Einige Anmerkungen im Nachfeld zum Erfolg der Demonstration, ihrer politischen und organisatorischen Bedeutung sowie dem Erscheinungsbild
(...) Die ursprünglich inhaltlich fixierte Vorgabe für die Mobilisierung, den Muldentalkreis als Zentrum der Faschos ins antifaschistische Bewußtsein zu rücken, erweiterte sich mit der Zeit zu einer stellvertretenden Mobilisierung gegen die Erfolge der Nazis in den Ost-Provinzen. Dabei gelang es uns als Bündnis gegen Rechts (BgR) durchaus, das Organisierungsmodell der Muldentaler Fascho-Szene als ein zukunftsweisendes Szenario für die Entwicklung der Nazistrukturen aufzuzeigen. Wohlweislich unter der Prämisse, daß die Entwicklung dieser Strukturen im Muldentalkreis für unsere Begriffe "nur" am weitesten fortgeschritten ist.
Die Zahl der Demoteilnehmer darf dann auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade die real vorhandene alltägliche antifaschistische Ohnmacht gegenüber den Fascho-Aktivitäten viele Antifas nach Wurzen kommen ließ. Insofern konnte zumindest jenes antifaschistische Zeichen gesetzt werden, das gesetzt werden sollte. In Anbetracht der Einschätzung Steffen Hupkas nach der 95er Antifa-Demo in Quedlinburg war die Wurzen-Demo eine gebührende Antwort auf dessen Analyse der Antifa-Szene. Obwohl vielen als Motivation vielleicht unbewußt, ist dies ein sehr wichtiges Signal an die Adresse der Faschos - bundesweit. Die Demo als grundsätzlichen Erfolg zu werten, bedarf an dieser Stelle keiner ausführlicheren Erwähnung. Besonders hervorzuheben ist da schon eher die Einschätzung, daß tatsächlich unterschiedliche Antifa-Ansätze die Demo als Erfolg werten können. Eine Überrepräsentanz einzelner inhaltliche Antifa-Ansätze konnte gemäß dem Anspruch der Demo vermieden werden. So stand der vermittelnde Ansatz antifaschistischer Inhalte gleichberechtigt neben dem eher kritischen Blick auf die Bevölkerung, die Dimitroffsche Antifa-Position paritätisch neben der antinationalen u.s.f. Interessant ist dabei, daß genau dieses inhaltliche Sammelsurium tatsächlich die Verfaßtheit der Antifa-Szene widerspiegelt. Zu hoffen bleibt dann diesbezüglich, daß sich genau diese gegenseitige Akzeptanz in puncto antifaschistischer Aktionen Bahn bricht. Denn, nicht das Deckeln von Differenzen macht die Perspektive für die Antifa-Szene aus, sondern die Erkenntnis unterschiedlichster Ansätze und deren Respektierung. (...)
(...) Aufgrund der Gespräche mit der Polizei im Vorfeld ist der Einsatz in Wurzen selbst als insgesamt positiv einzuschätzen. Im ersten Gespräch wurden von Polizeiseite eine lockere Begleitung der Demonstration angekündigt. Es wurde deutlich gemacht, daß gegen "Straftäter" (Vermummung) in jedem Fall vorgegangen wir; Seitentransparente und Seile sollten in keinem Fall geduldet werden. Es wurden keine Zusagen gegeben, Fascho-Provokationen zu verhindern. Aufgrund dieses Gespräches mußte man mit einem Spalier und einem harten Vorgehen rechnen. Bei einem zweiten Treffen, am Morgen des Demotages, wurde im Gegensatz zum ersten Gespräch Zurückhaltung von Polizeiseite angekündigt. Ein Einschreiten gegen Vermummung sollte dennoch stattfinden. (...) Hier wurde auch die Zusage gegeben, Fascho-Provokationen zu verhindern. (...) Gegenüber der Vermummung hat sich die Polizei erstaunlich zurückgehalten. Es wurden zwar immer wieder die VersammlungsleiterInnen auf die Vermummung angesprochen, die auch ein Ende der Vermummung immer wieder zusagten, also auf Zeit spielten. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte sich dieses Thema weitgehend erledigt. Im Ergebnis wurde die Vermummung von Polizeiseite - wenn auch zwangsweise - geduldet.
