Gegen
die antisemitische Normalisierung
"Ab
heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen" läßt
Martin Walser in seinem neuen Roman »Tod eines Kritikers«
den sich beleidigt fühlenden Schriftsteller Hans Lach gegen
den Literaturkritiker André Ehrl-König alias Marcel
Reich-Ranicki ausrufen. Die verfolgende Unschuld erklärt dem
Juden in Notwehr den Krieg. Walser will, wie alle Antisemiten, die
Attacke als Verteidigung verstanden wissen: Sein Werk sei "kein
»Angriff«, sondern der Roman eines Autors, der 25 Jahre
lang brav zugeschaut" und jetzt "seine Erfahrungen in
seinen Roman verwandelt" habe (Die Welt, 30.5.02).
Die
imaginäre Demarkationslinie, die Walser jetzt überschreiten
will, hatte er sich anfangs selbst gesetzt und damit die Voraussetzungen
der westdeutschen Souveränität bis 1989 innerlich nachvollzogen
- die offizielle Abgrenzung von Antisemitismus und Nationalsozialismus.
Schon 1979 hatte Walsers Motto gelautet: "Wenn wir Auschwitz
bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen
Aufgaben zuwenden." (Händedruck mit Gespenstern) Acht
Jahre nach der deutschen Einheit schien die Zeit gekommen, das Ende
der Trauerarbeit vor der versammelten deutschen Elite öffentlich
zu machen. In seiner Rede anläßlich der Verleihung des
Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998 verkündete Walser,
die Nazivergangenheit eigne sich nicht mehr als "jederzeit
einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch
nur Pflichtübung". Die Aggression gegenüber der
vermeintlichen "Instrumentalisierung unserer Schande zu
gegenwärtigen Zwecken" (FAZ 12.10.98) macht sich gerade
an der Anerkennung der NS-Vergangenheit fest, die man den Jüdinnen
und Juden, die an sie erinnern, nicht verzeiht.
Darin,
dass Ignatz Bubis seinen einsam erhobenen Vorwurf der »geistigen
Brandstiftung« gegen Walser wieder zurücknehmen mußte,
erkannte die deutsche Öffentlichkeit die materielle Gewalt,
die im vereinten Deutschland die kulturindustriell inszenierte Innerlichkeit
des »unpolitischen« Dichters entfalten konnte: "Die
Walser-Bubis-Kontroverse zeigt, dass die Zeit der Vormundschaft
über Deutschland vorbei ist." (FAZ, 12.12.98) FAZ-Herausgeber
Frank Schirrmacher, der Walser inzwischen für einen Irräufer
der deutschen Normalisierung halten muß und jetzt in dessen
Freiheit "unsere Niederlage" sieht, äußerte
sich damals begeistert über Walsers "Abräumen
von Worthülsen, Meinungsschutt, überhaupt von fremder
und unfreier Rede." Diese "fremde und unfreie Rede"
repräsentierte die Beschränkungen, die die Alliierten
Deutschland 1945 auferlegt hatten. "Ende der Geschichte,
Ende der Nation, deutsche Teilung als verdiente Strafe, Der
Schoß ist fruchtbar noch und ewig so weiter".
(FAZ, 17.10.98)
Die
sehr konkreten imperialistischen Begehrlichkeiten konnten am Beginn
rot-grüner Vergangenheitspolitik nur in der Sprache des altdeutschen
Literaten formuliert werden. "Nichts macht so frei wie die
Sprache der Literatur", formulierte Walser in seiner Friedenspreisrede
und Kanzler Schröder sekundierte ihm: "Ein Dichter
darf so etwas. Ich dürfte das nicht." (Zeit 6/99)
»Emanzipation der Demokraten«
Genau
darum, ob der nächste Kanzler "so etwas" darf,
geht der Streit um die Hetze Jürgen Möllemanns, für
den Antisemitismus seien "Herr Sharon und in Deutschland
Herr Friedmann mit seiner intoleranten, gehässigen Art"
verantwortlich. (ZDF, 16.5.02)
Bei
der »demokratischen Kontroverse« um Möllemanns
antisemitische Ausfälle handelt es sich im wesentlichen nicht
um eine Auseinandersetzung zwischen Antisemiten und Antisemitismus-Kritikern,
sondern um einen weiteren Schritt zur Etablierung des offenen Antisemitismus
als legitimen Bestandteil des offiziellen Meinungspluralismus. Mögen
einzelne Prominente aus der FDP wie Hildegard-Hamm Brücher
den Antisemitismus auch aus prinzipiellen Gründen ablehnen,
so zeigt z.B. das Auftauchen von Otto-Graf Lambsdorff unter den
Möllemann-Kritikern an, dass es vor allem um die Sorge geht,
Möllemann könne mit seiner Strategie über das Ziel
hinausschießen. Schließlich hatte Lambsdorff seinerzeit
in der Entschädigungsdebatte um die NS-Zwangsarbeit nicht mit
antisemitischen Klischees gegeizt, wurde aber nirgends ernsthaft
dafür kritisiert.
