AZADI RECHTSHILFEFONDS
            für Kurdinnen und Kurden in Deutschland e.V.

 

 

Mai 2003

Drei Bundesregierungen und ein Verbot

PKK-Verbot – wer erinnert sich noch daran, was das ist und warum es ist?

Es gibt nicht wenige, die meinen, das interessiert doch niemanden (mehr). Sicher bewegen derzeit viele andere Themen die Gemüter der Menschen in Deutschland: Irak-Krieg, Arbeitslosigkeit, Abbau des Sozialstaates, die der Gesellschaft verordnete Radikalkur im Gesundheitswesen, Insolvenzen, abstürzende Börsenkurse oder Zeitungssterben. Wahrlich eine beachtliche Liste bedrückender Entwicklungen. Nicht nur die Anschläge des 11. September 2001 nahm die Bundesregierung – vornehmlich Innenminister Otto Schily - Anlass für eine massive Ausweitung des Repressionsapparates und der gesetzlichen Verschärfungen. Nie zuvor in der Bundesrepublik Deutschland hat der Bundestag so viele Gesetze – nämlich 17 – zur so genannten “Inneren Sicherheit” auf einmal geändert und verschärft. Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch warnte seinerzeit davor, dass diese Entwicklung “in einen autoritären Staat” führen kann.
Die kurdische Bevölkerung in Deutschland jedoch musste nicht erst auf den 11. September warten, um - laut Schily – von der “vollen Härte des Gesetzes” getroffen zu werden. Bis zum heutigen Tage hat sie - mehr oder weniger allein gelassen von der bundesrepublikanischen Gesellschaft und fern jeglichen öffentlichen Interesses – die weitreichenden Folgen eines Verbotes zu tragen, das ihr Meinungs- und Organisierungsfreiheit vorenthält und sie so von fundamentalen Rechten ausschließt.
Diese tief in das Leben der Kurdinnen und Kurden einschneidende Verbotspolitik muss aus dem Dunkel des Vergessens wieder ans Licht gebracht werden. Alle demokratischen Kräfte sind aufgerufen, trotz der unbestreitbar zahlreich existierenden anderen Probleme, die Kurd(inn)en zu unterstützen in ihrem Kampf um die Freiheit des Wortes sowie einer freien politischen und kulturellen Betätigung jenseits von Repression und Strafverfolgung.

Was war?

Vor zehn Jahren: Der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther erließ im November 1993 das Betätigungsverbot der PKK. Die Geschichte dieses Verbots begann jedoch nicht erst vor 10 Jahren. Sie basiert auf einer politischen, ökonomischen und vor allem militärischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei, die weit ins 19. Jahrhundert zurück reicht. 1835 wurde der Offizier Helmuth von Moltke ins Osmanische Reich geschickt, um die dortige Armee nach preußischem Vorbild aufzubauen. Er spielte als Militärberater eine bedeutende Rolle bei der Niederschlagung kurdischer Aufstände. Kredite der Reichsbank zur Finanzierung der Berlin-Bagdad-Bahn brachten das Osmanische Reich in deutsche Abhängigkeit. Eine verstärkte Ausbeutung kurdischer, türkischer und armenischer Bauern war die Folge.

