Konservative
Briten lieben das Pfund und ihre Insel, den Euro und die Deutschen
mögen sie hingegen nicht. "Von Brüssel und Berlin geht
für die heutige Generation von Briten eine Bedrohung aus. Die
fremde Oberherrschaft bedroht unsere Lebensweise", zitierte die
Tageszeitung The Times aus einer Rede, die der konservative Unterhausabgeordnete
Sir Peter Tapsell im Frühjahr bei einem Wahlkampfauftritt hielt.
Seine Partei, die Tories, hatten versucht, den Wahlkampf in ein
Referendum über die Einführung des Euro umzufunktionieren.
Und Tapsell brachte die Argumente gegen den Euro wohl am deutlichsten
zum Ausdruck.
Er
lehne den Euro entschieden ab, da bereits die Nazis eine gemeinsame
Währung für Europa geplant hatten, sagte Tapsell. Seine
Sorge vor einem deutschen Europa sah er durch die "Visionen"
des deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder bestätigt.
Dieser
hatte Anfang Mai in einem SPD-Programmentwurf vorgeschlagen, eine
Art europäische Regierung zu etablieren und die EU nach deutschem
Vorbild in eine Staaten-Föderation auszubauen. "Wir haben Hitlers
'Mein Kampf' vielleicht nicht rechtzeitig gelesen, aber jetzt haben
wir um Himmels willen keine Ausrede, den Schröder-Plan nicht
zu studieren", sagte Sir Peter bei seinem Auftritt. Schröders
Vorschläge seien nichts anderes als ein "Germanischer Generalplan"
zur Beherrschung Europas.
Nun
sind die Tories sicherlich nicht die beste Referenz, wenn es um
eine emanzipatorische Kritik an der EU geht. So profilierten sich
die Konservativen während des Wahlkampfes mit der These, dass
die britische Rasse wegen der vielen Einwanderern "bastardisiert"
sei und verlangten eine Verschärfung des Asylrechts, die selbst
den deutschen Innenminister Otto Schily neidisch machen würde.
Dennoch stellen manchmal auch die falschen Leute aus den falschen
Gründen die richtigen Fragen: Also, ist die EU ein deutsches
Projekt? Stimmt die "Vision", dass sich die EU unter deutscher Führung
zu einem neuen europäischen Superstaat entwickelt?
Kurz
vor der Einführung des Euro sprachen wir schon einmal über
diese Frage. Damals diskutierten einige Jungle World-Mitarbeiter
bei einem Redaktionsbesuch in Kopenhagen mit dänischen EU-Gegnern.
Die EU-Befürworter argumentierten, die gemeinsame Währung
sei eine Möglichkeit, Deutschland an die kurze Leine zu nehmen.
Die Alternative sei hingegen die Fortsetzung des deutsches Sonderwegs
- ein deutscher Machtblock (inklusive Österreich und einige
ehemalige Ostblockländer) - gegen die ehemaligen Alliierten
Frankreich und Großbritannien. Das Gelingen einer europäischen
Währung sei daher "eine Frage von Krieg oder Frieden", wie
Helmut Kohl es damals formulierte und damit sogar Zustimmung bis
in die radikale Linke erhielt.
Das
Gegenargument der dänischen EU-Gegner lautete: Nicht Deutschland
wird europäischer, sondern Europa deutscher. Die EU sei nicht
ein Einbindungsinstrument, sondern ein Sprungbrett für Deutschland,
um seine Interessen besser durchzusetzen. Die EU würde zwei
schreckliche Entwicklungen verbinden: Eine deutsche Hegemonie über
Europa und eine neoliberale Wirtschaftspolitik.
Vielleicht
ist jetzt, während des EU-Gipfels in Göteborg, ist eine
gute Gelegenheit, eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Und wenn man
ein vorläufiges Urteil zu fällen hätte, dann würde
ich sagen: Europa ist deutscher geworden.
Hat
Tapsell also doch recht gehabt? Ist Deutschland auf dem besten Weg,
zum dritten Mal in hundert Jahren den Kontinent zu dominieren? Zwar
nimmt der deutsche Einfluss zu, doch ist es meiner Ansicht nach
falsch, von einer einfachen Kontinuität der Nationalstaaten
auszugehen. Diese neue Ordnung resultiert historisch nicht, wie
eine weit verbreitete linke EU-Kritik behauptet, aus der Kontinuität,
sondern aus der nach zwei Weltkriegen offensichtlich gescheiterten
deutscher Hegemonialpolitik. Der "Germanische Generalplan"
zur Unterwerfung Europas ist - im Gegensatz zu Tapsells Meinung
- 1945 in Berlin vorerst gescheitert.
