Nr. 21 September - Oktober 2000  AZADI e.V.

AZADI informationen 


“Anständige” schieben ab

Der Sprecher des Wuppertaler Wanderkirchenasyls, Mehmet Kilic, wurde am 24. 10. 2000 in die Türkei abgeschoben, obwohl der Ausländerbehörde Bergisch Gladbach ein ausführliches psychologisches Gutachten vorlag. In diesem Gutachten wurde aufgrund der erlittenen Folter und der erlebten Morde an Bruder und Vater in der Türkei eine Traumatisierung und Suizidgefährdung bei Mehmet Kilic festgestellt. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass eine Abschiebung des Kurden in die Türkei auf keinen Fall durchgeführt werden dürfe. Zusätzlich war Mehmet Kilic durch seinen Hunger- und Durststreik im Bürener Abschiebeknast erheblich geschwächt. Sofort nach Ankunft in Istanbul wurde er zur Feststellung seiner Personalien von der Polizei festgenommen und danach wieder freigelassen. In einem Telefonat schilderte er Markus Reissen von der evangelischen Gemeinde Düren, dass er kurz nach seiner Freilassung 500 Meter von der Polizeistation entfernt von Zivilpersonen festgenommen und während der nachfolgenden siebentägigen Haft mehrfach geschlagen worden sei. Die Zivilpolizisten hätten ihm gedroht, dass das noch nicht alles sei. Reissen: “Das zeigt, dass es unmöglich ist, Menschen, die einmal abgeschoben sind, wirksam zu schützen”.
(AZADI/Kein Mensch ist illegal Wuppertal/FR/taz, 19.-31.10.2000)

Barbarische Abschiebepraxis in NRW

Trotz zahlreicher Protestaktionen, Solidaritätsbekundungen, Eilanträgen und psychologischer Gutachten, in denen Hüseyin Calhan Suizidgefahr und starke Traumatisierung attestiert wurden, wurde der Aachener Friedenspreisträger und Wanderkirchen-Aktivist am 31.10.2000 nach Istanbul abgeschoben. Begleitet wurde er von Reiner Priggen, dem stellvertretenden Fraktionssprecher der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Seine Anwesenheit und die von drei Beamten des deutschen Konsulats auf dem Flughafen in Istanbul, konnte Hüseyin Calhan vorerst davor bewahren, von der türkischen Polizei festgenommen zu werden. Eine Demonstrantin, die mit über 150 anderen in der Nacht vor der geplanten Abschiebung vor dem Gefängnis in Büren ausharrten, um diese zu verhindern, erklärte: "Wenn die Abschiebungsmechanismen einmal anlaufen, ist alles zu spät." Dennoch werde sie ihre Arbeit in der Gruppe "Gastfreundschaft" und die Betreuung von Flüchtlingen nicht aufgeben. Viele in ihrem Bekanntenkreis hätten ihre positive Einstellung zu Deutschland wegen der Asylpolitik geändert. "Manchmal denke ich, man müsste den ganzen Laden ... aber das darf ich jetzt nicht weiter denken." In einem Protestaufruf, den u.a. auch der Schriftsteller Günter Grass unterschrieb, wurde die "barbarische Abschiebepraxis" gerade im rot-grün regierten Nordrhein-Westfalen angeprangert.
Am 28. September 2000 war der Kurde Hüseyin Calhan noch als offizieller Gast der Veranstaltung der Aachener Zeitung "Farbe bekennen - Keine Chance den Rassisten" eingeladen worden. . Die Veranstaltung in Aachen, die von der SPD, dem CDU-Oberbürgermeister Jürgen Linden, dem Polizeipräsidenten und dem Bundesgrenzschutz (BGS) unterstützt wurde, erreichte er nicht mehr. Beamte des BGS nahmen Hüseyin Calhan auf Anordnung eines Aachener Amtsrichters in Bahnhofsnähe fest. Das Ausländeramt der Stadt Aachen beantragte gegen ihn noch am gleichen Tag die Abschiebehaft. Er kam ins Abschiebegefängnis nach Büren, wo er zusammen mit zwei anderen Kurden einen Hungerstreik durchführte. "Die Tinte auf dem Aachener Appell ist noch nicht richtig getrocknet, da erweist sich die Ausländerbehörde einmal mehr als Rad in der unmenschlichen Abschiebemaschinerie," sagte der PDS-Ratsherr Andreas Müller.
1995 floh Hüseyin Calhan aus der Türkei, weil er dort mehrfach unter dem Vorwurf der PKK-Unterstützung festgenommen und gefoltert wurde. Sein Versuch, sich dem Militärdienst zu entziehen, schlug fehl. Er wurde zwangsweise eingezogen und wegen kriegskritischer Kommentare regelmäßig geschlagen. Später weigerte er sich, als Dorfschützer gegen die PKK zu arbeiten. Er floh aus seinem Dorf nach Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, weil ihm die Behörden nicht glaubten, dass er in der Türkei als PKK-Sympathisant verfolgt und misshandelt worden war. Dann fand er Zuflucht im Wanderkirchenasyl. Auf vielen Demonstrationen war Hüseyin Calhan als Vertreter der kurdischen Flüchtlinge aufgetreten; türkische und deutsche Medien berichteten über ihn.
(AZADI/Aachener Nachrichten/JW/Aachener Zeitung/taz Köln, 29.9.-2.11.2000)
Nach Redaktionsschluss: Hüseyin Calhan ist mittlerweile in Istanbul untergetaucht. Er hat Kontakt mit Mehmet Kilic aufgenommen. Nach Information des Wuppertaler Wanderkirchenasyls geht es Kilic schlecht. Er habe in einem Telefonat mit Pastor Ungerathen Angst vor erneuten Misshandlungen geäußert. Beide hätten jetzt eine Hotline zu Kontaktpersonen, die im Ernstfall versuchten, Hilfe zu leisten.
(AZADI/Kein Mensch ist illegal/Infoladen Wuppertal, 2.11.2000)