Insbesondere die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft hat alle Bundesregierungen der Nachkriegszeit veranlasst, die Türkei in beträchtlichem Umfang mit Rüstungsgütern und Waffen zu beliefern.
Nach dem Militärputsch vom 27. Mai 1960, bei dem mehrere Minister zum Tode verurteilt und hingerichtet und nahezu 500 Kurden verhaftet wurden, folgten massenhafte Verbannung und eine erneute Türkisierungswelle. Zeitweise wurden kurdische Kinder und Jugendliche ihren Familien entrissen und gezwungen, der Assimilation dienende Internate zu besuchen. Wegen des massiven Widerstands der kurdischen Bevölkerung war dieser Unterdrückungsmethode jedoch kein Erfolg beschieden.
Ende der 60er-Jahre deutete die bis dahin führende oppositionelle "Arbeiterpartei der Türkei" (TIP) als erste die Existenz des kurdischen Volkes an. Sie machte die türkische Regierung für Unterdrückung, Terror und Assimilationspolitik verantwortlich. Daraufhin wurde die TIP verboten, ihre Funktionäre vor Gericht gestellt. 1969 gründeten die Kurden ihre eigene Partei, die "Revolutionären Kulturvereinigungen des Ostens" (Devrimci Dogu Kültür Ocaklari, DDKO), die rasch viele Anhänger/innen in allen Teilen Kurdistans gewannen.
Um eine politische Mobilisierung der kurdischen Bevölkerung zu verhindern, putschte das türkische Militär am 12. März 1971. Eine weltweit starke linke, antiimperialistische Bewegung wirkte auch auf die politischen Verhältnisse in der Türkei zurück. Auch dort entstand eine revolutionäre Bewegung, der sich Menschen aus studentischen, intellektuellen und proletarischen Kreisen anschlossen. Der Staat reagierte darauf mit Massenverhaftungen. Viele politischen Aktivist(inn)en wurden von faschistischen und staatlichen Sicherheitskräften angegriffen. Eine blutige Rolle spielte hierbei die "Partei der Nationalistischen Bewegung", MHP, in Deutschland besser bekannt unter dem Namen "Graue Wölfe". In erster Linie war deren Jugendorganisation "Bozkurtlar" für zahlreiche Morde an Linken verantwortlich.
Auf einer Kundgebung am 1. Mai 1977 in Istanbul mit einer halben Million Teilnehmer/innen erschossen faschistische und staatliche Kräfte 37 Menschen. Ein Jahr später wurde in Maras auf einen Trauermarsch gefeuert; mehrere hundert Teilnehmer/innen starben. Der damalige türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit verhängte über Istanbul, Ankara und 11 kurdische Provinzen das Kriegsrecht.

„Was hat das denn mit Deutschland zu tun?“

Aus dieser Verfolgungssituation entstand am 27. November 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistan, PKK). Obwohl ein Großteil ihrer Gründer verhaftet und in den Gefängnissen zu Tode gefoltert wurden, erfuhr die Partei in den Folgejahren massiven Zulauf und große Unterstützung vornehmlich im kurdischen Gebiet der Türkei, aber auch in den anderen Teilen Kurdistans (Syrien, Irak, Iran).

Ecevit trat nach Wahlverlusten im Oktober 1979 zurück und wurde von Süleyman Demirel abgelöst. Während in den kurdischen Provinzen das NATO-Herbstmanöver "Anvil Express" stattfand, an dem auch 1.000 Bundeswehrsoldaten beteiligt waren, übernahm in den frühen Morgenstunden des 12. September 1980 die Armee unter Generalstabschef Kenan Evren das Kommando und erklärte die türkische Regierung für abgesetzt. Die Bundesrepublik schloss nur wenige Tage nach dem Militärputsch einen Vertrag über die Auf- und Ausrüstung der türkischen Polizei ab, und die GSG 9 begann in der Türkei mit der Ausbildung von Sondereinheiten zur Aufstandsbekämpfung. Deutschland war maßgeblich am Aufbau des Militärkomplexes in der Türkei beteiligt.
Die Tageszeitung „Die Welt“ schrieb am 5. Oktober 1981 über die Bundesrepublik als wichtigstem Wirtschaftspartner der Türkei u.a.:
„Damit setzt die Bundesrepublik Deutschland eine in die Zeit des deutschen Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches zurückreichende außenwirtschaftliche Tradition fort, die ihren Ausdruck in einem spezifischen, engen deutsch-türkischen Bezugsverhältnis gefunden hat, wie es so mit keinem anderen Staat besteht.“

In der Folgezeit des 12. September wurden 30 - 80.000 Menschen verhaftet, Tausende verschwanden in den Folterzellen türkischer Gefängnisse oder wurden extralegal hingerichtet oder waren gezwungen, vor ihren Häschern ins Exil zu fliehen. Bereits in den 1960er-Jahren flohen viele Kurden aufgrund staatlicher Verfolgung nach Deutschland oder ließen sich als so genannte Gastarbeiter anwerben, suchten nach dem Putsch wieder Tausende von Kurdinnen und Kurden Schutz in der Bundesrepublik Deutschland. Einem Land, das ihren Verfolgern die Waffen in die Hand gab. Die gnadenlose Vernichtungspolitik des türkischen Regimes gegenüber der kurdischen Bevölkerung führten zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes der PKK am 15. August 1984.

