15. Juni 2021
Verfassungschutzbericht 2020: Diffamierung und Stigmatisierung
Heute stellten Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und der Bundesverfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang den Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 der Öffentlichkeit vor.
Das Erstarken der extremen Rechten während der Corona-Pandemie war hauptsächlich Thema der Pressekonferenz, aber der Bericht macht deutlich, dass der Verfassungsschutz und das Bundesinnenministerium weiterhin linke und migrantische Bewegungen als Feindinnen der Verfassung und des Staates ausmachen und verfolgen. Allen voran sei die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für die innere Sicherheit in Deutschland „aufgrund gewalttätiger Aktionen in der Heimatregion“ von herausgehobener Bedeutung (S. 257).
Dass der Verfassungsschutz das Wort Kurdistan in seinem Bericht nur in Anführungszeichen verwendet (S. 264), zeigt, wie sehr er auf einem ideologischen Standpunkt der 1990er Jahre zurückgeblieben ist. Er braucht Feinde, um seine Daseinsberechtigung selbst zu schaffen. Also zeichnet er sich ein Feindbild, das mit der Realität und den Bedrohungen für die Verfassung wenig zu tun hat.
Das fängt bei der Sprache an: Wer von „Indoktrinieren“, „Rekrutieren“, „autoritärer Führung“ oder „Alleinvertretungsanspruch“ schreibt, hat kein Interesse daran, eine politische Bewegung oder ein historisch-gesellschaftliches Phänomen wie die kurdische Frage zu verstehen, sondern das Ziel, eine Bewegung zu diffamieren und zu stigmatisieren.
Sogar das Engagement kurdischer Selbstorganisationen zur Aufklärung der kurdischen Community in Europa bzgl. der Corona-Pandemie in kurdischer Sprache wird als Versuch der PKK dargestellt, diesen unterstellten Alleinvertretungsanspruch geltend zu machen (S. 262 f.).
Weiter geht es mit den Zahlen, die bewusst verkürzt dargestellt werden. Bezüglich des Protestmarsches der kurdischen Jugend im September 2020 etwa wiederholt der Verfassungsschutz die Darstellung der Polizei:
„Die rund 90 Teilnehmer hatten den Marsch unterbrochen und beabsichtigten, ab Lüneburg (Niedersachsen) einen Teil der Strecke mit dem Zug zurückzulegen. Da die Gruppe weder im Besitz von gültigen Fahrscheinen war, noch der Pflicht zum Tragen des Mund-Nasen-Schutzes nachkam, wurde sie vom Zugpersonal von der weiteren Fahrt ausgeschlossen. Dem widersetzte sie sich in aggressiver Weise. Auch gegenüber der in der Zwischenzeit hinzugerufenen Polizei agierte die Gruppe am Bahnhof in Bardowick (Niedersachsen), wo der Zug außerplanmäßig angehalten hatte, gewalttätig mit Schlägen und Tritten. Es wurden zahlreiche Strafverfahren wegen Körperverletzung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und des Erschleichens von Leistungen eingeleitet. (S. 265)“
Tatsächlich wurden die allermeisten Verfahren wegen Erschleichens von Leistungen eingeleitet, wovon jedoch ein Großteil bereits eingestellt wurde, ohne dass sich die Vorwürfe bestätigt hätten. Laut Verfassungsschutz wurden im gesamten Jahr 2020 in ganz Niedersachsen für den Bereich „ausländische Ideologie“ lediglich 10 Gewalttaten gezählt (S. 45). Die Zahl der Ermittlungsverfahren, die wegen des Angriffs der Polizei auf den Protestmarsch in Bardowick wegen Körperverletzung oder Widerstand eingeleitet wurden, dürfte also ziemlich niedrig sein. Zu Verurteilungen ist es unseres Wissens nach bisher nicht gekommen.
Dass hingegen die Anzahl der Verstöße gegen das Vereinsgesetz – etwa durch das Zeigen von Symbolen – im Bereich „ausländische Ideologie“ von 612 Verstößen in 2019 auf 169 Verstöße in 2020 gesunken ist (S. 44), greift der Verfassungsschutz im Abschnitt zur PKK nicht weiter auf, obwohl wohl die meisten Strafverfahren nach § 20 Vereinsgesetz gegen Kurd*innen geführt werden dürften.
Ganz umhin kommt der VS nicht, die Ziele der PKK zu benennen: „Kernforderung der PKK ist unverändert die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren Siedlungsgebieten. (S. 261)“. Diese werden jedoch nicht als legitime Forderungen anerkannt. Stattdessen wird die PKK als „terroristische Organisation“ diffamiert, wobei vor allem die türkischen Militäroperationen Erwähnung finden, ihr völkerrechtswidriger Charakter aber verschwiegen wird.
Die Denkweise, die hinter dieser feindseligen Darstellung steht, reduziert jegliches kurdisches Engagement in Deutschland auf eine vermeintliche Zugehörigkeit zur PKK. Ob die Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland (KON-MED) mit ihren fünf regionalen Föderationen und den lokalen Gesellschaftszentren, die kurdische Jugendbewegung, der Dachverband der kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E), die Studierenden-Organisationen oder Verbände von Religionsgemeinschaften, sie alle sind in den Augen des Verfassungsschutzes gleichzusetzen mit der PKK, obwohl sie nach dem Vereinsrecht anerkannte und eingetragene Vereine sind. Damit kriminalisiert der Verfassungsschutz weiterhin eine migrantische Community mit über 1 Millionen Mitgliedern, indem er sie mit dem Stigma „Kurd*innen = PKK = Terror“ belegt.
Auch den Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. führt der Verfassungsschutz seit 2015 in seinen Berichten unter der Rubrik „Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern (ohne Islamismus)“.
Der Verfassungsschutz ist ein politischer Akteur, der migrantische und linke Bewegungen diffamiert und verfolgt, statt die Verfassung zu schützen. Seine Auflösung ist in unseren Augen die einzig richtige Konsequenz.