen sei, reden wir uns ein, wie gut es uns wenigstens innerhalb der beschissenen Verhältnisse geht. Es gibt für die Kritik-Fraktion eben doch ein richtiges Leben im falschen: Uns geht es gut und wir haben nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei, denn wir machen uns die Finger nicht schmutzig („Am Ende soll immer das Nichtmitmachen stehen.“), leben mit klaren Gewissheiten, dass alles Scheiße ist und gerade deswegen auch so amüsant, und genießen hedonistisch das Leben: „Besinnung, Reflexion, Genuß, statt im Plenum zu versauern.“ Dass kollektive Formen der politischen Organisierung (das Plenum, die Demonstration) gegen den bürgerlichen Individualismus ausgespielt werden, ist unkritisch. Dass Politik als solche abgelehnt wird, ist reaktionär. Denn eine Kritik am falschen Bewusstsein der linken, alternativen oder sozialen Bewegungen darf nicht in der Distanzierung von diesen enden, sondern in der Aufhebung des falschen Bewusstseins innerhalb dieser. Es gibt kein Außerhalb der Gesellschaft. Wer meint, nicht mehr Links sein zu wollen, ist eben nicht besser als Links, sondern eben nur nicht Links, also Mitte oder Rechts. Wer in der Linken den Hauptfeind erkennt oder dies suggeriert, wiederholt die Sozialfaschismusthese, die der SPD unterstellte, schlimmer als die Nazis zu sein.

Abschließend möchten wir festhalten, dass wir Kritik gut finden. Zur Leipziger Kritik-Fraktion hingegen haben wir ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits wissen wir, dass wir ohne die Anregung dieser Fraktion, viele Diskussionen so nicht geführt, Erkenntnisse nicht gewonnen oder Bücher nicht gelesen hätten. Anderseits bemerken wir mit Erschrecken eine unreflektierte und verkürzte Rezeption der Texte der Kritik-Fraktion durch ihre AnhängerInnen, denen es weniger um Kritik als vielmehr um Verstöße gegen die „political correctness“ und das besinnungslosen Frönen der Wohlstandgesellschaft geht. Diese Entwicklung erschwert die Bedingungen politischer Arbeit in Leipzig. Ein zweites Problem sehen wir – allerdings nur bei Teilen der Kritik-Fraktion – darin, dass sowohl die Polemik als auch die abgehobene Schaumschlägerei, die sich für die Vermittlung nicht interessiert, die Spaltung der Linken vertieft, statt darauf zu setzen, die Linke von den eigenen Sachen zu überzeugen. Der bildungsbürgerliche Duktus, der die Lektüre von gewissen Büchern zur Grundlage für die Reflektion erklärt, entspringt dem Misstrauen gegenüber dem eigenen Leiden an der Gesellschaft. Uns geht es hingegen darum, dieses Leiden als Ansatzpunkt für die Vertiefung der Kritik zu nehmen – und nicht andersherum. Es mag zwar sauberer sein, erst Adorno zu lesen und dann am 1. Mai Steine zu schmeißen (der einzige Event, der von Teilen der Kritik-Fraktion dazu geadelt wurde, nicht systemimmanent zu sein!), realistischer scheint uns jedoch der umgekehrte Weg.

Die DäumchendreherInnen von der
Antirassistischen Gruppe Leipzig

antira-leipzig@nadir.org

P.S. Auf dem diesjährigem Grenzcamp gibt es übrigens Fleisch zu essen. D.h. die Vegan-Vokü-HasserInnen vom BGR und ANG könnten ihre Debatten aus dem letzten Jahr fortsetzen und der „Besinnung, Reflexion, (und dem) Genuß“ frönen. Wenn das kein Angebot ist!
P.S. II: Und noch ein Top-Angebot: Auf dem diesjährigen Grenzcamp gibt es übrigens von uns eine Veranstaltung zum Verhältnis von Kapitalismus und Rassismus. Wir geben uns Mühe, dass ihr in der Veranstaltung nicht versauert!

Nachwort: Baden gehen

    „In weiten linken Kreisen, in Deutschland wie anderswo, ist bereits in jeder Bemerkung, die theoretisch sein will, ein Hinweis auf dieses Buch [Empire] so obligatorisch wie einst ein Maozitat.“ (Krisis 25, S. 121)
Fürwahr: Nicht nur Mao war für gute Zitate (und schlechte Theorie) berühmt, auch in dem abgrundtiefen Kitsch von Negri und Hardt lassen sich einige Schmückstücke finden:
    „Diese Verweigerung ist ohne Zweifel der Beginn einer Befreiungspolitik, aber sie ist eben nur der Anfang. Die Verweigerung als solche ist leer [...] Auch politisch gesehen führt die Verweigerung als solche [...] lediglich in eine Art gesellschaftlichen Selbstmord.“ (S. 216)
In weniger weiten linken Kreisen ist ein Hinweis auf die Krisis so fakultativ wie einst der Lateinunterricht:
    „Unverständlicher Kauderwelsch verkennt sich oft als höhere Eingebung. Dass ‘tausend jüngere seinen Jargon nachplapperten’, hatte schon Günther Anders zu Recht an den Adorniten gestört [...] Den Apologeten, den frischen wie den unfrischen, sei jedenfalls geflüstert: Wenn sie nichts verstehen, dann verstehen sie zumindest noch etwas, sollten sie aber tatsächlich etwas verstehen, dann verstehen sie wirklich nichts mehr.“ (Nr. 25, S. 8)
Was wir aber nicht verstehen, ist folgendes:
    „An diesem Samstag gehen einige Leute aus den berühmt-berüchtigten revolutionären Leipziger Laberkreisen baden. Ihr seid eingeladen: Treffpunkt [...] (von da aus starten Fußgänger, Rad- und Bahnfahrer zu einem gemeinsamen Treffpunkt am Cospudener See).“
    (E-mail eines Kritikers an seine Anhängerschar vom 13.6.2002)
Die Theorie geht baden? Wenn das mal keine Praxis ist. Eine Verstrickung in die Verhältnisse. Die Reinwaschung der Hände?

Leider ins Wasser gefallen ist bislang die Publizierung des klügsten ANG-Papiers „Gesten aus Begriffen“ (http://www.left-action.de/archiv/0206202056.htm):
    „Es stellt einen mittelschweren Irrtum dar, wenn angenommen wird, man hätte mit dem Label antideutsch die Linke überwunden. Abgrenzung ist keine Überwindung und Überwindung nicht nur Abgrenzung.“ (Februar 2002, S. 3)
In diesem Sinne könnten wir wirklich mal gemeinsam baden gehen...

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09.11.2003
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