Geheimdienste werden aktiv

Je erfolgreicher diese im eigenen Land agierte, um so heftiger gingen die türkischen Machthaber, allen voran das Militär, gegen die kurdische Bevölkerung vor. In dem Maße, in dem es kurdischen Politiker/innen – wie beispielsweise Leyla Zana - erfolgreich gelang, die “kurdische Frage” auf die internationale Tagesordnung zu setzen, intensivierte der türkische Geheimdienst MIT in Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten im europäischen Ausland gezielte Kampagnen gegen die zuvor tolerierte PKK. Die Aktivitäten konzentrierten sich dabei auf die BRD, weil hier zahlenmäßig die meisten Kurd(inn)en leben und folglich auch mit dem größten Zuspruch für die kurdische Befreiungsbewegung gerechnet werden musste. Der MIT schreckte auch nicht vor inszenierten Anschlägen zurück. Exemplarisch sei hier an den angeblich von der PKK durchgeführten Sprengstoffanschlag gegen das türkische Generalkonsulat in Hamburg 1986 erinnert. Die Dienste konnten sich bei ihrer destruktiven Arbeit einiger kurdischer Kollaborateure bedienen, die sich zuvor von der PKK getrennt hatten bzw. von ihr wegen eklatanter Eigenmächtigkeiten aus der Organisation ausgeschlossen wurden. So wurde der Boden bereitet für eine nie zuvor gekannte Kriminalisierung kurdischer Organisationen und ihrer Repräsentant/innen.

Die neuen „Terroristen“

Hinzu kamen gewichtige wirtschaftliche Verträge zwischen der BRD und der Türkei, die Mitte der 1980er-Jahre die deutsch-türkischen Beziehungen festigten, so dass die Forderungen des Regimes nach Verfolgung kurdischer Politiker/innen und Anhänger/innen der PKK in Deutschland auf fruchtbaren Boden fiel.
Im Rahmen systematischer Polizei- und Medienkampagnen wurden die PKK-Aktivist(inn)en zu den „gefährlichsten Terroristen Europas“ stigmatisiert. Razzien und massenhafte Festnahmen waren an der Tagesordnung. Doch zeitigte die Verfolgungswelle nicht jenen Erfolg, den sich die Behörden versprochen hatten. In der Bundesrepublik Deutschland kriminalisierte man die PKK mit Hilfe des § 129a Strafgesetzbuch (StGB). Auf Initiative der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP beschloss der Bundestag 1986 ein Gesetz, wonach die Bundesanwaltschaft (BAW) „terroristische Vereinigungen“ aus dem Ausland verfolgen kann, sofern sie „Straftaten nach § 129a StGB begehen, welche die Sicherheit verbündeter Staaten zu beeinträchtigen drohen.

Razzien in kurdischen Vereinen und Einrichtungen, Durchsuchungen von Wohnungen, Verbote von Demonstrationen, Aktionen und Veranstaltungen sowie zahlreiche Ermittlungsverfahren nach § 129a StGB folgten. Aufgrund der vorhin erwähnten Bereitschaft dubioser Zeugen, gegen die PKK auszusagen, wurden in der Folgezeit über 20 kurdische Politiker/innen verhaftet. Am 24. Oktober 1989 begann die öffentliche Hauptverhandlung des so genannten Düsseldorfer „Terroristen“-Prozesses, für den extra eine Nebenstelle des Oberlandesgerichts (OLG) mit Kosten in Höhe von 8,5 Millionen DM umgebaut wurde. Bei der Urteilsverkündung im März 1994 waren von den ursprünglich über 20 Angeklagten noch vier übrig geblieben. Zwei von ihnen erhielten lebenslange, die beiden anderen Freiheitsstrafen von sechs bzw. sieben Jahren.
Heute noch finden alle Prozesse gegen kurdische Politiker in diesem fensterlosen Gerichts“bunker“ statt.

„Demonstriert doch in eurem Land“

1992 zerstörte das türkische Militär die kurdische Stadt Sirnak. Augenzeugen berichteten über den Einsatz von deutschen NVA- und Leopard-I-Panzern. Wenige Monate später zeigte das ZDF, wie ein Kurde nahe der Stadt Cizre mit einem deutschen BTR-60-Schützenpanzer zu Tode geschleift wurde. Aufgebrachte Kurd(inn)en attackierten in ganz Europa, besonders aber in Deutschland, türkische Einrichtungen. In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung vom 12. Dezember 1992 wandte sich der damalige türkische Innenminister Ismet Sezgin an die Bundesregierung: „Damit unsere Beziehungen sich entwickeln können, erwarten und verlangen wir, dass Deutschland die PKK für illegal erklärt.“

