9. Juli 2020
Der Verfassungs„schutz“bericht:
The same procedure as every year
Es ist unvermeidliches Sommertheater: Ein Innenminister tritt auf die Pressebühne und verlautbart, was er, sein Ministerium, die nachgeordneten Geheimdienste oder Strafverfolgungsbehörden aus überwiegend öffentlich zugänglichen Informationen zusammengetragen haben.
Dass eine große Gefahr vom Rechtsextremismus ausgeht, ist beileibe nichts Neues. Zu den Hintergründen über Neonazi-Organisationen und -Gruppen, rechte Kampfzellen und ihre terroristischen Aktivitäten als auch deren internationales Netzwerk, recherchieren und arbeiten seit Jahrzehnten sowohl Journalist*innen als auch zahlreiche Antifaschist*innen und Antifa-Archive und Dokumentationszentren. Sie waren und sind es auch, die Strukturen aufgedeckt haben und die Rolle des Geheimdienstes beim Aufbau von rechten Mörderbanden ans Tageslicht gebracht haben oder die erstaunte Regierung mit Berichten über rechte Netzwerke bei der Polizei oder der Bundeswehr überraschen konnten. Dass der VS jetzt verstärkter hiergegen vorgeht, kann begrüßt werden. Doch sind die Erfahrungen mit dem Geheimdienst im Umgang mit dem Rechtsextremismus/-terrorismus eher negativ.
Jahrzehntelang haben Politiker*innen und Staatsangestellte die Augen verschlossen vor diesen Wahrheiten oder Stillschweigen gewahrt, weil sie sich anderenfalls zu sehr mit ihren Versäumnissen und Fehlentwicklungen hätten auseinandersetzen müssen. Der Verfassungsschutz basiert seit seiner Gründung auf einer Tradition, die sich primär gegen antikommunistische, antisozialistische und antilinke Strömungen und als „Extremisten“ stigmatisierte Personen richtet, weshalb der Blick nach rechts getrübt blieb. Schließlich wurde der Geheimdienst in den 1950er Jahren von Altnazis, ehemaligen Angehörigen der Gestapo und der SS gegründet. Das Verbot der KPD von 1956 und in der Folgezeit die extensive Verfolgung von Kommunist*innen, selbst jenen, die in der NS-Zeit inhaftiert und gefoltert wurden, waren Ausdruck dieser einseitigen Ausrichtung. Über die 1970er Jahre bis heute bekämpfen die Dienste mit aller Energie ihren „inneren Feind“, den sie primär bei den Linken und besonders bei linken oder revolutionären ausländischen Gruppen und Organisationen wie der PKK, DHKP-C oder der TKP/ML ausgemacht haben.
Vor wenigen Tagen hatte Michael Rubin, ein US-amerikanischer Forscher des American Enterprise Institute und ehemaliger Pentagon-Mitarbeiter vor dem American Religious Freedom Committee vorgeschlagen, die PKK von der US-Terrorliste zu streichen. Er übte harsche Kritik an der Propaganda der Türkei hinsichtlich der kurdischen Autonomieverwaltung in Syrien, die von der US-Regierung und ihm selbst einfach übernommen worden sei. Er äußerte in einem Interview mit North Press: „Offen gesagt, die Vereinigten Staaten sollten auch die Türkei neu bewerten. NATO-Mitglied oder nicht, es scheint immer mehr, dass die Türkei eine Definition von Terrorunterstützung mehr erfüllt als die PKK“. Jeder neue US-Präsident könne „den Kurs umkehren, aber die Kurden hätten Grund, nie wieder den Versprechungen der USA zu vertrauen“, fügte er hinzu.
Diese Aussagen von Rubin als auch das höchstrichterliche, ausführliche Urteil des belgischen Kassationshofs vom 28. Januar dieses Jahres, wonach es sich bei der PKK um keine terroristische Organisation handelt, sondern um eine Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im völkerrechtlichen Sinne, sollte sich die Bundesregierung zum Vorbild nehmen und ihre kurdenfeindliche Politik, die sie seit 27 Jahren verfolgt, endlich beenden.
Wenn sich der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz bei der Vorstellung des Jahresberichts entsetzt gezeigt hat über die bestehende Gewaltbereitschaft „bei allen Phänomenen“, so sei angemerkt, dass nichts gewalttätiger und tödlicher ist als das schmutzige Geschäft mit Waffen und Rüstungsgütern in alle Welt. Erst kürzlich wurde öffentlich, dass Deutschland im vergangenen Jahr allein an die Türkei Kriegswaffen im Wert von 344,6 Millionen Euro geliefert hat, die dann bei den Kriegszügen des Regimes in Nordsyrien und im Nordirak zum Einsatz kommen. Damit muss sich die Bundesregierung vorwerfen lassen, mitverantwortlich zu sein für den Tod von Menschen.
In diesem Kontext muss auch die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden in Deutschland gesehen werden – als Unterstützungshandlung für das türkische Regime, das mit staatsterroristischen Methoden gegen die eigene Bevölkerung vorgeht.
Gewalttätig unterwegs sind in Deutschland und anderen europäischen Ländern auch die Schergen des türkischen Geheimdienstes MIT, die Kurd*innen, linke und regimekritische Oppositionelle diffamieren, bedrohen und körperlich attackieren – wie jüngst in Wien. Erinnert sei an die Ermordung der drei kurdischen Aktivistinnen in Paris im Januar 2013 durch einen Täter des MIT.
Dass es dem Inlandsgeheimdienst nicht unbedingt um den „Schutz“ der Verfassung geht, hat der Rechtsanwalt und Publizist Dr. Rolf Gössner in einem Beitrag zum 40jährigen Bestehen des RAV so ausgedrückt: „Sobald Geheimdienste ihre Finger im Spiel haben, sind Demokratie, Bürgerrechte und Rechtsstaat gefährdet, bleiben Aufklärung und Wahrheit zwangsläufig auf der Strecke.“