Nach der Demo ist vor der Organisierung!Nachbereitungspapier zur bundesweiten Demonstration am 14.10.00 in Leipzig
An der bundesweiten Demonstration gegen Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn am 14.10. 2000 in Leipzig haben 3000 Personen teilgenommen. Wir, der AFBL (Antifaschistischer Frauenblock Leipzig) und das BgR (Bündnis gegen Rechts Leipzig), bedanken uns bei allen Gruppen, die sich an den Vorbereitungen zur Demonstration beteiligt haben. Nicht vorenthalten wollen wir Euch unsere Ergebnisse der Nachbereitung. Insbesondere geht es uns in diesem Papier um eine politische Einschätzung.
1999 wurde am Connewitzer Kreuz in Leipzig eine Kamera vom Ordnungsamt installiert. Connewitz gilt als Autonomenhochburg und wurde als ein Kriminalitätsschwerpunkt konstruiert. Um gegen diese Kriminalisierung und Überwachung anzugehen, gründete sich die "Kampagne zur Rückgewinnung öffentlicher Räume", der VertreterInnen verschiedener linker Connewitzer Projekte und Gruppen angehörten. Mittels Demos und anderer Aktionen gelang es solchen Druck auf die Stadt auszuüben, daß die Kamera abgebaut wurde. In der Auseinandersetzung mit dem Thema Überwachung ergab sich die Notwendigkeit von einer Überwachungsgesellschaft zu sprechen. Ökonomie, Bevölkerung und Staat, überall spiegelt sich die Entwicklung zu mehr Kontrolle, Sicherheit und Normierung wieder. BgR und AFBL entschlossen sich, gemeinsam die Überwachungsgesellschaft durch eine bundesweite Demonstration zu thematisieren und anzugreifen. Bei der Analyse der Überwachungsgesellschaft ergaben sich Anknüpfungspunkte an Analysen zur rechten Alltagskultur, anhand derer das BgR bis dato seine Politik bestimmt hatte. Mit Anknüpfungspunkten ist der Wunsch der Bevölkerung nach mehr Staat, Ordnung und Sicherheit, sowie die Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen, die nicht in das Weltbild des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung passen, gemeint. Doch allein mit dem Bezug auf nationale Besonderheiten ist das Phänomen Überwachungsgesellschaft nicht zu erklären. Die Überwachungsgesellschaft ist viel mehr ein Phänomen moderner Industrienationen. Unser Standpunkt orientiert sich daher hauptsächlich an einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Wir gehen in unserem Aufruf und unserer Broschüre u.a. auf die ökonomischen Interessen, KundInnendaten zu verwerten, Orte des ungestörten Konsums zu schaffen und die Arbeitskraft der Menschen durch Überwachung und Kontrolle effektiver zu nutzen, ein. Wir greifen die Festung Europa an, deren Grenzen aufgerüstet werden, um die kapitalistische Weltordnung und den damit einher gehenden Reichtum Europas vor MigrantInnen zu schützen. Wir verweisen auf die forcierte Integration aller Menschen in das Regime des Lernens, Lebens und Arbeitens in einer kapitalistischen Gesellschaft. Und wir gehen auf die Reproduktion patriarchaler Verhältnisse in einer Überwachungsgesellschaft ein, da der schon existierende Normierungsdruck auf Frauen durch Überwachungstechniken verstärkt wird. Durch die Beschäftigung mit der Überwachungsgesellschaft haben wir uns ein weiteres Feld für eine linke Gesellschaftskritik eröffnet. Aus dieser Analyse heraus konnte auch eine klare Abgrenzung zu dem im Sommer diskutierten und praktizierten bürgerlichen Antifaschismus formuliert werden. Schließlich haben PolitikerInnen und Presse auf einmal mit Begriffen ("Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft") hantiert, die ursprünglich von links geprägt wurden. So läßt sich unsererseits aber schnell feststellen, daß die angebotenen Strategien der StaatsantifaschistInnen (verschärftes Demonstrationsrecht, Verbote, mehr Polizei, mehr Überwachung...) nicht in unserem Sinne sein können. Und die Diskussion um die Greencard zeigt, daß einige MigrantInnen jetzt zwar gewollt sind, aber nur, wenn sie unter kapitalistischen Gesichtspunkten nützlich sind. Als im Oktober 1999 in Leipzig der Verstärkerkongreß (bundesweiter Antifakongreß "zu Nazidominanz, kultureller Hegemonie und Möglichkeiten linksradikaler und antifaschistischer Strategien") stattfand, wußte noch niemand, daß es im Sommer 2000 zu einem "Aufstand der Anständigen" kommen würde. Aber schon damals hieß es im BgR-Nachbereitungspapier zum Kongreß: "Wesentlich war die als Gesamttendenz beobachtbare Verschiebung der antifaschistischen Ansätze weg von den Nazis und hin zur