Erst
diese Niederlage - und die damit verbundene "Aussöhnung mit
dem französischen Erbfeind" - ermöglichte die Integration
Deutschlands in die EU und den damit seit 1989 verbundenen Aufstieg
zu einer neuen Weltmacht. Die deutsche Hegemonievorstellungen beruhen
nicht mehr auf der Gegnerschaft zu den ehemaligen europäischen
Alliierten, sondern auf der Kooperation mit ihnen.
Diese
Kooperation - in erster Linie mit Frankreich - ist wiederum nur
möglich, wenn es zumindest eine parzielle Übereinstimmung
der Interessen zwischen den EU-Kernländern gibt. Zumindest
müssen Frankreich und Großbritannien einige Vorteile
darin sehen, sich in eine Kooperation mit Deutschland einzulassen.
Nach welchem Muster funktioniert also diese neue Ordnung?
II.
Wirklichkeit: Konzentrische Kreise
"Wenn
wir für die Einigung Europas und die EU eintreten, praktizieren
wir nicht idealistische Selbstlosigkeit, sondern verfolgen eigene
praktische Interessen". Diese Aussage des ehemaligen deutschen Außenministers
Klaus Kinkel von 1992 beschreibt nicht nur das deutsche Selbstverständnis
gegenüber der EU, sondern würde von seinen europäischen
Kollegen vermutlich ähnlich formuliert. Nicht die Betonung
eines gesamteuropäischen Interesses oder das Streben nach einem
"Superstaat", in dem die einzelnen Nationen aufgehen, steht im Mittelpunkt.
Im Gegenteil: die EU wird als ein Instrument angesehen, mit der
die jeweiligen nationalstaatlichen Interessen besser durchgesetzt
werden können.
"Eine
Isolation von Europa ist nicht patriotisch, sondern die Verleugnung
unseres wahren nationales Interesses", erklärte New Labour-Chef
Tony Blair während des Wahlkampfes in Großbritannien.
Europa stelle "eine einmalige Gelegenheit für Einfluss und
Führerschaft auf der Weltbühne in vitalen Fragen unseres
nationalen Interesses dar. Wahrer Patriotismus heißt zuerst
Aufstehen für das britische nationale Interesse", sagte er
- und meinte damit die Integration in die EU.
Dieser
"moderne Patriotismus", wie Blair es nannte und der damit den traditionellen
"proud to be british"-Konservativen im Wahlkampf den Boden entzog,
bringt das Verhältnis zwischen EU und Nationalstaat gut zum
Ausdruck. Die europäische Integration bedeutet keinen Verzicht
auf nationalstaatliche Macht, sondern die Ausweitung ihrer Spielräume.
Dies erklärt auch, wieso der Nationalismus in der vergangenen
Dekade zugenommen hat - obwohl doch ständig von dem Bedeutungsverlust
des Nationalstaates die Rede war.
Dabei
handelt es sich nicht um eine bloße Fortsetzung nationaler
Hegemonievorstellung, im europäischen Integrationsprozess bildet
sich vielmehr allmählich eine neue Herrschaftsordnung heraus.
Von
Beginn an war die EU vor allem ein Zusammenschluss ökonomischer
Interessen. Die EU-Integration begann mit der Montan-Union, später
folgte die Zoll- und die Währungsunion. Sie basiert auf der
Einsicht, dass sich seit dem Ende des zweiten Weltkrieg wirtschaftliche
Interesse in zunehmende Maße nur noch gemeinsam mit anderen
Staaten realisieren lassen. Die EU wurde gegründet, um (a)
einen eigenen homogenen Binnenmarkt einzurichten, (b) um eine Währung
zu etablieren, die auf dem Weltmarkt mit dem US-Dollar konkurrieren
kann. Hier liegen die gemeinsame Interessen der Euro-Staaten. Der
wirtschaftliche Zusammenschluss kann aber nur funktionieren, wenn
er von einer politischen Integration begleitet wird.