Am 22. Oktober 1993 zerstörte die türkische Armee in der kurdischen Stadt Lice mehr als 600 Häuser und tötete mindestens 30 Menschen. In ganz Europa griffen darauf hin Kurd(inn)en türkische Geschäfte, Banken und offizielle Vertretungen an.
Statt die Türkei wegen ihrer tödlichen Militärangriffe zu verurteilen, verschärften deutsche Politiker/innen ihre Forderung nach einem PKK-Verbot.
Am 26. November 1993 erließ der damalige Innenminister Kanther das Betätigungsverbot für die PKK, ERNK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans). Gleichzeitig verbot er kurdische Organisationen und Vereine, die im Verdacht standen, mit der PKK zusammen zu arbeiten. Infolgedessen wurden fast alle kulturellen Veranstaltungen, Demonstrationen und Kundgebungen, selbst Hochzeiten, untersagt. Es setzte eine beispiellose Hetze und Kriminalisierungswelle gegen hier lebende Kurd(inn)en ein. Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit wurden faktisch außer Kraft gesetzt. Verhaftungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und massive Einschüchterungsversuche gehörten fortan zur Alltagserfahrung eines Großteils der kurdischen Migrant(inn)en. Ein Heer von Angehörigen deutscher Strafverfolgungsbehörden waren beschäftigt mit tausenden von Ermittlungen wegen des Schwenkens von Fähnchen mit PKK-Symbol oder des Rufens von Parolen.

Im Frühjahr 1993 hatte der PKK-Vorsitzende, Abdullah Öcalan, erstmals einen einseitigen Waffenstillstand verkündet, dem 1995 und 1998 weitere folgten. Doch alle Angebote der PKK wurden von Ankara zurückgewiesen. Die türkische Regierung setzte ihren unerklärten Krieg gegen das kurdische Volk mit Hilfe des Westens und der NATO fort.

Am 1. Juli 1994 erschoss ein später frei gesprochener Zivilpolizist in Hannover den kurdischen Jugendlichen Halim Dener von hinten, als dieser für die ERNK plakatierte.
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse veröffentlichten Vertreter/innen von Menschenrechtsorganisationen, politischen Parteien und Anwaltsvereinigungen im November 1994 einen Aufruf zur politischen und materiellen Unterstützung der verfolgten Kurd(inn)en. Aus dieser Initiative entstand im April 1996 der Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden, AZADI e.V., welcher seinen Sitz in Köln hat.

Die Profiteure des Krieges

Die westlichen Industrienationen profitierten vom Krieg in Kurdistan, der die Türkei allein von 1984 bis 1994 ca. 100 Mrd. US-Dollar gekostet haben soll. Die Bundesrepublik Deutschland war von 1962 bis 1995 deren zweitgrößte Waffenlieferantin nach den USA. Laut Auswärtigem Amt auf eine Anfrage der Bundestagsgruppe PDS/Linke Liste vom 12. Januar 1992, hat die Türkei von 1980 bis 1991 Verteidigungs-, Rüstungssonder- und Materialhilfe im Wert von 3,95 Mrd. DM erhalten – darunter Bestände der ehemaligen Nationalen Volksarmee (NVA) im Wert von ca. 700 Mio DM. Konzerne wie Krupp, Krauss-Maffei, Siemens oder Daimler-Benz bzw. Daimler-Chrysler, Messerschmitt-Bölkow-Blohm, Eurometall oder Heckler & Koch lieferten Streugranaten, Raketen, Munition, Minen, Militärfahrzeuge, Gewehre und Panzer, wovon zweifellos ein Großteil in Kurdistan zum Einsatz kam oder noch kommt. Inzwischen ist die Türkei allerdings in die Lage versetzt worden, zahlreiche Waffen, Munition und anderes Kriegsmaterial aufgrund von Kooperationsverträgen in Lizenz selbst herzustellen.

Wider das Völkerrecht

Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan musste Anfang September 1999 Syrien verlassen und gelangte nach einer Irrfahrt durch verschiedene Staaten nach Italien. Europa, vor allem die Bundesrepublik Deutschland, zeigte weder Interesse an seiner Person noch an seinem friedenspolitischen Anliegen, das er mit den politisch Verantwortlichen diskutieren wollte. Obwohl Öcalan seine Bereitschaft erklärt hatte, sich einem internationalen Gericht zu stellen, gewährte ihm kein europäisches Land Aufnahme. Als er am 16. Februar 1999 mit Hilfe internationaler Geheimdienste aus Kenia in die Türkei verschleppt wurde, fiel man dort in einen nationalistischen Freudentaumel. Das türkische Staatssicherheitsgericht verurteilte den PKK-Vorsitzenden am 29. Juni 1999 wegen Hochverrats zum Tode durch den Strang. Inzwischen wurde die Todes- in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.