Behördliche Brutalität

Am 22. 9. 2000 wurde der Kurde Halil Arslan, Teilnehmer des Wanderkirchenasyls in NRW, in Oberhausen verhaftet. Er wurde vom Polizeigewahrsam in die Abschiebehaftanstalt Moers verlegt. Halil Arslan ist verheiratet und hat vier Kinder. Das Ehepaar musste 1992 aus seinem Dorf fliehen, weil das türkische Militär Halil zwingen wollte, als Dorfschützer gegen die PKK aktiv zu werden. Als er dies verweigerte, wurde er mehrfach verhaftet und gefoltert. Zwei Monate nach der Flucht nach Deutschland wurden zwei seiner Brüder ermordet. Eine Schwester von Frau Arslan ist seit über einem halben Jahr verschwunden. Für den Fall einer Abschiebung befürchtet das Flüchtlingsplenum Aachen das Schlimmste; mit Inhaftierung und Folter müsse gerechnet werden.
(AZADI/Flüchtlingsplenum Aachen, 24.9.2000)

Abschiebung trotz Haft in der Türkei?

Unter dem Schutz der evangelischen Kirche in Ehningen/Kreis Böblingen befindet sich seit neun Tagen die kurdische Familie Baydar, die in dem Ort seit acht Jahren wohnt. Pfarrer Heinrich Düllmann will so den Kurden Zeit verschaffen, um einen Asylfolgeantrag stellen zu können. Haydar Baydar befürchtet, im Falle einer Abschiebung in der Türkei verhaftet und gefoltert zu werden, weil er im kurdischen Widerstand aktiv gewesen ist, Flugblätter verteilt und Jugendliche zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen habe: “Ich bin vier Mal mehrere Tage lang im Gefängnis festgehalten worden.” Man habe ihn gefoltert und mit dem Tod bedroht. Eine medizinische Untersuchung stützt die Aussagen des Kurden und bestätigt Folterspuren. Dennoch glaubten die Richter nicht an eine Gefährdung der Familie in der Türkei. Der Rechtsanwalt der Familie versucht, einen dauerhaften Aufenthalt für sie zu erreichen.
(AZADI/Stuttgarter Zeitung, 26.9.2000)