Diese
Kooperation erfolgte nach einer klaren Hierarchie, die der ehemalige
CDU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble und der außenpolitische
Sprecher der CDU, Karl Lamers, bereits in den achtziger Jahren mit
ihrer Kerneuropa-These formulierten. Außenminister Joseph
Fischer hat sich in seiner Europarede, der er vergangenes Jahr in
der Berliner Humboldt-Universität hielt, explizit darauf bezogen
und auch Schröders "Vision" von Europa basieren auf dieser
Konzeption.
Demzufolge
bildet Deutschland und Frankreich (sowie die Benelux-Staaten) den
Kern des EU-Projekts. Der viel zitierte "deutsch-französische
Motor" bildet, in Abstimmung mit Großbritannien, den
Antrieb des EU-Projekts und legt auch fest, wohin die Reise geht.
Dann folgt lange nichts. Erst mit großem Abstand läuft
die zweite Garnitur der EU dem Führungsgespann hinter
die restlichen Mitgliedsstaaten, angeführt von Italien und
Spanien. Der dritte Kreis bilden die potenziellen Neuzugänge
aus dem Osten. Der vierte Kreis sind die neuen Einflusszonen: Der
Mittelmeerraum (inklusive Algerien), Süd- und Osteuropa, der
Nahe Osten und Lateinamerika.
Die
jeweiligen nationalen Interessen lösen sich nicht auf, sondern
werden von innen nach außen durchgesetzt. In den diversen
zwischenstaatlichen Gremien werden die Konzepte entwickelt und abgestimmt.
Während in der Nachkriegszeit die Union vor allem auf den Ausgleich
zwischen Deutschland und Frankreich basierte, hat sich seit 1989
das Gewicht eindeutig nach Berlin verlagert.
Spätestens
mit dem Gipfel in Nizza im vergangenen Dezember hat sich Deutschland
seinen maßgeblichen Einfluss auf politischer Ebene gesichert.
Dort erreichte die deutsche Delegation weit größere Zugeständnisse,
als sie selbst erwartet hatte. Entscheidungen im Ministerrat müssen
künftig (neben 74 Prozent der Ratsstimmen und 50 Prozent der
Staaten) auch mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
Deutschland kann auf dieser Grundlage nun als einziges Land gemeinsam
mit nur zwei weiteren EU-Staaten (eines jede Entscheidung blockieren.
Zusätzlich wird die deutsche Vertretung im Europäischen
Parlament ausgeweitet. Nach dem Vertrag von Nizza ist Deutschland
der mit Abstand mächtigste Staat in der Union. "Die Zeiten,
da Deutschland ein wirtschaftlicher Riese und ein politischer Zwerg
war, sind längst vorbei", kommentierte Le Monde damals den
Sieg von Gerhard Schröder.
Um
bei dem Bild der konzentrischen Kreise zu bleiben, so bildet sich
Deutschland als der eigentliche Kern der EU heraus, der seine Entscheidungen
mehr und mehr im Alleingang trifft und sie erst anschließend
mit Frankreich abstimmt. In diesem Sinne stimmt die Aussage, dass
die EU deutscher wird.
Diese
Entwicklung lässt sich an den wichtigen Entscheidungen der
letzten zehn Jahren verdeutlichen.
1.
In der Wirtschaftspolitik. Hier ist die EU weitgehend der Stabilitätspolitik
der Deutschen Bundesbank gefolgt und auch die Europäische Zentralbank
unter Wim Duisenberg folgt eindeutig dieser deutschen Position.
Damit hat sich Deutschland gegen die keynesianische Inflationspolitik
der südlichen EU-Länder und Frankreich durchgesetzt. Deren
Wirtschaftspolitik verfolgte - kurz gesagt - die Strategie, durch
erhöhten Staatsausgaben und "Defizit-Spending" den Konsum in
Schwung und die Arbeitslosenzahlen niedrig zu halten. "Ein wenig
Inflation kann nicht schaden", lautete das Motto von Griechenland
bis nach Portugal. Das gilt nicht mehr. Für Deutschland hatte
die harte Mark bzw. ein stabiler Euro höchste Priorität.
2.
In der Sozialpolitik. In der Konsequenz wurden die so genannten
Maastrichter Kriterien verabschiedet. Seitdem gilt die soziale Deregulierung
europaweit als Masterplan. Schröders Aussage, es gebe "kein
Recht auf Faulheit", ist nur das (späte) Motto für die
europäische Sozialpolitik.