Unmittelbar nach der völkerrechtswidrigen Verschleppung kam es weltweit zu Protestaktionen und Demonstrationen, so auch in über 50 Städten der Bundesrepublik. Der Protest richtete sich gegen die diplomatischen Vertretungen der Staaten, die mit ihren Geheimdiensten an der Entführung beteiligt waren: USA, Kenia, Griechenland und Israel. Deshalb demonstrierten Kurd(inn)en auch vor dem israelischen Generalkonsulat in Berlin. Dabei wurden Sema Alp, Ahmet Acar, Mustafa Kurt und Sinan Karakus vom Wachpersonal des Konsulates erschossen, mehr als 20 Personen durch Schüsse von hinten zum Teil schwer verletzt. Videofilme und Zeugenaussagen belegen, dass von der behaupteten Notwehr keine Rede sein kann. Die Wachleute hatten vielmehr wahllos auf die Demonstrierenden geschossen. Die Täter wurden bis heute dank ihrer diplomatischen Immunität nicht zur Rechenschaft gezogen, die überlebenden Kurd(inn)en hingegen inhaftiert.
Den bundesweiten Protesten folgten Tausende von Festnahmen, Verurteilungen durch Schnellgerichte wie in Baden-Württemberg, unzähligen Ermittlungsverfahren, Demonstrationsverbote und Vereinsschließungen. Nur zwei Wochen nach den Aktionen wurden sechs an den Protesten beteiligte Kurden in die Türkei abgeschoben und dort festgenommen.
In dieser Zeit registrierte AZADI bundesweit über 100 Gefangene.

Historische Schritte

Nach der Erklärung der PKK im Jahre 1999 zur einseitigen Einstellung des bewaffneten Kampfes, wurde im Februar 2002 ihre Auflösung beschlossen. Sie betrachtete ihre historische Aufgabe als erledigt. Vor dem Hintergrund der durch die Anschläge des 11. September 2001 entstandenen neuen politischen Entwicklungen und Einwirkungen – vornehmlich im Nahen und Mittleren Osten – erfolgte im April 2002 die Gründung des „Kongresses für Demokratie und Freiheit in Kurdistan“ (KADEK). Konkreter Ausdruck dieser strukturellen und strategischen Veränderungen ist seither die Konzentration des Kampfes auf der politischen Ebene. In den vergangenen Jahren entwickelte der KADEK zahlreiche friedenspolitische Initiativen, Projekte zur Demokratisierung der Türkei und Vorschläge zur friedlichen Lösung der so genannten Kurdischen Frage.

Seit Jahren zeigen Kurdinnen und Kurden in Deutschland ihren ausdrücklichen Willen, mit demokratischen und friedlichen Mitteln auf ihre Probleme und deren Lösungen aufmerksam zu machen. Eine Anerkennung finden diese Bemühungen jedoch kaum. Die Praxis der Strafverfolgungsbehörden ist unverändert. Sie und die Bundesregierung erklären den KADEK kurzerhand zur Nachfolgeorganisation der PKK und legitimieren auf diese Weise die Aufrechterhaltung der Verbote. Nicht zuletzt folgen sie mit dieser Politik der Linie der Türkei und USA, die den KADEK ebenso wie zuvor die PKK als „terroristisch“ einstufen.
Nur wenige Wochen nach Auflösung der PKK und Gründung des KADEK beschloss der Rat der EU am 2. Mai 2002, die PKK auf die „Liste terroristischer Personen und Organisationen“ zu setzen. Nach Artikel 2 der EG-Verordnung Nr. 2580/2001 sind „terroristisch“ Personen und Organisationen, „die eine terroristische Handlung begehen oder zu begehen versuchen oder sich an deren Begehung beteiligen.“ Diese Definition ist einseitig und vernachlässigt vollkommen in bestimmten Situationen und durch das Völkerrecht abgedeckte legitime Widerstandshandlungen. Diesen Beschluss der EU hat die rot/grüne Bundesregierung mitgetragen, obgleich die PKK vom Generalbundesanwalt (GBA) Ende 1997 von einer „terroristischen“ auf eine „kriminelle“ Vereinigung (§ 129 StGB) herabgestuft wurde. Dies geschah vor dem Hintergrund von Erklärungen des PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan aus dem Jahre 1996, in Deutschland künftig auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten. Die zum Teil gewalttätigen Aktionen von Kurdinnen und Kurden in Deutschland – z.B. Anschläge oder Autobahnblockaden – hatte er als Fehler bezeichnet.

