Wahrheit und Diplomatie
Von Christian Bommarius
Was ist Wahrheit? Mit dieser Frage hat die Berliner Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen begonnen, nachdem im Februar auf dem Gelände des israelischen Generalkonsulats vier Menschen von zwei Wachleuten erschossen worden waren. Was ist Wahrheit? Mit dieser Frage wird die Anklagebehörde demnächst ihre Ermittlungsakten schließen. Sie wird zwar vermuten, daß die vier Kurden keineswegs in Notwehr erschossen worden sind – aber sie wird es nicht beweisen können. Sie wird die beiden Wachmänner des Totschlags oder des Notwehr-Exzesses verdächtigen – aber anklagen wird sie sie nicht.
Im Gegenteil: Je mehr Beweise die Ermittler in den letzten Tagen zusammentrugen, die die Version der israelischen Regierung erschütterten, die Sicherheitsbeamten hätten in akuter Notwehr gehandelt, desto aussichtsloser wurde die Erwartung, am Ende werde ein Gericht über die Verantwortung für den Tod der vier Kurden urteilen. Nicht obwohl, sondern weil die Schützen verdächtig sind, rechtswidrig getötet zu haben, dürfen sie von der deutschen Justiz gegen ihren Willen nicht mehr vernommen werden – so will es die Wiener Konvention für Mitglieder des diplomatischen Corps. Nicht obwohl, sondern weil sich der Tatverdacht gegen die Schützen erhärtet hat, bleibt dieser Schutz der Immunität bestehen – so will es offenbar die israelische Regierung. Vor einigen Wochen noch hat General-staatsanwalt Hansjürgen Karge beteuert: "Die Wahrheit kennt keine Diplomatie." Es zeigt sich jedoch, daß das Gegenteil richtig ist – die Diplomatie kennt keine Wahrheit.
Unverständlich aber ist, warum auch die Justiz sie nicht zu wissen wünscht. Die Ankündigung des Berliner Justizsenators, auf die Aufklärung des blutigen Geschehens zu verzichten, weil eine Anklage aussichtslos erscheine, hat viel mit Diplomatie, aber nur wenig mit dem Recht zu tun. Die Presseerklärung des Senators ist wohl folgendermaßen zu verstehen: Nach dem jetzigen Verfahrensstand dürfen die Schützen nicht mehr als Zeugen, sondern müßten als Beschuldigte vernommen werden. Als Beschuldigte aber dürfen sie nicht vernommen werden, weil das ihre Immunität verbietet. Diesem Dilemma könne die Justiz selbst dann nicht entgehen, wenn die israelische Regierung – wie durch den Botschafter geschehen – den Ermittlern anbiete, die Schützen nochmals zu befragen: Denn Zeugen könnten sie nicht sein, und Beschuldigte dürften sie nicht sein. Damit aber behauptet der Justizsenator nichts Geringeres, als daß die Strafprozeßordnung in diesem Fall die Tat vor ihrer Aufklärung schützt und damit der Justiz verbietet, was es von ihr verlangt. Es mag sein, daß die Bürger von Schilda an solchem Recht Gefallen fanden, bisher aber war unbekannt, daß auch der Rechtsstaat Bundesrepublik nach solchen Regeln funktioniert.
Den Anspruch, zu erfahren, was im Februar auf dem israelischen Konsulatsgelände wirklich geschah, haben nicht nur die Hinterbliebenen der getöteten Opfer. Auch die zwölf von den Schüssen zum Teil schwer verletzten Kurden dürfen auf Aufklärung bestehen. Das gälte selbst dann, wenn sie nur zu einer Schar krimineller Demonstranten gehört haben sollten, die sich mit dem Eindringen auf das Konsulatsgelände des schweren Landfriedensbruchs und des Widerstands gegen die Staatsgewalt strafbar gemacht haben. Doch ist erst einer der kurdischen Demonstranten verurteilt worden – wegen einfachen Hausfriedensbruchs zu einer Strafe von vier Wochen Dauerarrest.
Aber nicht nur die Hinterbliebenen und die verletzten Überlebenden haben Anspruch auf vollständige Ermittlungen, auch die Öffentlichkeit muß darauf bestehen. Sie darf von der Justiz erwarten, daß der gewaltsame Tod von vier Menschen nicht als Begatelldelikt abgetan wird und die Akten nicht in der Großen Ablage der ungelösten Fälle verschwinden. Das gilt vor allem, wenn der Verdacht mit Händen zu greifen ist, nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Politik sei Herrin des Verfahrens und das Recht nur der Lakai.
Was ist Wahrheit – das ist keine Frage, die sich allein mit einem rechtskräftigen
Schuldspruch beantworten läßt. Das Aufklärungsinteresse
besteht unabhängig von der möglichen Verurteilung der Täter.
In diesem Falle würde schon deren aktenkundige Überführung
genügen.