Bei der Beurteilung des Polizeiverhaltens muß ganz entscheidend das Kräfteverhältnis zwischen DemoteilnehmerInnen und PolizeibeamtInnen berücksichtigt werden. Es wurde insgesamt mit einer wesentlich geringeren Beteiligung an der Demo gerechnet. Von daher war die Polizei - insbesondere auch aufgrund der engen Straßen - nicht in der Lage, gezielt in den Demonstrationszug zu greifen. (...) Der Einsatz gegenüber den Hamburger Bussen ist natürlich negativ zu beurteilen. Hier wurden angebliche (real wohl kaum existierende) Verdachtsmomente angegeben, um eine Grundlage für das Eingreifen und somit für die Feststellung von Personalien zu haben. Dies war eine nachträgliche Machtdemonstration und Schikane, die möglicherweise auf den fehlenden Eingriffsmöglichkeiten in Wurzen beruht - Frustabbau? (siehe auch Presseerklärung der HamburgerInnen) Interessant, daß sich hier die PolizistInnen aus Bayern und Sachsen beim Vorgehen völlig uneinig waren. Weiter negativ war der zugesagte, aber nicht bzw. kaum eingehaltene Parkplatzschutz durch die Polizei. Dieser war definitiv zugesagt worden. In der Realität war aber ein Parkplatzschutz durch die Polizei nicht vorhanden; nur auf Nachfrage wurde gelegentlich kurz vorbeigeschaut. Teilweise waren vier Leute mit dem Parkplatzschutz völlig überfordert und wohl eher selbst gefährdet.
Einleitend könnte der provozierende Satz stehen: Die Demonstration stand in keinem Verhältnis zur vorangegangenen Mobilisierung. Und dennoch ist anzunehmen, daß ohne die geleistete Arbeit, ohne die Infotouren, ohne die Erstellung und Versendung der Broschüre die Demonstration nicht einmal diese Ausmaße gewonnen hätte. Die Demonstration war die größte antifaschistische Demonstration in diesem Jahr, auch auf der Liste "Linksradikal allgemein" rangiert sie auf den vordersten Plätzen.
War das eigentlich beabsichtigt? Unbedingt. Natürlich wollten wir eine eindrucksvolle Demonstration hinlegen, und dazu ist auch die zahlenmäßige Stärke wichtig. Doch war dies nicht der einzige Grund dafür, in diesem Ausmaße zu mobilisieren. Daneben stand noch der pure, quasi wertfreie Informationsgehalt unserer Tourvorträge, Broschüren und Demoaufrufe. Schließlich waren wir davon ausgegangen, daß unsere Analyse ein Bild von den Zuständen im Muldentalkreis zeichnet, das als exemplarisch in seiner Entwicklungsperspektive zum neonazistischen Organisierungsvorbild zu bewerten ist und daher einer Weiterverbreitung bedarf. Diesen Zwecken - nämlich ins öffentlich-antifaschistische Bewußtsein zu hämmern, worum es sich handelt, wenn wir von diesem Landstrich als von einer "braunen Zone" reden, der der Kampf anzusagen ist - sollten alle unsere Mobilisierungsanstrengungen auch dienen.
Der Einschätzung anderer Antifa-Gruppen, die Mobilisierung wäre auf der Grundlage einer bundesweiten antifaschistischen Organisation mit weit geringerem Aufwande bei gleichem Erfolge möglich gewesen, muß man wenigstens zwei Dinge entgegenhalten: Erstens kann die durch längere intensive Beschäftigung mit dem Thema direkt vor Ort erlangte Kenntnis auch von aussagekräftigen Details nicht einfach per Veranstaltungskonzept so weitergegeben werden, ohne empfindlich an Informationswert einzubüßen. Denn unsere Erfahrung auf der Infotour war, daß gerade die kleinen Details mehr als nur durch ihre Witzigkeit oder Unbedeutendheit zur Verdeutlichung der beschriebenen Zustände beitrugen. Und eine 08/15-formatige einheitliche Vortragsreihe hätte unmöglich auf die aktuelle Entwicklung eingehen können, die von Beginn bis Ende der immerhin knapp einmonatigen Veranstaltungsreihe, die erst kurz vor der Demo vorbei war, eingehen können. Und gerade diese Entwicklungen waren ungeheuer bezeichnend für die Situation im Muldentalkreis und für die Einschätzung, wie die Demo wohl werden wird.