Die Verbotsgründe von 1993 waren damit eigentlich beseitigt, doch führte die Rückstufung der PKK keineswegs zu einem Rückgang der Strafverfolgung, sondern im Gegenteil zu einer Ausweitung. Das tragende Argument ist die Aufrechterhaltung der Strukturen und Funktionsfähigkeit der Organisation.

Rot/grün macht alles anders?

Am grundsätzlichen politischen Verhältnis zur Türkei hat die rot-grüne Bundesregierung wenig geändert, wenn auch in den Berichten des Auswärtigen Amtes zur Lage der Menschenrechte in der Türkei etwas ausführlicher auf deren Verletzungen hingewiesen wird. Doch teilt die Bundesregierung offensichtlich die Position der Türkei, wonach von der Identität der PKK mit dem KADEK auszugehen sei und somit eine bruchlose Kontinuität vorliege. Das Auswärtige Amt behauptet in seinem Bericht vom Oktober 2002, die (zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierende) PKK wende „nach innen wie außen terroristische Methoden“ an, obgleich es die Kategorisierung „terroristisch“ im Zusammenhang mit der Organisation in der BRD – wie schon erwähnt – seit Ende 1997/Anfang 1998 gar nicht mehr gibt.

Das Schweigekartell

Niemand hat wirklich daran geglaubt, unter der Regierung Kohl könnte das PKK-Verbot aufgehoben werden. Um so mehr Hoffnungen hatten sich die viele Kurdinnen und Kurden gemacht, als es im September 1998 nach den Bundestagswahlen eine Mehrheit für rot/grün gab und wenige Wochen später die neue Bundesregierung ihre Arbeit aufnehmen konnte.
Trotz aller zuvor häufig geäußerten Beteuerungen insbesondere von Seiten grüner, aber auch einzelner SPD- Politiker/innen über die Notwendigkeit einer Aufhebung der Verbote, blieb die Gesellschaft der Demokrat(inn)en und Bürgerrechtler/innen stumm: Keine Initiative, keine Signale, kein auf-die-Bewegung-Zugehen, kein Dialogangebot. Das Problem wurde und wird bis heute weggeschoben auf die europäische Ebene bzw. weiterhin den Strafverfolgungsbehörden überlassen. Das Thema PKK/Kurden hat keine öffentliche Aufmerksamkeit, es gibt keinen gesellschaftlichen Druck auf die Regierung. Die Solidarität mit den Kurdinnen und Kurden hält sich sehr in Grenzen. Hat das Verhalten der politisch Verantwortlichen in der BRD bei den Kurd(inn)en immer wieder Anlass gegeben zu Misstrauen und großer Enttäuschung, gilt dies leider auch im Verhältnis zur deutschen Bevölkerung. Aus diesem Grunde fühlen sich sehr viele alleine gelassen in ihrem Kampf um Anerkennung und die Gewährung von Grundrechten.
Das Thema erscheint höchstens als Randnotiz in Tageszeitungen, wenn wieder einmal ein kurdischer Politiker verhaftet oder zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Selbst linke Zeitungen bemühen sich in diesen Fällen nicht um eine Berichterstattung und Beleuchtung des politischen Hintergrundes, sondern übernehmen der Einfachheit halber die Texte von Agenturmeldungen.

Statt Bewegung starr verharren

AZADI betreut zur Zeit neun Gefangene, die sich wegen des Vorwurfs der (PKK)-Mitgliedschaft in einer „kriminellen Vereinigung“ (§ 129 StGB) in U- oder Strafhaft befinden. In den Anklageschriften der jüngsten Verfahren wird dieser Vorwurf bereits auf den KADEK ausgeweitet.
Gegen Salih H. läuft derzeit ein Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf und vor dem OLG Celle gegen Hasan A. und Ali K. Allen wird vorgeworfen, Mitglieder und Funktionäre von PKK/KADEK gewesen zu sein. Sie sind angeklagt nach § 129 StGB. Die beiden Celler Angeklagten befinden sich in Haft, Salih H. ist auf freiem Fuß.