3.
In der Außenpolitik. Zweifellos hat sich die deutsche Interventionspolitik
auf dem Balkan als "erfolgreich" erwiesen: Von der Anerkennung Kroatiens
und Sloweniens bis zum Nato-Krieg im Kosovo. Und vermutlich war
der Kosovo-Krieg erst der Anfang. Nicht erst seit dem Besuch von
Außenminister Fischer in Israel lassen sich die europäischen
Bemühungen im Nahen Osten deutlich verfolgen. Seit geraumer
Zeit versucht die EU dort, die USA zu verdrängen. Wie es scheint,
ist sie auf dem besten Weg dazu. Im Juni gelang es ihr zum ersten
Mal, eigene Beobachter zu plazieren. Ein Prozess, der sich ähnlich
wie in Jugoslawien entwickeln könnte - von der Vermittlung
zu Beobachtern zur "Friedenstruppe". Gut möglich, dass in nicht
allzu ferner Zukunft die Debatte hier beginnt, ob nicht deutsche
Soldaten, gerade wegen der Vergangenheit, in Israel Frieden schaffen
sollen.
Zu
dem neuen außenpolitischen Einfluss gehört auch die Militärpolitik:
Deutschland ist maßgeblich beim Ausbau der WEU in eine Euro-Armee
und der Schaffung einer 60.000 Mann starken Task Force beteiligt;
sie ist wichtiger Bestandteil bei der Sicherung der europäischen
Einflusssphäre und ermöglicht Deutschland - siehe Kosovo
- künftig seine "Interesse" bis weit außerhalb Europas
militärisch abzusichern. Deutsche Soldaten auf dem Balkan,
vielleicht bald im auf dem Golan, wären ohne EU-Beteiligung
sicherlich undenkbar.
Eine
ähnliche Entwicklung gilt auch für Südamerika. In
Kolumbien empfiehlt sich die EU als Vermittler im Bürgerkrieg,
Kuba begrüßt euphorisch den Euro als Alternative zum
Dollar, Argentinien erwägt seine Einführung als Leitwährung.
In
Südosteuropa ist dies schon gelungen. Fast der gesamte ehemalige
Ostblock und der Balkan gehört mittlerweile zur Euro (bzw.
D-Mark)-Zone. In Montenegro ist die D-Mark offizielles Zahlungsmittel,
in Südosteuropa ist sie zur Leitwährung avanciert. Diese
Entwicklung wird sich mit der EU-Ost-Erweiterung noch verstärken.
4.
Im "Europa der Regionen". Gleichzeitig mit der neuen Expansion nach
außen gewinnt der Regionalismus an Einfluss. In Spanien wollen
die Basken einen eigenen Staat errichten, in Serbien die Kosovo-Albaner,
in der Türkei die Kurden. Korsika soll einen Autonomie-Status
erhalten, ähnliches fordern jetzt auch die Bretonen. In Belgien
wollen sich die Flamen von den Wallonen separieren, in Italien will
die Lega Nord sich von Rom abspalten usw.
Nur
scheinbar besteht in dem Verhältnis zwischen Nationalstaat
und Regionalismus ein Widerspruch. Denn der kleinräumige und
der großräumige Chauvinismus können sich sehr wohl
ergänzen. Beispielhaft formulierte es Deutschlands prominentester
Heimatschützer, der bayerische Ministerpräsident Edmund
Stoiber: "Die Regionen seien der Trumpf Europas im Wettbewerb der
Kulturen. Wirtschaftlich starke Regionen seien das Rückgrat
für den Wirtschaftstandort Europa. Europa brauche die Regionen
außerdem zur Bewahrung von Identität und Geborgenheit
in der zunehmend globalisierten Welt, für bürgernahen
Verwaltungsvollzug und nicht zuletzt für die innere Stabilität
der Gesellschaft", zitierte ihn seine Staatskanzlei nach einer Tagung
der Evangelischen Akademie Tutzing im Januar vergangenen Jahres.
Keine
Grenze gilt für immer - es ist kein Zufall, dass gerade die
Bundesrepublik das Konzept eines "Europa der Regionen" so offensiv
propagiert. An der Grenze zu Tschechien, zu Polen und zu den Niederlanden
sind bereits zahlreiche so genannte "Euro-Regionen" entstanden.
