Der Diskurs der "Inneren Sicherheit" steht seit einigen Jahren hoch im Kurs.
War früher der bolschewistische Ostblock oder umgekehrt der imperialistische Klassenfeind das Schreckensszenario, was die innere Sicherheit gefährdete, lebt heute der Diskurs der "Inneren Sicherheit" von anderen Feinden. Der "Asylantenflut" wurde schon 1993 mit der Änderung im Grundrecht effektiv begegnet, was die "Angst" der deutschen Bevölkerung vor allen Fremden aber nicht bremsen konnte, denn weitere rassistische Gesetzgebungen folgten und der rassistisch motivierten Eigeninitiative einiger Deutschen fielen weitere Menschen zum Opfer. Doch die Gefahr für die innere Sicherheit lauert überall: "albanische Drogenmafia", "rumänische Schmucklerbanden", "polnische Autoschieber", "gewaltbereite Jugendliche", "Penner", "Schmierfinken", "Autonome".
Neue Gesetze mußten her: Lauschangriff, schärfere Länderpolizeigesetze, Ausweitung polizeilicher Befugnisse, allgemeines Kontrollrecht, Vorbeugegewahrsam, Einschränkung des Demonstrationsrechtes, Videoüberwachung öffentlicher Plätze, polizeiliche Verfolgung von SchulschwänzerInnen, Gendatenbanken, Reiseeinschränkung für Hooligans etc.
Doch uns ist aufgefallen, das der herkömmliche Begriff Überwachungsstaat das Phänomen nicht erfaßt. Es ist nicht allein der Staat, der Menschen normiert und überwacht, der Menschen ausgrenzt und gegen sie vorgeht. Der Sicherheitswahn durchzieht einen Großteil der Gesellschaft. Unser Hauptaugenmerk soll sich daher gegen die Überwachungsgesellschaft richten.
Den Vorstellungen einer herrschaftsfreien Gesellschaft stehen heutzutage nicht mehr offensichtlich absoluter Staat oder die Bourgeoisie von vor 150 Jahren entgegen. Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse reproduzieren sich quer durch die Gesellschaft. In Familie, Schule, Uni, Fabrik, Militär etc. Zu leiden haben in erster Linie die, die bestimmte Kriterien nicht erfüllen können oder wollen, und nicht in die ihnen zugewiesenen Rollen schlüpfen wollen. Männlich, weiß, heterosexuell, arbeitsam, diszipliniert und gesund sind beste Kriterien, die eine gute Ausgangslage garantieren.
Disziplinierungstechniken von gestern ergeben mit neuen von heute ein komplexes Kontrollsystem, dem sich einzelne kaum noch entziehen können. Das harte Regime des Lernens, Lebens und Arbeitens, welches seine Vollendung im Arbeitstakt der Fließbänder fand wird heute ersetzt oder ergänzt durch Methoden, die keine sklavische Unterwürfigkeit erfordern und doch funktionieren, besonders dann, wenn die Teilnehmenden mitmachen. Und bekanntlich machen die meisten mit, da sie es aus ihrer Familie, Schule und Uni nicht besser kennen. Teamwork, Sozialarbeit, Dresscode etc. regeln heute zusätzlich Konformität und Leistungsbereitschaft und suggerieren zugleich Gleichheit und Freiheit. Doch das war es noch nicht, was Überwachungsgesellschaft ausmacht.
Ein großer Teil der Identität wird heutzutage aus Konsumfähigkeit und -sicherheit gespeist. Nicht umsonst schreitet in den Bereichen von Konsum und Eigentumssicherung die Überwachung ideologisch und technisch am schnellsten fort. Die Armut stört. Niemand will sie in den glänzenden Einkaufszentren sehen oder von ihr bedroht werden. Nicht selber in Armut zu verfallen, fördert wieder die eigene Anpassung an die Gemeinschaft, um ja dazu zu gehören. Der Kapitalismus schafft unterschiedliche Besitzschichten. Das führt zu Konflikten, denen repressiv vorgebeugt wird. Sicherheitspartnerschaften zwischen Geschäften, Polizei und privaten Sicherheitsdiensten gehören heute zu Innenstädten, wie das Schengener Abkommen zu Europa gehört, um sich vor Menschen zu schützen, die mit ihrer Armut in der Festung Europa nicht erwünscht sind. Hier sei nur an das Schengener Informationssystem (SIS) erinnert, daß zu 90 Prozent mit Daten von Personen gefüllt ist, deren Einreise nicht erwünscht ist, und von sämtlichen Behörden, Polizei und Soldaten ergänzt und benutzt wird.
Das moderne Marketing als Ausdruck der Identitäts- und Wertevermittlung im ökonomischen System des Kapitalismus tut sein übriges, um Werte zu pushen. Konsum und Besitz bestimmen die Stufe des sozialen Seins, verkörpern Sicherheit und Zufriedenheit im Leben.
Aber nicht nur Kaufkraft und Besitz, auch eine Vielzahl traditioneller Werte und Identitätsmuster verursachen den Wahn nach mehr Sicherheit. In Sachsen beispielsweise wurden wieder Kopfnoten in der Schule eingeführt. Ordnung, Disziplin, Mitarbeit und Fleiß, auch deutsche Sekundärtugenden genannt. Dieser Wahn schafft eine Identität, der diejenigen zum Opfer fallen, die aufgrund ihrer Herkunft nicht dazu gehören dürfen oder diejenigen, die diese Tugenden nicht erfüllen können und wollen. Die Überwachungsgesellschaft spiegelt also ökonomische, institutionalisierte und ideologisierte Herrschaftsverhältnisse wieder.
Linksradikale betrifft diese gesellschaftliche Realität ebenfalls. Wir sind eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung dieser Gesellschaft. Denn die Vorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft, stellt Kapitalismus, Patriarchat und Vaterland mit samt deren Institutionen immer wieder grundsätzlich in Frage. Es geht am Ende nicht darum, liberale Positionen, wie es die der individuellen Freiheit ist, zu verteidigen, aber darum, die Spielräume für unsere Handlungsfähigkeit nicht noch enger werden zu lassen.
Handlungsansätze sollen hier nicht tot geredet werden. Auch wenn die Überwachungsgesellschaft vielschichtig ist, sind einige Orte von Macht und Ordnung immer noch leicht lokalisierbar. Der Staat, die Polizei und die Bürgerinitiative für mehr Ordnung und Sicherheit sind als Zielflächen zunächst vorhanden. Die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse müssen uns aber dabei bewußt bleiben, um nicht nur einzelne Phänomene zu bekämpfen. Es wird sich zeigen, daß die Politik von Sicherheitshysterie und Überwachungswahn angreifbar ist.