Ende Mai/Anfang Juni 2001 wurde die Identitätskampagne „Auch ich bin PKK’ler/in“ gestartet. Alleine in Deutschland hatten sich über 40 000 Menschen an dieser europaweiten Kampagne beteiligt. Mit ihrer Unterschrift unter die Selbstbezichtigung forderten Kurdinnen und Kurden die europäischen Staaten auf, ihre Rolle bei der Lösung der kurdischen Frage zu spielen, die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien nicht nur von der Türkei zu verlangen, sondern auch selbst anzuwenden und den Kurden einen politischen Status zu gewähren. Insbesondere die Verbotspolitik Deutschlands und Englands gegenüber der PKK sei eine destruktive Haltung, mit der sich diese Länder „in den Kontext der gegen das kurdische Volk geführten Vernichtungs- und Verleugnungspolitik“ stelle.
Des weiteren bekundeten diejenigen, die die Erklärung unterschrieben hatten, dass sie den neuen von der PKK eingeschlagenen Weg des friedlichen und politischen Kampfes unterstützen. Weil „die PKK in einem Zeitraum von zwei Jahren keine einzige Aktion unter Anwendung von Gewalt durchgeführt“ habe, forderten die Unterzeichner/innen „die Aufhebung sämtlicher Verbote, die sich gegenüber der PKK in Anwendung befinden“ und
„Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“.
Den Schluss der Erklärung bildete die scharfe Verurteilung des „gegen die PKK ausgesprochenen Verbots und die strafrechtliche Verfolgung der Mitgliedschaft in der PKK sowie der strafrechtlichen Verfolgung der aktiven Sympathie für die PKK“. Um den demonstrativen Charakter der Identitäts-Kampagne zu unterstreichen, wird mit der Unterschrift erklärt, das PKK-Verbot nicht anzuerkennen und sämtliche Verantwortung zu übernehmen, die sich daraus ergibt.

Der Umgang der Strafverfolgungsbehörden in Deutschland ist nicht einheitlich. Es muss davon ausgegangen werden, dass alle geprüft werden, die ihre Unterschrift unter diese Erklärung gegeben haben. In Nordrhein-Westfalen z. B. werden– auch das regional unterschiedlich – die Ermittlungsverfahren gegen jene eingestellt, über die den Behörden keine „Erkenntnisse“ über mögliche politische Aktivitäten vorliegen. Ist dies jedoch der Fall, wurden und werden Kurd(inn)en wegen des Verstoßes gegen das Vereinsgesetz angeklagt und in der Regel zu Geldstrafen verurteilt. In einem Fall hat das Landgericht Düsseldorf eine Kurdin zu einer Strafe von 600 Euro verurteilt. Gegen dieses Urteil hatte ihr Verteidiger Widerspruch eingelegt, das jedoch am 28. März 2003 vom Bundesgerichtshof (BGH) bestätigt wurde. Nach Auffassung der Richter sei zwar die Forderung nach Aufhebung des PKK-Verbots vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, doch müsse bei dieser Kampagne von einer „PKK-gesteuerten“ Aktion ausgegangen werden, die deshalb gegen das Vereinsgesetz verstoße. Die vom LG Düsseldorf verhängte Strafe sei mithin rechtens gewesen. Nach Vorliegen des schriftlichen Urteils wird die Verteidigung Überlegungen anstellen, diese Angelegenheit vom Bundesverfassungsgericht klären zu lassen.

Die BGH-Entscheidung stärkt zweifelsohne das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen Kurdinnen und Kurden und deckt sich mit der Haltung der Bundesregierung – insbesondere von Innenminister Otto Schily – , keine Aufweichung des seit 10 Jahren bestehenden Verbotes zuzulassen.

Doch die Repression hinsichtlich einer Beteiligung an der Identitätskampagne geht noch einen Schritt weiter: Zunehmend werden Fälle bekannt, in denen Ausländerbehörden Kurdinnen und Kurden den Status eines unbefristeten Aufenthaltes aberkennen und ihnen nur noch eine Duldung gewähren. Diese Maßnahme kann z. B. nicht nur den Familienvater treffen, der unterschrieben hat, sondern auch dessen Ehefrau und die Kinder, die sich nicht beteiligt haben. Asylanwältinnen und -anwälte berichten zunehmend auch davon, dass einstige Zusagen für Einbürgerungen allein wegen der Unterschrift unter die Selbstbezichtigung neu geprüft und – schlimmstenfalls – verweigert werden.

Was tun?