Thematisierung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse." Spätestens aber jetzt ist klar, daß die Vernachlässigung eigener Inhalte in die politische Bedeutungslosigkeit führen. Die politische Vermittlung unseres Themas war schwierig. Erfolgreich war bisher immer, mit einer direkten Betroffenheit argumentieren zu können. Durch eine rechte Alltagskultur und Nazis herrscht eine direkte Betroffenheit derjenigen, die dadurch bedroht sind. Die Bedrohung ist klar zu erfassen und durch Demonstrationen angreifbar. In Leipzig schaffte die Kamera eine direkte Betroffenheit einiger, die überwacht werden sollten. In Städten und besonders in der Provinz, wo solche Symbole noch nicht vorhanden sind, ist eine Bedrohung durch die Überwachungsgesellschaft nur abstrakt wahrnehmbar. Die Überwachungsgesellschaft erscheint vielschichtig und unkonkret. Wir lokalisieren zwar Angriffspunkte, wie Polizei, Behörden und BürgerInneninitiativen für mehr Sicherheit, doch ein mobilisierungsfördernder Aufhänger für die Demonstration fehlte. Eine Analyse, die auch nur darauf hinaus läuft, bösartige Symbole für Überwachungsgesellschaft zu benennen, liegt auch nicht in unserem Interesse, da diese bei weitem zu kurz greifen würde. Eine Vermittlung ist zusätzlich schwierig, da es erstens keine zureichend organisierte radikale Linke gibt und zweitens die Bereitschaft anderer Gruppen an einer bundesweiten Thematisierung und Mobilisierung mitzuwirken, gegen Null tendiert. Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel.
Die Mobilisierung und die radikale Linke
Die Antifa zeigte uns bei der Infotour ihr wahres Gesicht. Zu unseren Veranstaltungen kamen oft nur wenige BesucherInnen. In Kleinstädten gab es zumeist nur engagierte Einzelpersonen aber kaum noch verbindliche Strukturen. Die Gruppen in den Städten wollten selten Verantwortung für eine Mobilisierung übernehmen, gute Infrastrukturen fehlten, Jugendstrukturen waren nur selten vorhanden und gruppenübergreifende Kommunikation in und zwischen den Städten offenbarte sich häufig in gegenseitigen Vorwürfen. Eine Reflexion der eigenen Rolle innerhalb der Gesellschaft, und die Entwicklung daraus resultierender Handlungsansätze, war bei nur wenigen Gruppen bemerkbar. Die Einstellung Teil einer Radikalen Linken zu sein, sich einzubringen und einzubinden, scheint auch nur noch bei den wenigsten Gruppen vorhanden zu sein. Wir konnten kaum mit Gruppen zusammenarbeiten, konnten nicht im Vorfeld abklären, in wie weit das Thema bundesweit mobilsierungswirksam und relevant ist. Auch fehlende Kontinuität und Präsenz innerhalb der Radikalen Linken bewirkten, daß wir nicht an bisherige Erfahrungen, die mit dem Thema Überwachungsgesellschaft gemacht wurden, anknüpfen oder Gruppen für eine intensiven Zusammenarbeit finden konnten. Von Leipziger Antifajugendgruppen wurden wir zu recht kritisiert, weil die Vermittlung des Themas an Jugendliche schlecht lief. Eine Infoveranstaltung explizit für Jugendliche hätte es geben müssen, auch war das Mobilisierungsmaterial nicht sehr peppig.
Enttäuschend war die Resonanz auflagenstarker linker Medien. Besonders Jungle World und Konkret scheinen das Interesse an praktischer Politik verloren zu haben. Es gab im Vorfeld zwar Lippenbekenntnisse ihrerseits, herausgekommen ist eine Randnotiz in der Jungle World nach der Demo. Nur die Junge Welt hat uns maßgeblich unterstützt, indem sie unser Anliegen im Vorfeld gefeaturet hat. In den bürgerlichen Medien ist unser Thema zu meist auf den Protest gegen Überwachungskameras reduziert wurden. Fakt ist, daß Pressearbeit mit bürgerlichen Medien viel Ausdauer bedarf, um vielleicht mal eine Berichterstattung zu bekommen. In Leipzig hatten wir schon lange Zeit durch die Aktionen der "Kampagne zur Rückgewinnung öffentlicher Räume" auf uns aufmerksam gemacht. So stand in der lokalen Presse allerdings mehr über den Streit um die Demoroute als über unser Anliegen. Wie in allen bundesweiten bürgerlichen Medien, bloß ausführlicher, ging es in der Nachbetrachtung mehr um angebliche Krawalle als um unsere Inhalte. Zumindest kann gehofft werden, daß in zukünftigen kritischen Diskursen über Videoüberwachung, wie es sie in einigen Bundesländern schon gibt, Begriffe unserer Analyse Einzug halten. Auch muß weiterhin versucht werden, in die Öffentlichkeit zu gelangen, um präsent zu sein und linksradikale Positionen wach zu halten.