Kurz könnten wir als Grundposition, von der aus wir versuchen wollen, antifaschistische Politik zu betreiben, den Satz formulieren: Es kann bundesweit keine antifaschistische Organisierung, sondern nur eine antifaschistische Mobilisierung geben. (Gerade an diesem Punkt vertreten z.B. die Gruppen der AA/BO, die sich bundesweit organisiert haben, eine konträre Position) (...)
Einleitend ist es ganz wichtig zu betonen, welche grundsätzliche Einschätzung wir zur Situation im Muldentalkreis und zu unseren Kräften getroffen haben. Nachdem die kurze antifaschistische Gegenwehr des Frühjahres und Sommers 1995 spätestens mit der Schließung der alternativen "Villa Kunterbunt" abgebrochen war, passierte mehrere Monate lang nichts. Gleichwohl war die weitere Entwicklung beobachtet worden. Die uns schnell bekanntgewordene Tatsache von der rechten Hausbesetzung in Wurzen aber löste zunächst nichts als Resignation aus; erst, als dann unübersehbar geworden war, welche Bedeutung dieses besetzte Haus für die gesamte sächsische Naziszene zu spielen begann, und - von diesem "Zentrum" ausgehend, Muldentaler Nazis auch in Leipzig immer häufiger auftauchten und Anschläge verübten, begann man, eingebettet in eine sich entwickelnde neue antifaschistische Strategie, sich dem Problem wieder konzentriert zuzuwenden.
Ausschlaggebend für diesen Schritt waren zwei Einschätzungen: Erstens, das rechts besetzte Haus besitzt einen hohen organisatorischen und jugendsubkulturellen Stellenwert für die Nazis und muß also weg. Zweitens: Die antifaschistischen Kräfte reichen bei weitem nicht aus, um aus einer direkten Konfrontation mit den Nazis siegreich hervorzugehen und also durch ein militantes Antifa-Konzept wie im Frühjahr/Sommer 1995 die Situation in Wurzen zugunsten der dort lebenden alternativen und antifaschistischen Jugendlichen herumzureißen. (...) Damit in Verbindung stand auch die Einschätzung, wie der Apparat (Polizei, Verwaltung und Stadtregierung) in Wurzen beschaffen ist. (...)
Diese Überlegungen motivierten uns im April 1996, eine Runde zu konstituieren, der von Kirchen bis zur autonomen Antifa alle Gruppierungen und Organisationen angehören sollten, bei denen man wenigstens von einem diffusen antifaschistischem Grundverständnis ausgehen konnte. (...) Eine Gruppe, zumeist aus "gewöhnlichen" Antifas und einzelnen Menschen der PDS bestehend, sollte also klassische Öffentlichkeitsarbeit machen. Ziele dieser Strategie massiver Öffentlichkeitsarbeit waren folgende:1. Staatliche Stellen von der örtlichen Verwaltung bis zum Innenministerium dazu zu zwingen, zu den Problemen im Muldentalkreis Stellung zu beziehen und härter gegen die dortige Naziszene vorzugehen. Hauptangriffspunkt von unserer Seite war hierbei das rechts besetzte Haus in der Käthe-Kollwitz-Straße. 2. Das Schweigen in und um Wurzen generell zu durchbrechen und dann sehen, was passiert. 3. Eigene Recherchen zu betreiben, daß heißt JournalistInnen "für uns arbeiten zu lassen" (...) 4. Gewonnene Informationen zu bündeln (...), um Kleine und Große Anfragen an die politisch Verantwortlichen zu richten (...) 5. Dafür zu sorgen, daß die Öffentlichkeit ein kontinuierliches, von unserer Initiative endlich unabhängiges Interesse an den Vorgängen im Muldentalkreis gewinnt und wir so langsam einen "Selbstläufer" ins Rennen schicken können. 