Die Macht des wirtschaftlich stärkeren Partners - was nach
Lage der Dinge heißt: Deutschlands - führt dazu, dass
dieser auch in Fragen von politischer Bedeutung den Ton angibt.
Das
"Europa der Regionen" geht immer einher mit Begriffe wie "Identität",
"regionale Traditionen" und "kulturelles Erbe". Dieser "ahistorische
Bezug auf eine als homogen wahrgenommene regionale Identität",
schreibt Andreas Dietl in Jungle World (Nr. 37/00), "zählt
zu den Hauptursachen des Rassismus in Europa".
5.
In der Flüchtlingspolitik und der Innere Sicherheit. Eine weiteres
Modell der länderübergreifenden Zusammenarbeit findet
sich bei Abwehr von Flüchtlingen. An der deutsch-polnischen
und der deutsch-tschechischen Grenze entstehen so genannte Polizeizentren,
in denen sich die Beamten beider Länder gemeinsam auf die Jagd
nach illegale Migranten machen. Vor allem aber verlagert Deutschland
die Schengen-Grenzen bis auf den Balkan aus. BGS-Polizisten befinden
sich seit dem Zusammenbruch des Staates in Albanien, seit dem Abkommen
von Dayton in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien und schließlich
seit dem Ende des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien im Kosovo.
Gleichzeitig
strebt das deutsche Innenministerium seit längerem eine einheitliche
europäische Polizei und Sicherheitsbehörden vor. In Schröders
Programmentwurf sieht explizit die Vergemeinschaftung der Exekutiv-Behörden
vor.
6.
In der Gen- und Biotechnologie. Auch in der Gen- und Biotechnologie
will Deutschland den Anschluss nicht verpassen. "Erst kommt das
Wissen", dann der "Führungsplatz in der Bio- und Medizintechnik",
erklärt Bundeskanzler Gerhard Schröder im Februar diesen
Jahres. Für den Ausbau der Biotechnik will die Bundesregierung
in den nächsten fünf Jahren 1,5 Milliarden Mark bereitstellen.
Hinzu kommen weitere 350 Millionen Mark für das nationale Genomforschungsprojekt.
Die
Bundesregierung hat viel aufzuholen, denn in der Gentechnologie
liegen die USA in Führung, Europa hinkt etwa um zehn Jahre
hinterher. Die rund 1 300 europäischen Unternehmen der Branche
haben derzeit insgesamt einen Börsenwert von 35 Milliarden
Dollar, gerade ein Zehntel des Werts der US-amerikanischen Firmen.
Die
US-Biotechbranche konnte schon früh vom Telekom-Boom an den
Börsen und vom engen Kontakt zwischen Universitäten und
Industrie profitieren. Die schnelle Verwertung wissenschaftlicher
Erkenntnisse und ihre prompte Finanzierung durch Risikokapital verschaffte
den USA Vorteile im Wettbewerb. In Europa folgte zuerst Großbritannien
in den achtziger Jahren dem US-Modell. Dort wurden die ersten biotechnischen
Startups gegründet, viele von ihnen in der Nähe der Forschungsinstitute
von Cambridge und Oxford. Später folgten Frankreich und kleinere
Länder wie Island und die Schweiz.
In
Deutschland kam die Technologiebörse am Neuen Markt hingegen
erst Mitte der neunziger Jahre in Schwung, ebenso die staatliche
Förderung. Durchaus mit Erfolg. Im vergangenen Jahr gab es
zwischen Flensburg und Konstanz zum ersten Mal mehr Biotechunternehmen
als in Großbritannien. Doch um den Vorsprung der USA aufzuholen,
sind in den nächsten Jahren viel größere Investitionen
nötig als bisher.
Um
dieses Kapital aufzutreiben, werden die phantastischen Zukunftsaussichten
der Biotechbranche angepriesen: Je höher der Einsatz, desto
gewaltiger die Versprechen. Mit Hilfe des Genomprojekts soll beispielsweise
der Krebs besiegt werden. Seine Regierung werde den Kampf gegen
die "Volkskrankheit" aufnehmen und sie "ausrotten", tönte Tony
Blair, nachdem britische Gerichte das therapeutische Klonen von
Embryonen erlaubt hatten. Bundeskanzler Schröder übernimmt
diese Werbestrategie für die Bioindustrie. So befürwortet
die neue Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt Gentests an künstlich
befruchteten Eizellen, damit schwere Erbkrankheiten besser bekämpft
werden können.
