veröffentlicht in: CEE IEH 87/02
Einleitende Bemerkungen zur Veranstaltung Abschiebehaft eine
deutsche Tradition
Veranstaltung für Jugendliche bis 21 im Tomorrow-café, B12, Braustr. 20 am 03.05.2002, 19:00
Die Bahamas und ihr Leipziger Ableger Antinationale Gruppe (ANG) behaupten
ja, dass Antirassismus per se antisemitisch ist und um das zu
beweisen, gebärden sie sich, die selbsternannten Anti-Antisemiten,
rassistisch (CEE IEH #82). Hätte sie im Matheunterricht der 4. Klasse (vielleicht war es auch die 5.) aufgepaßt, würden sie wissen, daß dieser Schluß jeglicher logischen Beweiskraft entbehrt und
somit nur ein Schuß in den Ofen ist.
Der wackere Martin versuchte mit seinem Artikel Die halbe Wahrheit ist die ganze Unwahrheit die Kohlen wieder aus dem Feuer zu holen (CEE IEH #84). Er leitet sowohl Antisemitismus als auch Rassismus aus dem Kapitalismus
ab, beschreibt beide jedoch als komplementäre Prinzipien der
Ideologieproduktion. Auf den Punkt bringt er es in seiner aktuellen
Veranstaltungsankündigung (Rassismus & Antisemitismus die
Ideologien der Biologisierung des Sozialen, 23.03.2002): Der
Jude und der Neger gelten dem bürgerlichen
Bewußtsein spiegelbildlich in der Form von Unmensch und
Übermensch....
Diese Theorie hat zwei praktische Implikationen für Martin und seine
AnhängerInnen. Erstens läßt sie sich direkt aus der Wertkritik
ableiten (die nachgeschobene Psychologisiererei im CEE IEH #85 ist da nur schmückendes Beiwerk), zweitens ist sie schön einfach (es gibt zwei Prinzipien, Über und Unter, und alles
läßt sich scheinbar eindeutig da einsortieren). Unpraktisch an der
Theorie ist für uns allerdings, daß sie sich nicht mit der
gesellschaftlichen Praxis des Rassismus und Antisemitismus in
Übereinstimmung bringen läßt zumindest nicht eins zu
eins. Wir wollen zwar Martins halber Wahrheit, die sie ja ist, nicht
unterstellen, die ganze Unwahrheit zu sein, ein paar Einwürfe
seien an dieser Stelle aber erlaubt.
Vorweg möchten wir betonen, daß es gewiß ein Theorie-Defizit
der deutschen, auch antirassistischen Linken bei Themen wie Rassismus und
Antisemitismus gab und gibt. Viele AntirassistInnen haben Antisemitismus als
eine Spezialform unter den Rassismus subsumiert, um sich nicht weiter mit ihm
auseinanderzusetzen. Der Verdienst von Martin, eingeschränkt aber auch der
von Bahamas und ANG, ist es, diese verkürzte Betrachtungsweise
aufzubrechen.
Die feinsäuberliche Trennung des Antisemitismus vom Rassismus geht aber zu
weit, wo jegliche Gemeinsamkeiten geleugnet werden oder gar behauptet wird, das
eine wäre das Gegenteil vom anderen. Nun zu unseren praktischen
Einwürfen. Die Denkfiguren von Über- und Untermensch
lassen sich nicht eindeutig dem Antisemitismus bzw. Rassismus zuordnen. Auch im
Rassismus spielen Unterlegenheitsvorstellungen (der Deutschen gegenüber
den anderen) eine wichtige Rolle und das nicht nur auf sexuellem Gebiet
(Die ... nehmen unsere Frauen weg). Anderseits funktionieren viele
antisemitische Stereotype mit rassistischen, kulturellen oder religiösen
Überlegenheitsvorstellungen gegenüber den Juden und Jüdinnen.
Antisemitismus selbst läßt sich zu weiten Teil als eine rassistische
Ideologie (zumal ja der Antisemitismus auch direkt rassistisch argumentiert,
nämlich die Rasse der Semiten der arischen Rasse
gegenüberstellt) beschreiben richtig ist nur, daß mensch es
nicht dabei belassen darf. Dies sei an drei Beispielen kurz erläutert.
1) Antisemitismus und Antiziganismus (der Haß auf Roma & Sinti)
wiesen bis vor ca. 100-150 Jahren sehr ähnliche Erklärungsmuster auf.