Es kann also keine Rede davon sein, dass sich die Lage für Kurdinnen und Kurden in Deutschland normalisiert hat. Aus diesem Grunde haben sich Menschen aus der Kurdistan-Solidarität bereit gefunden, anlässlich des 10. Jahrestages des PKK-Verbots eine Reihe von Aktivitäten zu entwickeln, um die Öffentlichkeit trotz der eingangs beschriebenen Schwierigkeiten erneut auf die Probleme aufmerksam zu machen, mit der ein Teil der hier lebenden Bevölkerung konfrontiert ist.
Geplant ist eine Konzertreihe mit Gruppen aus Kurdistan, Italien, dem Baskenland und Deutschland. Sie soll von August bis September 2003 in verschiedenen Städten der BRD stattfinden.
Außerdem ist eine Ausstellung vorgesehen, die sich in die Bereiche Vorbereitung des Verbots, das Verbot und dessen Auswirkungen gliedert. Mit einer Bildchronologie soll die Geschichte der Repression gegen die kurdische Bewegung dargestellt werden. Des weiteren sollen Verbotsverfügungen, Transparente, Plakate, Durchsuchungsbefehle und Fotos zusammengetragen und gezeigt werden. Hierzu sind alle aufgerufen, entsprechendes Material an die Informationsstelle Kurdistan (ISKU), Schanzenstr. 117, 20357 Hamburg, zu senden.
Diese Ausstellung soll anderen Gruppen und kurdischen Vereinen angeboten und ausgeliehen werden können.

Außerdem wird eine Broschüre mit dem Titel „10 Jahre PKK-Verbot – und kein Ende? – Ein Anachronismus mit Folgen“ erscheinen. Herausgeber/in sind: Die Humanistische Union, die Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland YEK-KOM und der Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden AZADI e.V. Sie soll in einer Auflage von 3.000 Exemplaren kostenlos verteilt werden. Die Rote Hilfe hat sich neben einer finanziellen Beteiligung auch bereit erklärt, den Vertrieb der Broschüre zu übernehmen.
Die geplante Broschüre soll aufzeigen, dass das PKK-Verbot nicht nur tief in die Grundrechte der Kurdinnen und Kurden eingegriffen hat, sondern sich auf alle Bürgerinnen und Bürger dieser Republik auswirkt. Die im Zuge des Anschlags vom 11. September 2001 eiligst beschlossenen Anti-Terror-Pakete bedeuten ohne Zweifel weitere massive Verschärfungen, insbesondere für Ausländerinnen und Ausländer, zumal, wenn sie sich hier politisch betätigen wollen.
Die Autor(inn)en werden in ihren Beiträgen das PKK-Verbot und seine Folgen unter den verschiedenen Aspekten beleuchten: die deutsch-türkischen Beziehungen, das Verbot im Bundestag, die Sicht der Betroffenen, die Geschichte des § 129 StGB, der Blickwinkel eines ehemaligen Gefangenen in Deutschland, der staatliche „Anti-Terror“-Kampf, die Bedeutung des § 129 StGB in Verfahren gegen kurdische Politiker oder die Auswirkungen auf die Asyl- und Ausländerpolitik.

Fantasie für einen Anfang?
Über den Schatten springen

Wir wollen mit unseren Aktivitäten zeigen, dass es Menschen gibt, die nicht bereit sind, die Verbotspolitik dieser und der beiden vorangegangenen Bundesregierungen als gegeben hinzunehmen. Die demokratische Öffentlichkeit ist aufgerufen, den Problemen und Ungerechtigkeiten gegenüber eines Teiles der Bevölkerung in Deutschland nicht länger gleichgültig gegenüber zu stehen. Es muss endlich anerkannt werden, dass die kurdische Bewegung in den vergangenen vier Jahren Entscheidungen von historischer Bedeutung getroffen, dass sie ihre Fähigkeit zu politischer Weitsicht und Klugheit unter Beweis gestellt hat und sie trotz zahlreicher Provokationen und Zumutungen an ihrer Perspektive einer Demokratisierung nicht nur der Türkei, sondern der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens festhält. Und dies erst recht vor dem Hintergrund der imperialistischen Aggression gegen den Irak, der den Menschen Tod, Leid und Zerstörung gebracht hat.
Die friedenspolitischen Ziele und Projekte des KADEK und dessen Angebote zu konstruktiven, die demokratischen Entwicklungen vorantreibenden Dialogen dürfen von den politisch Verantwortlichen in Europa, insbesondere auch in Deutschland, nicht länger ausgeschlagen und ignoriert werden. Zu einer friedenspolitischen Orientierung gehört die Bereitschaft, auch auf die Menschen der kurdischen Bewegung zuzugehen und Barrieren im Denken und Handeln zu überwinden. Die Kurd(inn)en haben diesen Schritt getan, jetzt ist die Bundesregierung am Zuge.
Die Aufhebung des PKK-Verbotes anlässlich seines 10-jährigen Bestehens könnte der Anfang sein.

Monika Morres
Rechtshilfefonds für Kurdinnen und
Kurden in Deutschland, AZAD e.V.


 
AZADI  Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden e.V., Lindenthalgürtel 102, 50935 Köln 
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