Neues Thema - neue BündnispartnerInnen. Unser Bündnis war knapp am Rande gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit. Hier haben wir einiges an Öffentlichkeit verschenkt. Einerseits lag es sicherlich daran, daß eine linksliberale Öffentlichkeit geschwunden ist, andererseits haben wir uns nicht genug um potentielle BündnispartnerInnen gekümmert, die beim Thema Überwachungsgesellschaft teilweise andere sind, als bei antifaschistischen Bündnissen. Wir hätten gewissenhafter auf Kräfte (z.B. aus den Innenstadtaktionsbündnissen und kritischen Anwaltsvereinigungen) zugehen müssen, um ein gesellschaftlich relevanteres Bündnis herstellen zu können.
Für den Ablauf der Demo ernteten wir viel Kritik. Die Kritik (Infrastruktur, Demokultur, politische Umgangsweise mit diversen Szenarien) war an vielen Punkten richtig. Zu allererst haben wir intern einsehen müssen, daß wir im Trubel der Vorbereitung den Demonstrationsablauf und gewisse Details ein wenig vernachlässigt haben. So hätte am Demoanfang ein größerer organisierter Block laufen müssen, der entschlossener, geschlossener und stimmungsvoller aufgetreten wäre. Auch eine andere Gestaltung der Lautsprecherdurchsagen hätte der Demokultur zuträglicher sein können. Die Lautsprecheransagen waren teilweise zu defensiv und den Situationen nicht angemessen. Wir hätten mehr positive Impulse und Selbstbewußtsein vermitteln müssen. Für eine Demokultur sind aber auch andere mitverantwortlich. Das Blöckekonzept wurde kaum umgesetzt. Es gab keinen größeren geschlossenen Block, der offensiver auftreten konnte und stimmungsvoll hätte agieren können. Mangelhaft, aber letztlich eine Wiederspiegelung realer Verhältnisse, war die Unterstützung im Vorfeld unserer Demonstration. Die Vorbereitungsreffen wurden von den meisten Gruppen ignoriert (auch am Demotag selber) und organisatorische Unterstützung fehlte gänzlich. Katastrophal waren die sexistischen Verhaltensweisen, die besonders Ordnerinnen mitbekommen mußten. Hier sind alle aufgefordert, bei den nächsten Demonstrationen die Verantwortung wahrzunehmen, solchen Verhaltensweisen entgegenzutreten. Die Reaktionen der Verantwortlichen im Lautiwagen auf den Redebeitrag der PalästinenserInnen sind Resultat einer Diskussion der Kooperation. Wenn antisemitische Äußerungen laut werden, war uns klar, daß darauf kritisch reagiert werden muß. Darunter fallen für uns Aussagen, die Israel das Existenzrecht absprechen, wie es bei dem Redebeitrag geschehen ist. Leider war es in dieser Situation nicht möglich, angemessen zu reagieren. Das Zustandekommen dieser Situation ist leider auch Resultat eines von uns verursachten Abspracheproblems, zwischen unserer Kooperation und "Kahina", der Gruppe, die den PalästinenserInnen-Redebeitrag gehalten hat. Nichts desto Trotz schätzen wir die Demonstration unter Einbeziehung derzeitiger Bedingungen als erfolgreich ein, und da die Linke derzeit qualitativ und quantitativ in einer Krise steckt, halten wir die TeilnehmerInnenzahl für hoch. Ausserdem ist uns eine Thematisierung und eine Event jenseits des Themas Antifaschismus gelungen. Die Erfahrungen aus der Demovorbereitung haben uns in unserem Anliegen, der Schaffung einer neuen bundesweiten Organisierung bestärkt.
Kooperation vom Bündnis gegen Rechts Leipzig (BgR) und dem Antifaschistischen Frauenblock Leipzig (AFBL) in Zusammenarbeit mit der Kampagne zur Rückgewinnung öffentlicher Räume
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