Praktizierte Solidarität in Ebringen

In einer Liste mit 786 Unterschriften setzen sich Bürger von Ebringen/Baden-Württemberg für ein Bleiberecht und gegen die Abschiebung des kurdischen Ehepaares B. und seiner fünf Kinder ein. Zehn Gemeinderäte, alle Grundschullehrer und der komplette Pfarrgemeinderat haben sich laut Pfarrer Hermann den Forderungen an das Regierungspräsidium und die Landesregierung angeschlossen. Die Unterschriften wurden innerhalb einer Woche gesammelt und als Eingabe an den Petitionsausschuss des Landtags übergeben, verbunden mit der Hoffnung, dass die Familie als Härtefall anerkannt wird und einen gesicherten Aufenthaltsstatus erhält.
(AZADI/Badische Zeitung, 26.9.2000)

Rücksichtslos Druck ausgeübt

1991 kam Savci Gezginci in die Bundesrepublik, seine Frau folgte ihm später. Die vier Kinder des Ehepaares sind alle in Deutschland geboren und aufgewachsen. Asylanträge aller Familienmitglieder wurden abgelehnt. Nun soll die kurdische Familie im November in die Türkei abgeschoben werden. Gemeindepfarrer Jürgen Schäfer fragt: “Warum wurde hier bewusst die Nutzung von Spielräumen verweigert und rücksichtslos Druck ausgeübt?” Und meint damit die permanent von der Ausländerbehörde ausgestellten kurzfristigen Aufenthaltsbescheinigungen, mit denen die Familie immer wieder eingeschüchtert worden sei. “Dabei ist die Ausreise ohne Pässe, deren Ausstellung Monate dauert, gar nicht möglich,” so Seyed Sattari vom Diakonischen Flüchtlingswerk. Er befürchtet, dass dem Vater Verhöre bevorstünden wegen seines langen Aufenthalts in der Bundesrepublik und weil er sich in der Heimat geweigert hatte, als Dorfschützer gegen die PKK zu arbeiten.
(AZADI/Westfalenpost, 27.9.2000)

Gefangen im Kirchenasyl

Seit zwei Jahren befindet sich der 35-jährige Ali Sakiz mit seiner Frau und den drei Töchtern im Don-Bosco-Heim in Furtwangen, einem kirchlichen Schüler- und Studentenwohnheim. Das Kirchenasyl der Familie Sakiz ist das erste ökumenische Kirchenasyl und bisher längste in Baden-Württemberg und ein Ende ist nicht in Sicht. Psychologen der Freiburger Beratungsstelle für Folteropfer bestätigten, dass dem Kurden eine erneute Abschiebung nicht zuzumuten sei, weil er durch seine Erlebnisse schwer traumatisiert sei. Dennoch lehnte das Verwaltungsgericht Freiburg Mitte September 2000 den Asylfolgeantrag der Familie ab. “Wir sind total verzweifelt,” sagte der Arzt Wieland Walther, der sich vor zwei Jahren für das Kirchenasyl eingesetzt hatte und nun auf eine politische Lösung hofft. Die Kirchenräume kann die Familie nicht verlassen - sie würde festgenommen und abgeschoben.
Aus Angst vor Verfolgung durch den türkischen Staat, flüchtete Ali Sakiz aus seinem Dorf in Kurdistan in die Schweiz, wo er nach kurzer Zeit ausgewiesen wurde. Am Flughafen Istanbul nahm ihn die Polizei sofort fest. Er berichtete, im Gefängnis brutal zusammengeschlagen worden zu sein. Mehrmals hätten die Sicherheitskräfte einen Hund auf ihn gehetzt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis seien er und seine Familie im Heimatdorf vom türkischen Militär terrorisiert worden. 1995 gelang die zweite Flucht, diesmal nach Deutschland, wo sein Asylantrag ebenfalls abgelehnt wurde.
(AZADI/Südkurier/Heilbronner Stimme, 28.9., 31.10.2000)