Möllemanns
und Walsers Aussagen entfalten ihre volle Wirkung erst im Rahmen
einer deutschen Selbstverständigungsdebatte, in der ihre Ausfälle
zum Anlaß genommen werden, die seit 1945 durch sekundären
Antisemitismus geprägte eigene Differenz zu »den Juden«
neu zu bestimmen und in die »tabubrecherische« Offensive
zu gehen. Das gezielte Herbeireden real gar nicht existierender
Denk- bzw Sprechverbote, also angebliche Tabus zu konstruieren,
die dann mutig zu brechen wären, hat eine lange Tradition.
Seit 1945 versteckt sich der Antisemitismus in Deutschland auch
hinter der Behauptung, »man dürfe ja nichts mehr gegen
Juden sagen«.
Aber
auch demokratische KontrahentInnen von Möllemann und Walser
halten Variationen zum Thema bereit. In einem Kommentar der taz
macht erst der Antisemitismusvorwurf den Antisemitismus. Und das,
obwohl der Autor schreibt, dass Walsers Buch "eine plumpe
Spekulation mit antisemitischen Klischees" sei. Aber gerade
deshalb gilt jetzt "Schluß mit dem Skandalspiel!",
"denn wer nun »Antisemitismus« ruft", bediene
"nur jene medialen Schwungräder, ohne die Walsers »Tod
eines Kritikers« wäre, was es [sei]: eine öde Persiflage
auf den Kulturbetrieb". (1./2.6.02) Der Antisemitismusvorwurf
stellt das wirkliche Tabu in der öffentlichen Auseinandersetzung
dar, auch wenn die Indizien für Antisemitismus evident sind,
denn, so Guido Westerwelle, "man macht in Deutschland keinen
Wahlkampf mit Antisemitismus, aber auch nicht mit dem Vorwurf des
Antisemitismus gegenüber Demokraten". (Rede im Deutschen
Bundestag am 28.5.2002)
Die
»Emanzipation der Demokraten«, die Möllemann in
puncto Israel und Antisemitismus gegen die traditionelle Politik
durchsetzen will, findet dort längst statt: Jamal Karsli, Möllemanns
ehemaliger Fraktionsfreund, der sich von einer "zionistischen
Lobby" verfolgt sieht, war jahrelang Abgeordneter der Grünen.
Norbert Blüm findet die deutsche Geschichte im "Vernichtungskrieg"
Israels gegen die Palästinenser wieder. Die PDS entdeckte schon
vor längerem ihre Liebe zur Nation und ist sich nun einig darüber,
dass von der Ablehnung von UNO-Militäreinsätzen im Falle
Israels eine Ausnahme gemacht werden muß. Und schließlich
war es Gerhard Schröder selbst, der erst vor wenigen Wochen
Martin Walser anläßlich des 57. Jahrestages der deutschen
Kapitulation in die SPD-Zentrale einlud, damit der Dichter dort
erzähle, was der Kanzler vermeintlich nicht darf. Dass ein
Teil der radikalen Linken mit ihren antizionistischen Parolen kaum
noch Aufsehen erregt, liegt lediglich daran, dass diese längst
ins Repertoire des politischen Establishments übergegangen
sind.
Nach
1945 war das kollektive Beschweigen, Leugnen und Verdrängen
der NS-Vergangenheit, die Selbststilisierung der Deutschen zu Opfern
und Verführten die Voraussetzung für ein nationales »wir«.