6. Aufgrund unserer so zu gewinnenden Informationen eine treffende Analyse von den Zuständen im Muldentalkreis zu treffen, dazu geeignete Forderungen zu entwickeln und perspektivisch damit "positive" eigene Politik in Wurzen zu betreiben - einer der Schritte sollte, eingebettet in das Konzept der Pressearbeit, eine bundesweite Demonstration sein, die nicht nur in ihrer Überzeugungskraft von den gewonnenen Informationen, sondern auch in ihrer Mobilisierungskraft von der hergestellten Presseöffentlichkeit profitieren sollte. (...) Feste Kontakte zu JournalistInnen der unterschiedlichsten Zeitungen, Fernsehredaktionen und Magazinen konnten aufgebaut und auch für einige unserer Ziele genutzt werden. (...) In den Monaten vom Juni bis November erschienen unzählige kleinere und größere Presseartikel, die nicht nur ein Einzelereignis zu vermelden hatten, sondern - teilweise im Format einer Reportage - auch über die strukturellen Hintergründe und das gesamte Ausmaß der rechten Gewalt und Szene im Muldentalkreis zu berichten wußten. Ein wahres Trommelfeuer der Berichterstattung setzte ein, die politisch Verantwortlichen gerieten ordentlich unter Beschuß und mußten sich so Zusagen, dem "rechten Spuk" ein Ende zu setzen und "ganz stringent da reinzugehen" sowie zu Analysen, nach denen "Wurzen das derzeit wohl bedeutendste Zentrum der Neonazis in ganz Deutschland" sei, hinreißen lassen. Ebenfalls in Licht der Öffentlichkeit kamen da die Machenschaften der Wurzner Polizei, die daraufhin endlich einer behördeninternen Untersuchung unterzogen werden mußten.
(...) Doch haben wir eines verpaßt: Eine qualitative Weiterentwicklung dieser Pressearbeit zu entwerfen und dann auch umzusetzen. So fiel der Erfolg unserer Arbeit als nur kurzfristiger Erfolg wieder weg; die zu Aussagen gezwungenen Verwaltungen und Staatsorgane konnten sich schnell darauf zurückziehen, daß sie das Problem nun ja erkannt hätten - ohnehin schon lange kennen würden - und nun ja handeln.
(...) Dieser "Kurzsichtigkeit" (...) ist es geschuldet, wenn es nun neue Millionen für rechte Jugendclubs und ein weiteres Verharmlosen der rechten Szene, wenngleich auch auf höherem Niveau als vorher gibt (...) Der Bürgermeister von Wurzen kann nun nicht mehr sagen: "Bei uns gibt's keine Rechten", sondern er muß es nun so ausdrücken, daß "ihm kein Jugendlicher bekannt sei, der aufgrund einer rechtsextremen Straftat verurteilt wurde"; das Innenministerium und die SoKo Rex können die Existenz einer rechten Szene nicht mehr deckeln, aber so tun, als sei es, nun, wo sie die Sache unter Kontrolle hätten, nicht mehr so schlimm.
(...) Eine (...) wichtige Konsequenz wäre allemal, die Pressearbeit sorgfältig an die qualitativ neue Situation anzupassen. Das bedeutet den Versuch, die Presse statt auf den Gesamtkomplex "Wurzen, Nazis und andere schlimme Dinge" präziser auf die nun folgenden Entwicklungen anzusetzen, sofern das möglich ist: Die zu erwartende Einrichtung neuer Jugendclubs für Rechte und die Schwierigkeit und mögliche Verhinderung unserer "kulturellen Invasion" bzw. weiterer explizit antifaschistischer Aktivitäten. (...)
Während der Demo lief die Pressearbeit eigentlich am besten; zwar war im unmittelbaren Vorfeld des 16.11. weniger Interesse zu registrieren, als wir erwartet hatten; doch 1 Tag vorher sowie am Tag selbst bewährte sich die ständige Besetzung eines Pressebüros, das die ganze Zeit über den Verlauf der Demo informiert war. Auch auf der Demo selbst waren unter der Prämisse, welche wichtige Bedeutung die Presseberichterstattung für unsere bisherige Arbeit und für den Tag selbst spielt, verschiedene Vorkehrungen getroffen worden, die sich allesamt bewährten: Ein Pressetisch mit Materialien zur Situation in Wurzen, Akkreditierung der ReporterInnen und ihre Kennzeichnung durch Armbinden und die vor Ort nach Abschluß der Demo stattfindende Pressekonferenz.