Die
Verbindung von medizinischen Heilsversprechen und Standortwettbewerb
ist in mehrfacher Hinsicht lukrativ. Denn wer will der Biotechnologie
noch die Legitimation absprechen, wenn mit ihrer Hilfe schwere Leiden
gelindert oder gar verhindert werden? Und was könnte profitabler
sein, als das Leben und den Körper selbst zu vermarkten?
III.
Widerstand: Im Herzen der Bestie
Um
noch einmal zusammenzufassen: Die EU ist als Wirtschaftsgemeinschaft
gegründet worden, um die gemeinsamen Interessen der einzelnen
Nationalstaaten besser durchzusetzen. Von der Integration hat bisher
Deutschland am stärksten profitiert - vom Binnenmarkt und durch
seine neue außenpolitische Rolle. Dennoch konnte der deutsche
Aufstieg nur erfolgen, weil es (ökonomisch und politisch) zumindest
parziell gemeinsame Interessen mit den anderen EU-Staaten gibt.
Ohne gemeinsamen Binnenmarkt und Währung wäre kein Staat
auf Dauer zu den USA konkurrenzfähig, und hätte entsprechend
auch außenpolitisch nichts zu melden.
Wenn
Deutschland an der Spitze dieses neuen supranationalen Zusammenschluss
steht, wieso regt sich dann ausgerechnet in Deutschland so wenig
Widerstand dagegen?
Um
darauf eine Antwort zu geben, möchte ich zuvor einige kurze
Anmerkungen über das Verhältnis zwischen Nationalstaat
und transnationalen Zusammenschlüsse formulieren. Für
viele Gruppen und Aktivisten, die nach Göteborg gefahren sind,
bilden die Anti-EU-Aktionen nur den Auftakt für den "summer
of resistance", der von Göteborg, über den WEF-Gipfel
in Salzburg zum G8-Treffen in Genua führt. Interessant ist
dabei, dass das Event-Hopping in einem direkten politischen Zusammenhang
gesehen wird. In Göteborg wird angeblich nur für den regionalen
(europäischen) Rahmen vorbereitet, was in Salzburg und Genua
gleich für die gesamte Welt diskutiert wird. Die politischen
Eliten treffen sich - so die These der Aktivisten - um die Welt
den neoliberalen Spielregeln anzupassen. Und die EU bildet dabei
quasi nur die Unterabteilung für die weltweite Kapitalismus-GmbH,
die zur Auflösung der Nationalstaaten und der weltweiten Durchsetzung
einer Herrschaft der Konzerne angetreten ist.
Es
gibt meiner Ansicht nach mehrere Gründe, dieser Sicht zu widersprechen.
Weder wird die nationalstaatliche Politik überflüssig,
noch handelt es sich um ein weltweites ideologisches und ökonomisches
System, das sich einfach unter den Begriff "Neoliberalismus" subsumieren
lässt.
Dem
Irrtum, dass sich die jeweiligen Staaten in subnationale System
transformieren, dass nationale Regierungen nichts mehr zu sagen
haben, der Kapitalismus sozusagen keine Heimat mehr hat, erliegen
nicht nur linke Globalisierungsgegner. Die schärfste Kritik
an der EU kommt daher auch von rechts. Die Parole "Zerschlagt die
EU" gehört mittlerweile zum Standard-Reportoire der NPD. Ebenso
wird in Frankreich von Le Pen bis Pasqua gegen die EU mobil gemacht
- mit dem "Argument", die EU entmachte die "Grand nation". Und in
Italien hat die rassistische Lega Nord allen Ernstes bis vor kurzem
behauptet, die EU sei die letzte Bastion des Kommunismus.
Aber
auch bei der staatstragenden Linken, bei den sozialdemokratischen
und trotzkistischen Organisationen hält sich die Legende vom
Tod des Nationalstaates. Ein Beispiel ist dafür die aus Frankreich
stammende Gruppe Attac, die mittlerweile in mehr als 20 Ländern
aktiv ist und sich auch bei nahezu jeder Anti-EU- und Anti-Globalisierungs-Aktion
beteiligt.