Nach dem Anschluß der DDR hemmte diese Verdrängung jedoch
die souveräne Machtentfaltung des neuen Deutschland. Walser
hatte vollkommen recht gehabt: Die "Bewältigung"
der deutschen Verbrechen war die Voraussetzung dafür, sich
wieder "nationalen Aufgaben" zuwenden zu können.
Trotz der Erfolge Kohls bezüglich der deutschen Machtentfaltung
zeigte sich in den 90er Jahren schnell, dass die Union sich unfähig
zeigte, die Konsequenzen einer "Vergangenheit, die nicht
vergeht" (Ernst Nolte) zu überwinden. Diese Aufgabe
übernahm die rot-grüne Reformalternative.
Standortvorteil
»Vergangenheitsbewältigung«
Die
Voraussetzung für die rot-grüne Geschichtspolitik war
die gesellschaftliche Durchsetzung der Totalitarismustheorie nach
1989. Der Vergleich der abgewickelten DDR mit dem Nationalsozialismus
und die Umgestaltung der ostdeutschen KZ-Gedenkstätten zu Mahnmalen
des Totalitarismus legten den Grundstein für weitergehende
Neuinterpretationen der deutschen Geschichte.
Die
erste Station zur Schließung der Leerstelle, die der verdrängte
Nationalsozialismus in der deutschen Identität hinterließ,
war die von konservativer und rechtsradikaler Seite heftig bekämpfte
Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« des Hamburger
Instituts für Sozialforschung. Diese wurde unter tätiger
Mitwirkung der Ausstellungsmacher zum Anlaß genommen, einen
»Dialog der Generationen« zu inszenieren, in dem Täter
und Opfer zu »Zeitzeugen« gemacht wurden, was umgehend
zur Empathie mit Vätern und Großvätern, zu Dialog
und Aussöhnung mit der Tätergeneration führte. Die
Tatsache, dass hunderttausend Deutsche diese Ausstellung gesehen
hatten, wurde schnell zum Beweis erhoben, dass die Deutschen nun
die Rolle der Wehrmacht und den NS aufgearbeitet hätten.
Nur
so konnte der historische Ballast des Vernichtungskrieges in Osteuropa
abgeworfen und die Bundeswehr »geläutert« zum Krieg
gegen Jugoslawien gesandt werden. Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz
und dem deutschen Vernichtungskrieg ergab sich eine scheinbar besondere
Verpflichtung der Deutschen, Krieg gegen Jugoslawien zu führen.
Mit den Holocaust-Vergleichen von Scharping, Fischer und anderen
dokumentierte Deutschland seinen imaginären posthumen Seitenwechsel
zu den Alliierten des 2. Weltkriegs. Im Kampf gegen die "serbische
Volksgemeinschaft" (Götz Aly) wurde deutsche Vergangenheitsbewältigung
an Jugoslawien exekutiert.
Die
allgemeine Erinnerung endet dann, wenn diese Erinnerung an die deutsche
Geschichte materielle und politische Konsequenzen fordern könnte,
die nicht ins neue deutsche Selbstbewußtsein passen. Der Entschädigungsfond
für die NS-Zwangs- und SklavenarbeiterInnen war von deutscher
Seite aus ausdrücklich als finaler Schlussstrich unter sämtliche
materiellen Forderungen der NS-Opfer gedacht. Anlässlich der
Feststellung der Rechtsicherheit für deutsche Unternehmen im
Bundestag sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder, mit der Entschädigung
ehemaliger ZwangsarbeiterInnen sei "das letzte grosse, noch
offene Kapitel unserer historischen Verantwortung schließlich
doch zu einem guten Ende" gebracht worden. (zit. n. Spiegel
30.5.01)
Sowohl
die Entschädigungsdebatte als auch der antifaschistisch legitimierte
Krieg gegen Jugoslawien und die damit einhergehende Umwertung der
Shoah zur »ethnischen Säuberung« riefen die Berufsvertriebenen
in Deutschland und Österreich auf den Plan. Diese sahen sich
von Revanchisten zu Menschenrechtsaktivisten geadelt und fordern
nun für sich ein »Zentrum gegen Vertreibungen«
in unmittelbarer Nähe der geplanten Holocaustgedenkstätte
in Berlin und Entschädigung von den ehemals von Deutschland
okkupierten Ländern. "Im Grunde ergänzen sich
die Themen Juden und Vertriebene miteinander. Dieser entmenschlichte
Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum
sein", so die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen
Steinbach (zit. n. Konkret 7/00)
Nicht
mehr das nach deutscher Rechtsauffassung immer noch gültige
Münchner Abkommen von 1938 zur erpressten Abtretung der Sudetengebiete
an Nazideutschland steht zur Disposition, sondern die Benes-Dekrete,
die die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung als Reaktion
auf deren Kollaboration mit den Nazis bestimmten. Der vom Bundeskanzler
ins Spiel gebrachte Einsatz von Bundeswehrtruppen in Israel wird
im rot-grünen Kabinett als "Schlussstrich von außen"
(FR 9.4.02) gefeiert. Die Entlarvung Israels als Staat der »Ewiggestrigen«,
die im Gegensatz zu Deutschland nichts aus der Vergangenheit gelernt
hätten, ist die Krönung deutscher Vergangenheitsbewältigung.