(...) Ein Bündnis antifaschistischer Kräfte sollte geschaffen werden, welches verschiedene außerparlamentarische und parlamentarische Politikformen einschließt. Praktisch bedeutete dies, daß lokale (Leipzig) und regionale (Sachsen) VertreterInnen von Parteien (SPD, B90/Grüne, PDS), Organisationen (besonders Gewerkschaften), Gruppen (Flüchtlingshilfen) und Kirchen angesprochen wurden, um sich am Bündnis gegen Rechts (BgR) zu beteiligen. Die Reaktionen waren mehr als verhalten und schließlich konnten nur Mitglieder der PDS zu einer Mitarbeit gewonnen werden. Zeigten doch einmal Einzelpersonen anderer Parteien Anzeichen von Sympathie (...) erfolgten dann keine praktischen Schritte, wahrscheinlich weil es nicht gelang, über den Schatten der Parteidoktrin zu springen. Auch auf Bürgerinitiativen oder ähnliches, ließ sich nicht für ein antifaschistisches Bündnis zurückgreifen. Gerade als es um die bekennende Unterstützung der Demonstration ging, wurde das Manko fehlender potentieller und realer BündnispartnerInnen deutlich. (...)
Die Zusammenarbeit mit der PDS in allen Einzelheiten zu analysieren, wäre mühselig und ist vom jetzigen Standpunkt aus auch nicht notwendig. Einzelpersonen mit Mitgliedsausweis engagierten sich seit Bildung des BgR in diesem Zusammenhang. Doch erst relativ kurz vor der Demonstration wurde eine öffentliche und praktische Unterstützung in den verschiedenen sächsischen Parteigremien diskutiert. Jetzt prallten die immer latent vorhandenen Unterschiede in den Ansichten über Antifa-Arbeit aufeinander - sowohl innerhalb der PDS als auch im BgR - und sorgten für Verstimmungen auf "beiden Seiten". Letztendlich hielt das Bündnis, begleitet von beiderseitigen Zugeständnissen. VertreterInnen der Partei, die mit dem Medienbild des "Chaoten" im Hinterkopf autonome Selbstverständnisse nicht verstehen und/oder akzeptieren wollten, konnten gerade durch den Verlauf der Demo in Wurzen einige Ängste und Mißverständnisse abbauen. Ihr Bewußtsein gegenüber diskreditierenden Polizeipraktiken und daraus folgenden Reaktionen, scheint ebenfalls geschärft worden zu sein. (...)
Bei den bundesweiten Vorbereitungstreffen zur Demo in Wurzen offenbarten sich auch zwischen den autonomen Gruppen in Ansätzen die unterschiedlichen Standpunkte in Bezug auf antifaschistische Theorie und Praxis. Die differenten Meinungen über Organisierungsmodelle, antikapitalistische Positionen und besonders das Verhältnis zur Bevölkerungsmehrheit fanden in einem "Bündnis" autonomer Gruppen zusammen und repräsentieren nicht mehr und nicht weniger als einen Querschnitt durch die linksradikale Antifa-Szene in der BRD. Das BgR wertet dies als einen Erfolg, da nur durch die Akzeptanz der verschiedenen Positionen in der gegenwärtigen Situation die autonome Antifa noch eine größere Interventionsfähigkeit für das Zurückdrängen von Nazi-Strukturen beanspruchen kann.