Ursprünglich auf religiösen Vorurteilen basierend, wurden sie in der
Moderne in Ideologien transformiert, die zur Formung des bürgerlichen
Subjektes notwendig waren. Sowohl Juden und Jüdinnen als auch Roma und
Sinti wurden übernatürliche, teufliche Kräfte angedichtet. Roma
und Sinti wurden z.B. für Spione fremder Mächte gehalten die
Tatsache, daß beide Bevölkerungsgruppen keinen eigenen Nationalstaat
besaßen, sondern sich in die jeweiligen Gesellschaften assimilierten und
somit das Nationen-Konzept in Frage stellten, dürfte eine Rolle bei der
Herausbildung ähnlicher Vorurteile gespielt haben. (Zum Weiterlesen
kompakt in: Rassismus in der Diskussion, Elefanten Press: 1999, S. 99 ff.;
ausführlich in: Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im
Vergleich, Elefanten Press: 1997)
2) Die Einwanderung von Juden und Jüdinnen aus Osteuropa in die Weimarer
Republik führte zu heftigen Reaktionen innerhalb der deutschen
Gesellschaft, inklusive der hier lebenden Juden und Jüdinnen. Wer sich die
damals geführten Diskussionen genauer anschaut, wird erkennen, daß
dabei rassistische und antisemitische Argumentationen völlig
unproblematisch verschmelzen konnten. Den einwandernden Juden und Jüdinnen
wurden keine übermächtigen Kräfte zugeschrieben, sondern ihre
Armut und vermeintliche Unzivilisiertheit provozierten eine
rassistische Politik, die auch, aber eben nicht ausschließlich (und schon
gar nicht von den integrierten Juden und Jüdinnen) antisemitisch
aufgeladen wurde. (Zum Weiterlesen kompakt in: Der Tradition
verpflichtet Eine kurze Geschichte der Abschiebehaft, ZAG Nr. 38/2000,
S. 18-22; ausführlich in: Maloche nicht Mildtätigkeit.
Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914 - 1923, Olms: 1995)
3) Die Debatte um illegalisierte Flüchtlinge enthält viele
Stereotype, die als antisemitisch bezeichnet werden können. Im
klassischen Rassismus gilt es, Ströme von
Flüchtlingen, je dunkler desto gefährlicher, abzuwehren. Der
vermeintliche Feind ist sichtbar, sowohl individuell als auch abstrakt in der
Statistik, und damit auch bekämpfbar: all die Instrumente der
Flüchtlingsabwehr dienen diesem Kampf. Der Illegale hingegen
lebt versteckt und unsichtbar mitten unter uns, bekocht uns im Restaurant oder
schuftet auf dem Bau ist nützliches Glied dieser Gesellschaft,
gleichzeitig untergräbt er jedoch auch unsere Gesellschaft.
Der Illegale ist in der Regel nicht schwarz, sondern so weiß
wie wir selbst, kommt aus Osteuropa und ist Teil der Organisierten
Kriminalität. Die OK ist allerdings das antisemitische Konstrukt der
heutigen Zeit schlechthin. Sie ist alles und nichts, unfaßbar, bedroht
uns alle und rechtfertigt alle geheimdienstlichen, polizeilichen und
politischen Mittel. (Zum Weiterlesen: Die Verschwörung der
Illegalen, iz3w 227/1998, S. 14-15)
Die Besonderheit des Antisemitismus liegt darin, im Rahmen des
Nationalismus das zu artikulieren, was jenseits dieses Rahmens ist: Nicht die
andere Nation, sondern die Nicht-Nation. (Außerhalb der
Völkerfamilie. Zum Verhältnis von Rassismus, Nationalismus und
Antisemitismus, iz3w, 259/2002, S. 40). Daraus leiten sich natürlich auch
Vorstellungen der Über- und Unterlegenheit ab. Die Unterschiede jedoch
darauf zu reduzieren und Gemeinsamkeiten zu verwischen, mag gut sein für
jene Linke, die es für Politik hält, israelischen Wein zu trinken,
und alle anderen Politikformen diskreditieren will uns jedoch sind
solche Erklärungsansätze zu platt.
In der Veranstaltung im Tomorrow-Café wollen wir ausführlicher auf
das zweite Beispiel in diesem Text eingehen und anhand der Geschichte der
Abschiebehaft seit den 20er Jahren in Deutschland aufzeigen, wie die
rassistischen und antisemitischen Diskurse um die Einwanderung der Ostjuden und
-jüdinnen die Grundlage für die bis heute gültige
AusländerInnenpolitik in Deutschland gelegt haben.
Antirassistische Gruppe Leipzig, Veranstaltungs-AG 4a
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