So hat sich in den letzten Jahren ein völlig neuer Typus deutscher
Vergangenheitsbewältigung herausgebildet - stolz wird heute
auf den Standortvorteil einer scheinbar »gründlichen
Aufarbeitung« der NS-Verbrechen verwiesen.
Der
Revolutionär und Auschwitz-Überlebende Jean Améry
schrieb 1966 über die deutsche Zukunft:
"Was
1933 bis 1945 in Deutschland geschah, so wird man lehren und sagen,
hätte sich unter ähnlichen Voraussetzungen überall
ereignen können - und wird nicht weiter insistieren auf der
Bagatelle, dass es sich eben gerade in Deutschland ereignet hat
und nicht anderswo. (...) Alles wird untergehen in einem summarischen
»Jahrhundert der Barbarei«. Als die wirklich Unbelehrbaren,
Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre
im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als
Betriebspanne wird schließlich erscheinen, dass immerhin manche
von uns überlebten" (Jenseits von Schuld und Sühne).
Dass dieser Zustand derartig schnell eintreten würde, hätte
er vielleicht nicht erwartet.
Der
demokratische Dissens darüber, ob Antisemitismus ein legitimes
Wahlkampfmittel ist, oder nicht, und die Welle der Zustimmung für
die literarischen Mordphantasien eines Martin Walser zeigen den
aktuellen Stand nationalen Selbstbewußtseins in Deutschland.
"Kein
ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz." (Walser) und
genau deswegen muß es jetzt wieder möglich sein, den
jüdischen Intellektuellen als todeswürdigen Zersetzer
deutschen Geistes zu beschreiben. "In dieser Breite und
Tiefe hat eine aufklärerische Selbstverständigung über
die Untaten der nationalen Vergangenheit nirgends stattgefunden.
Wer diese offenkundige zivilisatorische Leistung ignoriert, muss
sich nach seinen Motiven fragen lassen" (FR, 22.3.02).
Dieser neue Common Sense kann in der Logik der deutschen Normalisierung
nach innen und außen nur heißen, dass neben Tschechien
oder Serbien sich jetzt auch der Staat der jüdischen Überlebenden
der praktischen Kritik Deutschlands stellen soll.
Wer
heute "ganz cool und Up To Date sein möchte",
stellte Henryk M. Broder kürzlich fest, "der verurteilt
zuerst »die Verbrechen der Nazis«, distanziert sich
vom »Rassismus jeder Art«, um anschließend zu
fragen, warum denn die Juden beziehungsweise die Israelis aus der
Geschichte nichts gelernt hätten. Der aufgeklärte Antisemit
hat ein großes Anliegen an die Juden: dass sie endlich aufhören,
sich danebenzubenehmen. Sonst muss er nämlich böse werden."
(Spiegel 22/02)
Es
kann nicht darum gehen, sich im sogenannten »Antisemitismusstreit«
für politisch korrekte und standortkompatible Sprachregelungen
einzusetzen. Wir greifen die Dynamik der nationalen Selbstfindung
an, die auch und gerade in ihrem demokratischen Vollzug Antisemitismus
produziert.
Gegen
den demokratischen Antisemitismus.
Initiative gegen
Antisemitismus | Kontakt: gegen_antisemitismus@freenet.de
|