Im Aufruf des BgR zur Demonstration wurde klar, daß eine Entlastung der Muldentaler Bevölkerung nicht in Frage kommt. Die Nazis konnten in der Vergangenheit und können auch heute immer noch auf den Rückhalt der meisten EinwohnerInnen in der Region bauen. Aus dieser Erkenntnis (...), einen verallgemeinerten symbolischen Angriff mit der Wurzen-Demo zum Ausdruck zu bringen, wurde aber abgelehnt. Die an diesem Punkt offensichtlich gewordene Gratwanderung, wurde davon beeinflußt, die ohnehin geschmälerte Bündnisfähigkeit nicht noch mehr einzuschränken sowie mit dem Blick auf weitere antifaschistische Arbeit im Muldentalkreis, auf eine vermittelbare Aktion z setzen. (...) Da aber klar ist, daß die Hegemonie der Nazis im Muldentalkreis nur dann zu brechen ist, wenn antifaschistische Politik dort eine gewisse Lobby hat, ja sogar vor Ort praktische Unterstützung findet, kann auch in Zukunft nicht auf aufklärerische Aspekte und agitatorische Initiativen verzichtet werden. Wie diese aussehen und mit welcher Konsequenz auf die Thematisierung eines rassistischen und nationalistischen Konsens verzichtet wird, die immer auf einen symbolischen Angriff hinausläuft und somit eine Solidarisierung der WurznerInnen untereinander und eine Abwehrhaltung gegenüber den Antifa-Aktivitäten hervorrufen wird, ist am Einzelfall, entsprechend den auch kurz- und mittelfristig gesetzten Zielen zu entscheiden.
Perspektiven der antifaschistischen Arbeit in Wurzen - Perspektiven des BgR
Dieser Abschnitt soll Grundlage für all jene Gruppen bilden, die sich eine weiterführende Arbeit mit dem BgR vorstellen können. In diesem Sinne ist er nicht als "Direktivensammlung", sondern als Darstellung unserer Vorstellungen zu verstehen, ohne jeden, andersgelagerten Aktivitäten von Euch verbietenden Alleinvertretungsanspruch.
(...) Die aktuelle Situation ist gekennzeichnet einerseits durch die sture Unbelehrbarkeit der politisch Machthabenden (CDU, FDP, auch Teile der SPD) sowie Sprachlosigkeit bei den Bündnisgrünen, andererseits durch Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung in der Stadt selbst. Der weitgehend friedliche Verlauf der Demo ist hierfür ebenso Grund wie ihre beeindruckende Größe. Jetzt stattfindende Verschiebungen in der Trägerschaft der Wurzner Jugendeinrichtungen bedürfen unsere Einmischung ebenso wie das Entstehen neuer (...) Zielvorstellungen:- (...) die "kulturelle Invasion", um über das Dominieren bestehender / entstehender Treffs den Nazis die kulturelle Hegemonie streitig machen zu können und Erfahrungswerte zur Situation der "normalen" Jugendlichen zu sammeln. Dies geschähe stufenweise, von "außen" her und könnte im günstigsten Falle zur Forderung und Etablierung eines alternativen Jugendzentrums führen, das bereits mittelfristig ohne unsere Hilfe bestehen soll - Erstellung eines Heftes für Jugendliche mit sensibiliserendem, aufklärendem, ermutigendem Inhalt, um ein politisches und kulturelles Fußfassen unsererseits in der Stadt zu stützen und begleiten zu können - Schaffung eines alternativen Zentrums bleibt Oberziel der bisher beschriebenen geplanten Aktivitäten, nur um das nochmals zu betonen. Ein solcher Treff wäre nicht nur Ort einer kontinuierlichen Abwerbepraxis gegen die Rechten - und nur ein solcher Ort kann das gewährleisten, sondern auch möglicher Ausgangs- und Kristallationspunkt explizit antifaschistischer Aktivitäten (...) - Pressearbeit, die in abgewandelter Form (...) unsere weitere, vor allem "institutionelle" Arbeit begleitet und unterstützt, und direkt auf das weitere Verhalten der Stadtregierung gerichtet werden muß (...) - Autonome Antifa-Arbeit soll in geeigneten Situationen unsere Arbeit flankieren und absichern; dies betrifft insbesondere (...) das Fortbestehen einer Option zu militanter antifaschistischer Gegenwehr, um Leute vor Ort zu schützen bzw. ein weiteres Ausufern der Muldentaler Faschoszene auf das Umland zurückzuschlagen, aber natürlich auch als Reaktion unsererseits auf eventuelle Übergriffe der Faschos in der Zukunft. Ein weiterer wichtiger Punkt fortgesetzter autonomer antifaschistischer Arbeit ist die Recherche zur inneren Struktur und Entwicklung der Muldentaler Naziszene (...)
Bündnis gegen Rechts Leipzig Dezember 1996
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