Attac
ist eine Abkürzung für "Aktionen für eine Steuer
auf finanzielle Transaktionen zugunsten der Bürger". Die
Organisation, die 1998 als Reaktion auf die so genannte Asienkrise
gegründet wurde, will eine "Tobin-Steuer" von 0,5
Prozent auf alle Transaktionen der internationalen Geldmärkte
einführen, um "den Fluss von spekulativen Kapital zu verhindern".
Nach Ansicht von Attac liegen die Gründe für die Verschlechterung
der Arbeitsbedingungen, für Flexibilisierung, Massenentlassungen
und der Deregulierung der sozialen Sicherungssysteme am freien Fluss
des Kapitals.
Die
meisten Aktivisten von Attac kommen aus trozkistischen Gruppen und
viele von ihnen sind der französischen Monatszeitschrift Le
monde diplomatique verbunden. Ihre Pläne zur Besteuerung von
Finanzspekulationen werden selbst von Teilen der politischen und
wirtschaftlichen Elite unterstützt - so etwa von Jacques Delores
(Ex-Präsident der EU-Kommission) und George Soros.
Eine
solche Tobin-Steuer würde von Staaten oder Staatengruppen,
die mit der UN oder dem IWF kooperieren, eingetrieben. Attac bevorzugt
daher die "Verstärkung der nationalen oder regionalen
Staaten, damit diese ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik besser
gestalten können".
Doch
diese Trennung von Staat und Kapital, von Produktionsprozess und
Zirklation, hat einige fatale Konsequenzen. Durch diese Fixierung
auf das "spekulative Kapital" stehen "nicht länger
die Produktionsprozesse und die Akkumulation von Kapital im Zentrum
der Aufmerksamkeit, sondern Clubs einflussreicher Männer (und
weniger Frauen), die hinter verschlossenen Türen die Zukunft
der Welt aushandeln", schrieb Alain Kessi in Jungle World - damals
anläßlich der WEF-Treffens in Davos. Die Kritik ist aber
problemlos auf die Aktivitäten vieler Anti-EU-oder Anti-Gloablisierungsgruppen
zu übertragen.
Die
niederländische Gruppe de Fabel van de illegaal hat völlig
zurecht kritisiert, dass die Gesetze des Marktes nichts zu tun haben
mit den Handlungen einiger weniger Kapitalisten oder multinationaler
Konzerne. "Der Kampf um die Welt, die wir uns wünschen, bedeutet
nicht, dass wir uns auf dickbäuchige Zigarrenraucher stürzen,
die beim Pferderennen Melonen auf dem Kopf tragen", schreiben sie.
"Worauf
es ankommt, sind nicht die individuellen Profite, sondern eine Orientierung
auf die Produktion und die sozialen Verhältnisse dieses Systems,
das uns diktiert, wie wir zu arbeiten und zu leben haben. Die Abschaffung
des Kapitalismus bedeutet nicht, den Reichen ihr Geld wegzunehmen,
ebensowenig, es revolutionär an die Armen umzuverteilen, sondern
die Abschaffungen der Gesamtheit von Geldbeziehungen, die letztlich
nur durch eine Abschaffung der Warenproduktion zu haben ist", heißt
es in dem Papier von de Fabel weiter.
Die
Kritik am Spekulationskapital lädt geradezu ein, antisemitische
Ressentiments hervorzurufen. So kursieren einige linke Aufrufe gegen
die EU, in denen aufgefordert wird, die Auslieferung der Euro-Scheine
und Münzen zu verhindern. Die NPD würde diesen Aufruf
sicherlich ebenfalls unterstützen.
Gleichzeitig
zieht die These, dass der (National-) Staat gegen das Zirkulationskapital
zu stärken sein, unangenehme Freunde an. Als im Januar 2000
der Vorschlag gemacht wurde, die "Tobin-Steuer" im EU-Parlament
zu verhandeln, wurde dieser Antrag nicht nur von Sozialisten, Kommunisten
und den grünen Parteien unterstützt, sondern auch von
der rechtskonservativen Fraktion um Pasqua und De Villiers.
In
diesem Punkt scheint künftig ein zumindest parzielle Zusammenarbeit
zwischen Linken und Rechten - gegen das Finanzkapital, für
den sozialen Staat - nicht mehr ausgeschlossen. Susan Georg, eine
US-amerikanische Politikwissenschaftlerin, Vizepräsidentin
von attac-international und regelmäßige Le Monde Diplomatique-Autorin,
ist sich zwar bewusst, dass eine Zusammenarbeit mit der extremen
Rechten gefährlich ist. Dennoch sei diese notwendig. "In
den USA waren die vereinten Kräften der Linken und der Rechten
notwendig, um die Fast-Track-Bestimmung des US-Präsidenten
zu Fall zu bringen (Das Recht, Freihandelsbestimmungen ohne Zustimmung
des Kongresses gesetzeswirksam zu machen).
Die
Kritik an den Finanzmärkten wird besonders fatal, wenn sie
sich noch um eine geographische Zuschreibung bemüht. "Europa
oder die USA" heißt die manifestartige Überschrift
eines Artikels in dem Ostberlin Blatt "Der Gegner". Die
Autoren plädieren dafür, das soziale Erbe Europas gegen
die Hegemonie des US-Neoliberalismus zu verteidigen. In einer solchen
dichotomischen Sicht werden die Tradition des (westeuropäischen)
sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates sowie des (osteuropäischen)
Realsozialismus plakativ gegen den US-Neoliberalismus gestellt,
der die weltweiten Finanzmärkte dominiert und die Sozialssystem
vernichtet.
Bei
seinem Aufruf zum großen Kulturkampf kann sich das Berliner
Underground-Blättchen durchaus prominenter Unterstützung
sicher sein. So hielt der französische Premierminister Lionel
Jospin Anfang Juni eine Europa-Rede, die z.T. auch den Anti-Globalisierungsaufrufen
entnommen sein könnte.
"Diese
wirtschaftliche Kohärenz muss in den Dienst der sozialen Solidarität
gestellt werden. Dies fordern unsere Bürger. Europa kann und
darf keine bloße Freihandelszone sein", heißt es
da Das "Gesetz des Marktes" bewirke eine Vereinheitlichung
der Konsumverhalten und eine Konzentration der Kulturindustrien.
Gemeinsam müssen wir uns aber gegen die drohende Uniformierung
und die Überflutung durch Kulturprodukte aus ein und derselben
Quelle wehren. Dies ist eine grundlegende Frage der Zivilisation.
Selbstverständlich ist dies ein Kampf für die europäischen
Kulturen, aber auch für alle anderen Kulturen."
Wer
mit dieser "Quelle" gemeint ist, braucht wohl nicht mehr
weiter ausgeführt zu werden. Die EU ist mehr als ein Wirtschaftsraum,
sie ist in diesem Sinne eine Wertegemeinschaft, die ihre Kultur
gegen Hollywood und ihre soziale Erungenschaften gegen die Wall-Street
verteidigen muss. Es wäre fatal, wenn sich eine linke EU-Kritik
diesem europäischen Patriotismus anschließen würde.
IV.
Schluss
Thesen
für eine linke Kritik der EU.
1.
Nicht Kampf gegen das Spekulationskapital, sondern gegen die Arbeit
muss im Mittelpunkt stehen. Nicht die Zirkulationsspähre ist
der Ansatzpunkt, sondern die Warenproduktion und die Arbeitsverhältnisse.
2.
Die Formierung einer neuen europäischen "Identität" funktioniert
nur über die Ausgrenzung des "Nicht-Identischen", d.h. über
die Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. Im Mittelpunkt steht
dabei die Kritik des Schengener Systems und seine Ausdehnung bis
an die Grenzen der neuen Ost-Beitrittskandidaten und den südosteuropäischen
Einflusszonen.
3.
Der Ausbau der EU zur Militärmacht und "Friedensstifter".
Nach dem Balkan ist der Nahe Osten das nächste Ziel der europäischen
Friedensstifter. EU-Truppen im Nahen Osten unter deutscher Beteiligung
- dieses Szenario könnte in absehbarer Zeit durchaus denkbar
sein.
4.
Die Frage, welche Rolle die EU künftig im Nahen Osten spielen
wird, ist umso wichtiger, da Deutschland heute das mächtigste
Land in der Union ist. Das Herz der Bestie schlägt in Berlin.
Wer die EU kritisiert, muss den Bezug zu den deutschen Interessen
herstellen.